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Der Weitermacher
Emil versuchte einen Gedanken zu fassen, doch er entglitt ihm wieder und wieder. Er seufzte, starrte noch ein wenig ins Leere, während seine Hände bereits nach der Schachtel und den Streichhölzern tasteten. Das Zischen breitete sich in der Wohnküche aus, Emil steckte sich die De Olifant zwischen die Lippen und paffte. Kurz dachte er an den anstehenden Besuch bei Wigands Bekanntem. Ein beklemmendes Gefühl legte sich auf die Brust oder war es der Rauch? Er atmete aus. Dass er nicht gesund lebte, wusste er, doch was Ärzte bisweilen rieten und forderten, das wollte er gar nicht so genau wissen.
Es war noch nicht ganz elf, eine gute Zeit, um sich ins Café Carver aufzumachen, in dem sich jetzt noch ein guter Platz finden ließe. Emil packte ein Essay-Bändchen von Remo Bodei ein und durchsuchte ein paar Schubladen, bis er sich für eine Packung Perdomo entschied, die rauchte er nicht, die hatte Peter mal gekauft, aber weg mussten sie. Seit dem Krampf vor zwei Wochen – von dem er Astrid natürlich nichts erzählt hatte – kribbelte das rechte Bein und da kostete es einige Mühe, nicht zu humpeln, wenn andere es sehen konnten. Nicht, dass es ihm schlecht zu Gesicht gestanden hätte, im Gegenteil, Versehrtheiten waren allgemein ein Zeichen von Charakter und gelebtem Leben. Emil konnte selbst nicht sagen, weshalb er hier einen Unterschied machte. Vielleicht weil er den Arzt nicht sehen wollte, nicht wollte, dass sich Astrid oder die Söhne sorgten oder irgendwer, und wenn er es selbst wäre, auf die Idee kam, ihm schonend beibringen zu müssen, dass er gerade schlappmachte.
In der Straße sah man um diese Zeit alte Frauen mit kleinen Hunden. Emil hüstelte, röchelte, spuckte einen grauen Klumpen aus und sah nicht genauer hin. Er roch sich selbst nicht mehr, und da er das Old Spice nicht roch, schloss er daraus, dass er es vergessen haben musste. Das war an sich kein Problem – zumindest für ihn nicht – doch in letzter Zeit hatten einige Gäste sich über seinen Geruch beschwert. Zwar wusste Emil, dass er in Sachen Loyalität beim Carver ein dickes Konto hatte, das sich an seiner Stammkundenschaft, vor allem aber an der Gesellschaft Wigands, des Inhabers, bemaß, doch wollte er nicht, dass man ihn dort irgendwann anders ansah. Jemand wie Peter mochte gerne als Hobo durchgehen, der dann im Gesprächsverlauf damit überraschte, dass er nicht nur stank, sondern auch Literaturprofessor war. Das verlieh ihm sogar Tiefe in den Augen mancher. Emil aber konnte schon lange nicht mehr mit solchen Trümpfen aufwarten. Sein letzter Erfolg lag um Jahre zurück und niemand, wirklich niemand suchte aktuell nach einem Agenten für die Literatur alter, weißer Männer. Emil fasste sich in die Hose, um ein klebriges Gefühl loszuwerden. Er furzte und räusperte sich. Das Bein kribbelte wieder und die Finger in den Manteltaschen tasteten nach den Perdomo.
Als er es schließlich zum Carver geschafft hatte, war es halb zwölf. Er übertrat die Schwelle, drückte sich durch den Ledervorhang und atmete Kaffee- und Honignoten, Gebäck und Frühstückseier, Zeitungspapier und Pfeifentabak. Die Neue, die sicherlich bereits wusste, wer er war, nahm ihm Mantel und Hut ab. Emil presste die Ellbogen an den Leib, um die Achselhöhlen zu verschließen, als würde das etwas nützen. Er versuchte die Lippen hochzuziehen, aus treuen Augen zu schauen und etwas Geistreiches zu sagen, doch alles was herauskam, war: „Jap.“ Zumindest das Lächeln bekam er hin und ein dreifaches zurück aus ihrem Gesicht. Zum Glück würde er nicht bestellen müssen. Es war schwer genug, sich eine Zeitung aus dem Ständer zu greifen und sich auf einen der freien Plätze am Fenster komplimentieren zu lassen. Erst als man ihm Kaffee und Rührei brachte und sich das Streichholz unter der Perdomo entzündete, konnte er durchatmen.
