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Der Wendepunkt
Jener Donnerstagabend ist in meinem Gedächtnis auf ewig verankert. Er veränderte mein Leben.
Wie jedes Jahr feierte sich die kleine Welt des Films wieder selbst.
Das stilvolle Rokoko-Theater hätte einen mehr als würdigen Rahmen für diese Veranstaltung abgegeben. Aber nein: Bühne, Zuschauerraum und die Wandelgänge mussten noch zusätzlich mit Kulissen und Staffagen aus verschiedenen Filmproduktionen aufgepeppt werden, um dem Geschmack der Filmschaffenden zu ensprechen. Ohne dass sie der Welt ihren eigenen Stempel aufdrücken können, ist dieses Volk scheinbar nicht glücklich.
Obwohl, ich gehörte damals auch dazu. Meine Position im sich schnell drehenden Räderwerk der Branche war sogar nicht ganz unbedeutend. Als Produzent einiger Kinohits trug ich dazu bei, die Umsatzerwartungen meiner Firma zu erfüllen. In meiner Funktion musste ich die richtigen Schauspieler für die richtigen Rollen engagieren, unfähige Mitarbeiter rechtzeitig entlassen, Flüge zu den fernsten Drehorten organisieren und ganze Hotels für unsere Zwecke anmieten. Oft war es auch wichtig, für die Darsteller die besten Aufputschmittel zu besorgen und danach noch bessere Schlafmittel, denn am folgenden Drehtag musste meine Mannschaft wieder ausgeschlafen antreten. Verlorene Drehtage konnten wir uns nicht leisten.
Jedenfalls schaffte ich es regelmäßig, den von der Firma vorgegebenen Kostenrahmen nicht nur zu halten, sondern oft auch zu unterschreiten. Und das, ohne an der Qualität der Produktionen Abstriche machen zu müssen. Dabei war mein Rezept denkbar einfach: Ich feilte so lange an der Organisation, bis kostspielige Doppelspurigkeiten und Leerläufe ausgeschaltet waren. Dadurch musste ich nie Künstler und Mitarbeiter unter Sparzwang setzen, was mich in der Mannschaft beliebter machte, als manche meiner Kollegen.
Als mich irgend so ein Organisations-Fuzzi vom Filmverband zwischen zwei Drehterminen auf dem Handy anrief und fragte, ob er mich für die Trophäe vorschlagen dürfe, sagte ich zu, ohne zu überlegen. Ich hatte damals den Kopf voll mit anderen Dingen und hörte nur mit halbem Ohr zu.
Und dann saß ich an jenem Donnerstag im Zuschauerraum des Theaters. Pflichtveranstaltung, quasi.
Der Mann auf der Bühne, im mitternachtsblauen Smoking und mit glatt zurückgekämmtem Haar stand im Scheinwerferlicht. Er war voll konzentriert, als er den weißen Umschlag öffnete. Publikumswirksam und technisch gekonnt wurde der Spot auf die Hände gerichtet. Sie wirkten dadurch größer und weißer, als sie in Wirklichkeit waren. Der Brillant am Fingerring des Moderators blitzte, als ob das von der Regie so eingeplant worden wäre. Mit spitzen Fingern strich er über die Kante der Karte, die er aus dem Umschlag gezogen hatte, kniff die Augen etwas zusammen und las: „And the Winner is ..."
Erst als ein Scheinwerfer von der Bühne weg in den Zuschauerraum schwenkte und mich in grelles Licht tauchte, realisierte ich, dass der Schönling mit den feinen Händen wohl soeben meinen Namen genannt haben musste. Ich fühlte mich wie eine Marionette, die, an unsichtbaren Fäden gezogen, mit hölzernen Knien in Richtung Bühne stolperte, um die goldene Medaille in Empfang zu nehmen. Es mussten lobende Worte zu meiner Arbeit und zu meiner Person gewesen sein, die der Moderator sprach. Ich hatte sie nicht bewusst aufgenommen.
Energisch schob mich der Moderator danach zum Rednerpult. Ich räusperte mich nicht nur ausführlich, um den Kloß im Hals zu vertreiben, sondern hauptsächlich um Zeit zu gewinnen.
Was sollte ich dem Publikum sagen? Natürlich das Übliche, was bei solchen Empfängen erwartet wird: Dank an den Veranstalter, Danke für die erwiesene Ehre, Dank an Kollegen und Mitarbeiter, nicht zu vergessen natürlich die eigene Ehefrau, ohne die alles nicht machbar gewesen wäre, und so fort. Natürlich gehörte auch der „gerührte Gesichtsausdruck" und eine im linken Augenwinkel verdrückte Träne zum abgekarteten Spiel. Wer lange genug in der Branche ist, muss schließlich die Spielregeln kennen. Welche Informationen sollte ich von mir preisgeben? Wozu sollte ich den Pressegeiern überhaupt etwas zum Fraß vorwerfen? Die sollen sich doch an die Darsteller halten! Filmsternchen sind scharf darauf, in der Öffentlichkeit zu stehen und ihr Innerstes nach außen zu kehren. Zwischen ihnen und den Journalisten besteht eine starke Wechselbeziehung. Sie brauchen einander wie der Brotteig die Hefe, um aufzugehen. Als Produzent kann ich die Strippen im Hintergrund ziehen. Und das ist meine Welt.
Ich entschloss mich also, das Thema elegant zu umschiffen, und statt über mich zu erzählen, einfach die Episode eines angeblichen Kollegen zum Besten zu geben. Von einem, der die Frechheit besaß, diesen sonst so begehrten Ehrenpreis gar nicht erst anzunehmen; von einem, der sich einfach über die Konventionen hinwegsetzte, der sich von seinem Publikum weder ködern, noch verführen ließ. Aber schon nach wenigen Sätzen musste ich einräumen, dass jener Produzent es gar nicht wagte, so dreist zu sein. Er war feige. Alles ließ er über sich ergehen: die Lobeshymnen, die hundert Hände, die alle die seinen schütteln wollten. Sogar seine Rede, die er vor dem Spiegel peinlich genau einstudiert hatte, hauchte er pflichtbewusst und ohne zu stocken ins Mikrofon. Erst als er sich ganz allein und unbeobachtet fühlte, genoss er seinen persönlichen Triumph. In jenem Augenblick, als die Trophäe mit einem leisen Glucksen in den Fluten des Flusses verschwand. Er war diese Bürde los; für immer.
Das hätte ich dem Publikum, das sich in den feinsten - und oft auch schrägsten - Garderoben in den Rängen drängte, gerne erzählt. Aber bevor ich mich in den Netzen dieser selbsterfundenen Geschichte rettungslos verhedderte, und bevor ich gegen meinen eigenen Willen und Vorsatz zuviele meiner Gefühle preis gab, trat ich einen Schritt vom Mikrofon zurück, machte eine um Verzeihung heischende Geste zum Publikum hin und verließ die Bühne unter dem anfangs zögerlichen Beifall meiner Fans. Der grelle Spot verfolgte mich bis zum Ausgang, so, als wollte er meiner Schande spotten.
Unter jetzt frenetischem Applaus folgten mir die geladenen Gäste ins Foyer. Eine große Zahl an Personen, die zuvor nur meinen Namen kannte, wusste jetzt, wer sich hinter diesem Namen verbarg. Aber hatten sie wirklich eine klare Vorstellung von dem, was ich bin, oder nahmen sie nur meine Maske wahr? Es wäre ihnen nicht zu verübeln, denn immerhin tat ich alles, um meinen wahren Charakter, meine Feigheit, zu verschleiern und außerdem - das durfte man nie vergessen - bewegen wir uns in der Welt des Films. Nur die Fassade zu sehen und mit einfachen Spiegelungen der Realität zu spielen, gehörte zu ihrem Metier. Die mir im Foyer huldvoll zugeneigten Gesichter bewiesen die geheuchelte Anteilnahme an meinem Glück. Wäre ich Regisseur gewesen, hätte ich diese Szene nochmals drehen lassen: Der Neid in den Augen war nicht zu übersehen; Nahaufnahmen dieser von Wimperntusche umrahmten Augen, die gierig darauf bedacht waren, zusammen mit dem Sieger ins Bild zu kommen, hätten einen publikumswirksamen Effekt ergeben.
Die wenigen Minuten, welche die Meute brauchte, um sich mit Champagner zu versorgen, nutzte ich, um mich zu verdrücken.
Der kalte Novemberregen durchweichte meinen Anzug, als ich auf das Taxi wartete, das mich in mein Büro brachte. Das luxuriöse Gebäude lag völlig im Dunkeln, nur die Neonreklame an der Außenfront warf grelles Licht auf den Asphalt, wo es sich in den Pfützen spiegelte.
Erst räumte ich meinen Arbeitsplatz und dann legte ich meinem Chef die Kündigung auf den Schreibtisch. Vielleicht die erste mutige Tat in meinem bisherigen Leben.
Ich bereue sie nicht.