Es war gegen eins, als er fertig gefrühstückt und etwa drei Seiten eines Essays mit dem Titel ‚Holz und Stein‘ gelesen hatte. Da fiel es ihm ein. Dass Donnerstag war und Wigand ihn wegen Jagdangelegenheiten heute nur bis halb drei empfangen würde. Hastig ließ er sich Rechnung und Amarettini kommen, bis er es aus dem Carver geschafft hatte, verging eine weitere halbe Stunde.
Die Gegend, in der Wigand sein Lager hatte, war eine mit schmutzigem Pflaster, einigen Dönern und deutschen Kneipen sowie einer erstaunlichen Dichte an Spielotheken und Textilpflegegeschäften. An der Einfahrt gab es kein Klingelschild, nur einen roten Knopf. Emil rauchte. Er verspürte den Drang zu kacken, wusste aber, dass es bei Wigand kein Klo gab. Notfalls würde er es kaschieren können, so lange man es nicht durch die Hose roch. Er drückte den Knopf und wartete.
Nach einer Weile öffnete sich das Einfahrtstor. Wigand kam vergnügt auf ihn zuspaziert. Er hatte die Ärmel hochgekrempelt, das dunkelgraue Haar nach hinten gekämmt und sah mit der schwarzen Hornbrille bald wirklich wie ein zweiter Scorcese aus. Emil nahm den Duft von Quitten wahr.
„Na, mein Junge“, sagte Wigand.
„Na, du Jagdhund“, erwiderte Emil.
„Was ist das?“ Wigand deutete auf den Zigarillostummel in Emils Hand.
„Perdomo.“
„Ich dachte, du bist De Olifant.“
„Dachte ich auch“, sagte Emil.
Wigand lächelte freundlich. „Was brauchst du?“
Das Lager befand sich im Souterrain eines kleinen Innenhofes. Als sie die Treppenstufen hinabstiegen, konnte Emil nicht mehr an sich halten. Mit jeder Stufe breitete sich ein warmes, weiches Gefühl in seiner Hose aus. Zwei Mal war das schon passiert und beide Male hatte Emil sich geschämt, es aber auch auf den allgemeinen Zustand seines Körpers schieben, sich verzeihen und es ignorieren können.
Sie betraten einen Raum, dessen Gerüche ohnehin alles andere überdeckten. Holzfässer lagerten hier, neben Pata-Negra-Schinken, Körben randvoll mit Quitten gefüllt und Regalen voll verkorkter Flaschen goldbraunen Inhaltes. Zwei Kühltruhen surrten.
„Die gehen alle Sonntag raus“, sagte Wigand und zeigte auf eine Reihe von vielleicht zehn Schinken.
„Ich brauch was für meinen Sohn“, sagte Emil. „Hat Geburtstag.“
„Wieviel?“
Emil war auf diesen Moment vorbereitet. Um vor Wigand nicht wie ein armer Schlucker dazustehen, hatte er sich alles in Hunderteuroscheinen ausgeben lassen und es in die Manteltasche gesteckt, als wäre es Taschengeld. Er zog das kleine Bündel heraus und zählte drei Scheine ab.
„Dreihundert?“, fragte Wigand.
„Muss nichts Großes sein“, sagte Emil.
„Eine oder zwei?“
„Was hast du denn?“
„Einen Iren oder …“, Wigand legte die Hand auf ein kleineres Fass mit roter Aufschrift. „Island. Kostet dich fünf. Sagen wir vier und du gibst mir später einen aus. Oder zwei.“ Er lachte schallend.
„Machen wir“, sagte Emil leiser als gewollt und räusperte sich. Er überlegte, was es brachte, Wigand im eigenen Geschäft einen auszugeben.
„Sag mal, was riecht hier eigentlich so übel?“, fragte Wigand.
„Bin vorhin in was reingetreten.“
„Emil, mein Emil. Du lässt dich ganz schön geh’n in letzter Zeit.“ Wigand lächelte. „Macht aber nichts. Geht jedem mal so.“
Emil nickte verständig.
„Warst du jetzt mal beim Doc?“
„Morgen“, sagte Emil.
„Mach das. Der Fritz ist anders. Da brauchst du nichts befürchten.“
„Ich dank’ dir, mein Freund.“
„Ja, ja.“ Wigand trat einen Schritt zurück. „Ich muss los. Soll ich dir ein Taxi rufen?“
„Wo fährst du denn lang?“, fragte Emil.
„Nicht in deine Richtung.“
Als er es roch, beschwerte der Taxifahrer sich und wollte ihn rauswerfen.
„Gibt ein Trinkgeld“, sagte Emil, und das wirkte wie so oft Wunder.
Der Mann fuhr ihn noch bis zum Gibberish. Emil hatte nicht vor zu trödeln. Außerdem war Frank von seinen Kunden Schlimmeres gewohnt als den Geruch von Scheiße.
An einen Poller gelehnt steckte Emil sich eine weitere Perdomo an. Er musste nach Hause, sich waschen, zwei Takte mit Astrid reden, vor allem ein Nickerchen machen, bevor Peter ihn um halb acht abholte.
Die Türglocke schellte und Frank, die Lolo-Pipe im Maul, breitete die Arme aus.
„Emil!“
„Frankchen.“
„Du willst was abholen.“
„Richtig geraten.“
Frank schüttelte den Kopf. „Die Hurensöhne.“
„Wer?“
„Vorhin. So ein paar junge. Fragen nach meinen Preisen, tippen alles in ihre Handys und dann sayonara.“
„Die Hurensöhne. Aber Frankchen. Du weißt ja, ich mach’ so was nich’ …“
„Deswegen mag ich dich auch. Und jetzt such’ ich dein Buch.“
Emil spürte wie es seine Innenschenkel warm hinabsickerte, wieder begann das rechte Bein zu kribbeln. Frank verschwand im Zimmer hinterm blauen Vorhang. Nur noch ein paar Minuten musste er sich zusammenreißen. Als Frank endlich auftauchte, entschuldigte Emil sich, bezahlte kurz angebunden und verließ das Gibberish mit einer makelosen Erstausgabe von Faulkners As I Lay Dying.
Für Astrid konnte das kein Problem sein. Sie hatte lange Zeit ihren dementen Vater gepflegt. Außerdem fielen ihr Dinge leichter als ihm. Emil ging sich duschen, bekam eine frische Unterhose, ein frisches Unterhemd. Jetzt saß er da, rauchend. Eine Guantanamera. Nie wieder würde er eine Perdomo in den Mund nehmen. Er stützte sich aufs rechte Bein, spürte nichts. Vielleicht bildete er es sich nur ein, doch das Bein kam ihm dunkler vor als sonst. Wie eine zuckerschwere Frucht. Kurz davor vom Ast zu blättern.
„Deine Hose“, sagte Astrid und legte sie ihm auf den Tisch.
Emil paffte in ihre Richtung.
„Ich leg’ mich hin.“
„Gut, ich fahr’ auf den Friedhof.“
„Kochst du?“, fragte er.
„Ich hab was im Topf. Kannst dir was nehmen. Aber Peter kriegt nix.“
„Wieso?“, fragte Emil und drückte die Zigarillo in den Aschenbecher.
„Ich bin nicht seine Mutter.“
„Gut“, sagte Emil. „Gut.“ Vielleicht sagte er es noch ein drittes Mal.
Als es an der Tür klingelte, war es dunkel. Emil saß noch immer in Unterwäsche auf seinem Stuhl. Schnell erhob er sich, um Peter zu öffnen.
„Peterchen!“
„Ich dachte du machst nie auf.“
Sie umarmten sich.
„Alles gut?“, fragte Peter und trat einen Schritt zurück, um ihn zu begutachten.
„Bin eingeschlafen.“
„So so“, sagte Peter. „Zieh dich an, wir geh’n los.“
Eine halbe Stunde später hatte Emil Hose, Socken und Hemd angezogen und zwei Gläser auf den Tisch gestellt.
„Was Neues von Wigand“, sagte er. „Island. Eigentlich für den Kleinen gedacht.“
„Für Robert?“, fragte Peter
„Nee, der kriegt doch von mir nichts in den Arsch geblasen, weißt du doch.“
„Macht ja auch sein Freund schon.“ Peter lachte heiser.
„Halt ’s Maul.“
„Is’ doch nur Späßchen. Für Sebastian also“, sagte Peter.
Emil goss ihnen je einen großzügigen Schluck ins Glas. Peter ein bisschen mehr.
„Salute!“
„Cheers.“
Im blauen Kormoran erwartete man sie bereits. Wigand und Jagdkollege Biller saßen am Tresen. Man gesellte sich dazu, bestellte Lagavulin, Gewürzgurken und Belle-Iloise-Sardinen mit Brot. Emil mochte die neue Barfrau nicht, ihre direkte, zugewandte Art schüchterte ihn ein. Die Jäger erzählten vom Abschussbock und Wigand klopfte Biller in regelmäßigen Abständen auf die Schulter. Kurz fragte Emil sich, ob er nicht Chancen hätte, noch mit dem Jagen anzufangen. Auch Peter spendete Anerkennung, versuchte schließlich ein Gespräch über die Jagdkultur im Mittelalter zu etablieren, scheiterte aber an den diversen Ausführungen Wigands über das Abschwarten und Zerlegen. Wenn es um das Jagdthema ging, waren sie alle dankbare Zuhörer. Da machte es nichts aus, dass Wigand sie belehrte und aufklärte wie ein älterer Bruder, der wusste, wie man mit Feuer spielt. Alles drehte sich um die Jagd. Die Barfrau hielt ihnen ungefragt und ohne das Gespräch zu stören einen geöffneten Humidor hin. Wigand bediente sich, ohne seine Zuhörer aus den Augen zu verlieren, Peter und Biller lehnten ab. Da die Barfrau den Humidor vor allem Wigand und Biller präsentierte, musste Emil sich vorbeugen, um danach greifen zu können. Wigand besaß eine Zigarrenschere und weil Emil nicht wusste, wie man damit umging, reichte er Wigand die Zigarre, um es sich zeigen zu lassen. Sie entzündeten lange Streichhölzer und Emil überlegte, ob das eine gute Gelegenheit wäre, den Kauf der Erstausgabe von As I Lay Dying anzubringen. Doch Wigand kam ihm zuvor.
„Was sagt Blondie, als er mit Tuco in der Kutsche sitzt? Well, after a meal, there's nothing like a good cigar.“
Emil hob die Zigarre, obwohl er das Zitat nicht kannte.
„Auf Deutsch“, sagte Wigand. „Mach ein paar kräftige Züge, dann kannst du gut kacken.“
Wigand und Biller brachen in schallendes Gelächter aus. Noch während sie lachten und die Barfrau sich vergnügt und unwissend nach ihnen umdrehte, knallte Emil einen Fünfzigeuroschein auf den Tresen und bemühte sich vom Hocker zu kommen. Peter wollte ihn aufhalten, doch Emil schüttelte ihn ab und humpelte zum Ausgang.
Als er im Bett lag und Astrids ruhige Atmung neben sich vernahm, wollte er sich bei ihr für was auch immer entschuldigen, ihr aussprechen, wie dankbar er ihr war und wie sehr er sich selbst hasste – er wollte, dass sie ihm all seine Unzulänglichkeiten nachsah, ihn in den Arm nahm und streichelte. Kurz überlegte er, sie aufzuwecken. Stattdessen drehte er sich zur Seite. Es graute ihm davor, Wigands Arzt zu besuchen, seine Söhne zu treffen oder sich Peters und Wigands Beschwichtigungen anzuhören, während er gleichsam weiter in ihrem Ansehen sank. Etwas roch nach Urin und Emil versicherte sich, dass er es nicht selbst war. Die Jalousin warfen Sprenkel weißen Laternenlichts ins Zimmer. Ein Stapel Bücher auf der Fensterbank erinnerte ihn an Kubricks schwarzen Monolithen. Emil merkte, wie alle Kraft mit einem Mal aus seinem Körper wich und jeder Schmerz verblasste. Er tat einen langen Atemzug.
Astrid war bereits aus dem Haus, als er erwachte. Sie verbrachte neuerdings viel Zeit auf dem Friedhof, bei ihrem Muttchen oder ihrer alten Schulfreundin Grete. Außerdem besorgte sie die Einkäufe, traf die Söhne oder eine Freundin auf Kaffee und Kuchen. Emil erschrak, als er merkte, dass sein Bein wie eingeschlafen war. Wie ein Fremdkörper hing es an seinem Rumpf. Mit einiger Anstrengung hievte er sich und das Bein aus dem Bett, versuchte aufzutreten, stolperte und schlug sich den Kopf am Nachttisch auf. Es war ein feiner Riss. Das Blut lief ihm ins Auge und tropfte auf den Teppichboden, dessen Fasern es augenblicklich aufsaugten. Eine Weile verharrte er im Knien, den Oberkörper auf die Arme gestützt und keuchte. Schließlich wuchtete er sich auf den Rücken. Mit beiden Händen massierte er das taube, dunkle Bein. Als das nichts half, kroch er aus dem Zimmer und zur Diele, wo er eine Krücke vermutete. Anderthalb Stunden verbrachte er damit, sich auf die Beine zu helfen, die Wunde zu waschen, mit einem Pflaster zuzukleben und sich auf einem der Stühle in der Wohnküche niederzulassen. Er sehnte sich nach Astrids Beistand. Das Telefon klingelte mit Mozarts Zauberflöte. Sicherlich Peter oder Wigand. Emil ließ es klingeln. Mittlerweile fühlte er sich in der Lage, die Schubladen nach etwas Rauchbarem zu durchsuchen, scheinbar hatte Astrid vergessen, die De Olifant nachzukaufen. So musste er sich schließlich mit der angebrochenen Schachtel Guantanamera begnügen. Endlich war die La Marzocco heiß. Emil zog sich einen Espresso, goss heißes Wasser dazu. Sähe Wigand ihn jetzt, er hielte ihn für einsichtig, für willens, der Härte des Lebens und der Ungerechtigkeit des Sterbens zu trotzen. Emil versenkte einen Zuckerwürfel in seinem Americano und nahm einen Schluck.
Die angebrochene Flasche des Vierhundert-Euro-Isländers in einem Stoffbeutel verließ Emil das Haus. Er hatte nicht auf die Uhr gesehen, doch auf der gegenüberliegenden Straßenseite ließen sich in diesem Augenblick zwei kleine, nicht minder an den Leinen ihrer Besitzerinnen zerrenden Hunde gegenseitig an ihrem Hinterteil schnüffeln. Das einfahrende Taxi versperrte die Sicht auf die Szene. Emil beschnupperte die Luft, um etwaige Unannehmlichkeiten mit dem Taxifahrer von vornherein zu vermeiden. Der Mann stieg aus und half ihm in den Wagen, legte ihm die Krücke auf den Schoß. Emil bedankte sich.
„Rosenstraße 15.“
Sie fuhren los.
Emil drückte das Klingelschild ein drittes Mal durch. Endlich knackte es in der Gegensprechanlage.
„Papa hier“, sagte Emil.
Es surrte und die Tür entriegelte sich.
Emil drückte ein viertes Mal.
„Ja?“
„Kannst du bitte runterkommen?“
„Wieso?“
„Kannst du bitte runterkommen?“, sagte Emil etwas lauter.
Kurz darauf kam Sebastian das Treppenhaus heruntergepoltert. Als er die Krücke und das Pflaster auf Emils Stirn sah, erschrak er, was Emil gefiel. Emil erklärte beiläufig, dass das nichts sei, dass er sich den Fuß verrenkt und den Kopf an einem zu niedrig angebrachten Regal gestoßen habe. Sofort bot Sebastian seine Hilfe beim Anpassen des Regals an, aber Emil winkte ab.
„Hier. Alles Gute, mein Großer.“ Er reichte ihm den Stoffbeutel.
Sebastian nahm die Flasche heraus und schaute ihn fragend an.
„Isländer“, sagte Emil feierlich.
„Du weißt, das ich nichts trinke.“
„Mann, das ist ein Vierhundert-Euro-Whisky. Da kannst du doch mal einen trinken mit deinen Freunden.“
„Mann, Papa“, sagte Sebastian.
Emil versuchte die Situation, den Gesichtsausdruck Sebastians und seine eigenen Gefühle zu deuten.
„Ist der schon offen?“, fragte Sebastian endlich.
„Sei mal nich’ wie dein Bruder. Wir trinken jetzt einen.“
„Vergiss es“, sagte Sebastian.
„Du willst also mit deinem Vater keinen Vierhundert-Euro-Whisky trinken?“
„Weißt du, Emil. Verpiss dich einfach.“
Der selbstschließende Automatismus der Tür erlaubte es Emil für die nächsten zwanzig Sekunden seine Hand danach auszustrecken, sie aufzuhalten. Wie gebannt starrte er Sebastian nach, die Flasche in der linken Hand, die Krücke in der rechten, und da war die Tür auch schon zugefallen.
Er drehte sich um, der Taxifahrer wartete. Als Emil ihm winkte, kam er an und half ihm beim Einsteigen. Sebastian würde sich wieder beruhigen. Das tat er immer. Warum nur waren die jungen Leute heutzutage so furchtbar steif?
„Hohenstaufen 35.“
„Sie können aber zahlen, oder?“, fragte der Taxifahrer.
Emil wedelte mit einem Fünfzigeuroschein.
Sie fuhren.
Nach einem kurzen Abstecher bei einem Discounter erreichten sie einen luxuriösen Neubau, der Emil in seiner ganzen Erscheinung an ein iPhone denken ließ. Astrid hatte ihn hierum gebeten. Die Whiskyflasche ließ er im Auto und packte stattdessen Salz und Quinoa-Brot in den Beutel. Der Taxifahrer erkundigte sich, ob er noch mehr als die fünzig Euro dabeihabe, falls er wieder warten und es danach weitergehen solle.
„Guter Mann“, sagte Emil. „Sie bekommen ein Trinkgeld.“
Der Taxifahrer half ihm aus dem Wagen und geleitete ihn sogar zur Tür.
Emil sah sich selbst in der Spiegelung einer runden Kamera über dem Klingelschild. Die Klingel selbst ließ sich nicht durchdrücken, eine Berührung genügte scheinbar.
„Papa?“, fragte Robert.
„Wahrscheinlich“, antwortete Emil.
„Im vierten Stock.“
„Warte. Warte. Ist der Lukas da?“
„Nee, der ist gerade laufen.“
„Gut, dann komm ich hoch. Gibt ’s einen Fahrstuhl?“
„Klar. Schick’ ich runter.“
„Gut.“
Robert reagierte, wie Sebastian bereits vor ihm reagiert hatte: erschrocken. Emil erklärte, er sei eben nicht aus Zucker. Als Robert ihm dann ernsthaft empfahl mit dem Rauchen und Trinken aufzuhören, konnte er nur den Kopf schütteln.
„Du hast keine Ahnung, Junge“, sagte er. „Aber macht nichts.“
Er reichte ihm den Beutel hin.
Behutsam entnahm Robert Salz und Brot.
„Danke, Papa.“ Seine Augen wurden glasig.
Er wollte Emil umarmen, doch der wehrte ab.
„Siehst doch, dass ich mit Krücke gehe.“
„Natürlich“, sagte Robert.
„So, jetzt muss ich wieder. Taxi wartet.“
„Willst du dir die Wohnung nicht anschauen? Du kannst auch was mit uns essen. Der Lukas …“
„Nee, nee, lass mal. Nimms mir nicht übel, aber nee.“
„Ja“, erwiderte Robert nur.
„Also, mein Junge. Wir sehen uns dann mal wieder.“
„Ja“, sagte Robert. „Soll ich dich nach unten bringen.“
„Fahrstuhl krieg’ ich noch selbst hin“, sagte Emil. „Also. Glückwunsch zur Wohnung.“
„Danke, Papa.“
„Alles okay?“, fragte der Taxifahrer.
„Wieso?“, antwortete Emil.
„Ihr Gesicht. Sie sehen nicht gut aus, um ehrlich zu sein.“ Er drehte den Rückspiegel so, dass Emil sich darin sehen konnte. „Soll ich Sie zu einem Arzt fahren?“
Emils Augenlid und Mundwinkel hingen, als hätte man ein Lot daran befestigt.
„Scheiße“, sagte Emil.
„Also ein Arzt?“
„Da geht ’s jetzt sowieso hin. Manteuffelstraße 7.“
„Soll ich noch mal warten?“
„Sie können mir aussteigen helfen“, sagte Emil.
Der Mann half ihm hinaus. „Sieht nicht nach einem Arzt aus.“
„Das ist meine Sache“, sagte Emil. Er zog zwei Fünfziger aus der Manteltasche und hielt sie ihm hin.
„Und das Trinkgeld?“
„Ist mit drin.“
Der Mann grapschte nach den Fünfzigern. Er nannte Emil einen Geizhals, stieg in seinen Wagen und schlug die Tür zu. Emil steckte sich eine Guantanamera zwischen die Lippen. Paffend besah er sich das Wohnhaus. So hatte Wigand es beschrieben.
„Der Fritz ist anders“, wiederholte er Wigands Worte leise. Und dann: „Ach, scheiß drauf.“
Das erste Mal in seinem Leben bestellte Emil sich eine Milch mit Honig.
„Mit Zimt?“, fragte die Junge.
„Nein, mit Honig“, sagte Emil.
„Und das Ei und der Kaffee?“
„Das auch“, sagte Emil.
Es war gegen halb drei, als Wigand das Café betrat. Als er Emil sah, runzelte er die Stirn, schüttelte den Kopf und setzte sich vorne an den Tresen.
„Komm rüber, du Penner!“, rief Emil.
Einige Gäste schauten sich um.
Wigand kam an seinen Tisch, baute sich vor ihm auf.
„Was is’ eigentlich los mit dir?“, fragte er.
„Ihr habt mich ausgelacht.“
„Ich hab’ keine Ahnung, wovon du sprichst. Aber dein Gesicht hängt runter, Mann. Du brauchst einen Arzt.“
„Scheiß auf dich und deinen Arzt. Du willst eh nur mein Geld. Bist doch gar nicht interessiert an Freundschaft.“
„Emil. Erzähl mir nichts über Freundschaft.“
„Ach, scheiß auf dich und Biller und scheiß auf diesen Fritz.“
„Wie du willst.“ Wigand trat vor ihn, packte ihn am Mantel und zog ihn hoch. Er sah die Krücke, drückte sie Emil in die Hand und schob ihn, wobei er ihm den Daumen in eine schmerzhafte Stelle am Rücken bohrte, aus dem Laden.
„So, Freundchen. Das Carver ist für dich geschlossen. Und im Kormoran brauchst du dich auch nicht mehr blicken lassen.“
„Mir egal“, zischte Emil. „Ich brauch’ dich nicht.“
„Gut. Dann sind wir ja fertig. Und jetzt geh’ sterben.“ Wigand wischte sich einige Schweißperlen von der Stirn, drehte sich um und verschwand hinterm Vorhang.
Emil rieb sich die schmerzende Rückenpartie und machte sich auf den Weg. Es hatte etwas Gutes, mit Wigand gebrochen zu haben. Er würde ein besseres Café finden, eine bessere Kneipe und bessere Freunde. Als erstes würde er sich am Zigarrreneck eine Schachtel De Olifant kaufen. Die helle Nachmittagssonne blendete ihn. So lange er atmen und mit einer Krücke gehen konnte, würde er seine Angelegenheiten auf seine Weise erledigen. Niemand würde ihm vorschreiben, welche Marke er zu rauchen, welchen Sohn er zu lieben und welche Freunde er zu achten hatte. Noch häufiger sah man Emil hier und dort. Mit einer Krücke oder zwei. Rauchend oder trinkend. Stinkend. Im Café Z saß er zuletzt meist zur Mittagszeit und las in einem Buch, das aussah wie aus einem Museum entwendet. Eine Erstausgabe, erzählte ein Kellner irgendjemandem, den es eigentlich gar nicht interessierte. Manchmal sah es aus, als studierte Emil eine Anleitung. Als belese er sich in Vorbereitung auf etwas sehr Wichtiges. Das aber schien, weshalb auch immer, noch in weiter Ferne zu liegen.