Der Wunschzettel
Es war einer jener wunderbaren warmen Augustabende, der das Anwesen der McPhersons in das rote Licht der untergehenden Sonne tauchte. Walter McPherson gehörte zu den großen Industriellen des Landes, und er selbst hatte sich diesen Reichtum erarbeitet. Ursprünglich war er nur ein einfacher, kleiner Maschinenbauer gewesen, doch seine Ideen und sein Gespür für die Wirtschaft hatte ihm Ruhm und Wohlstand eingebracht.
Seine Frau Jean hatte ihm vor acht Jahren einen Sohn geschenkt, und Benny wuchs zu einem stattlichen Jungen heran. Weil McPherson selbst eine karge Kindheit hinter sich hatte, erfüllte er seinem einzigen Sohn jeden Wunsch. So wuchs als Benny mit einer Mischung aus Lebensglück und Arroganz heran.
An diesem Abend nun tolle Benny wie so oft im Garten umher. Als er einmal auf dem Rasen saß und einfach nur so in den Sonnenuntergang blickte, da entdeckte er die Silhouette eines kleinen Jungen auf einem der großen Ahornbäume im Garten. Kurz entschlossen rappelte er sich auf, um den vermeintlichen Eindringling, der ihm scheinbar seine Spielwiese streitig machte, zur Rede zu stellen. "Wer bist Du? Was machst Du hier in meinem Garten?" Der kleine Benny stand da, die Hände in die Hüftgen gestemmt, und musterte den Jungen auf dem Baum vorwurfsvoll.
"Ich bin Jeremy! Mein Vater pflegt hier den Garten!" antwortete der Junge auf dem Bau, wobei er den anderen ebenso verwundert musterte.
"Ha, und meinem Vater gehört dieser Garten!" Benny grinste überlegen. "Und wenn ich es meinem Daddy sage, daß Du abends auf meinen Bäumen herumlungerst, dann wird er Deinen Daddy ganz schnell hinauswerfen." Jeremy hangelte sich an einem großen Ast vom Baum herunter und starrte den Sohn des Hauses verwundert an. "Das würdest Du tun?" fragte er ihn mit trauriger Miene. "Wenn Du das nächste Mal nicht vorher fragst, dann schon!" Benny war der Meinung, daß nun alles gesagt war, was gesagt werden mußte, wandte sich um und ging.
"Halt!" rief Jeremy ihm hinterher. "Warte doch einen Augenblick!" Benny wandte sich noch einmal um und wartete, bis Jeremy ihn eingeholt hatte. "Was willst Du denn noch?" fragte er ihn und blickte auf seine Uhr, als hätte er noch einen wichtigen Termin. "Naja", antwortete Jermey, "könnten wir nicht vielleicht Freunde werden?"
Benny lachte laut. "Sehe ich etwa so aus, als ob ich mich mit dem Sohn eines Dienstboten abgebe?" Jeremy machte ein trauriges Gesicht. Doch dann sagte er einfach: "Ja!" - "Wie kommst Du denn auf diese dämliche Idee?" herrschte der kleine McPherson ihn an. "Naja", antwortete Jeremy, "ich habe Dich schon oft beobachtet. Und immer hast Du alleine gespielt. Da muß Dir doch etwas fehlen, oder?" - "Pah!" Wieder fühlte sich Benny überlegen. "Ich habe mehr Spielzeug zu Hause, als Du in Deinem ganzen Leben sehen wirst, und..." - "Ich rede nicht von Spielzeug!" unterbrach ihn Jeremy. "Spielzeug kann man nicht lieb haben. Ich meine richtige Freunde, weißt Du, jemand, den man so richtig liebhaben kann!"
Nun war es an Benjamin, eine verwunderte Miene zur Schau zu stellen. Bisher war er sich dessen nie bewußt geworden, daß ihm etwas ganz wichtiges fehlte. Natürlich, er hatte seine Mommy und seinen Daddy, und die beiden hatte er sehr lieb. Aber was ihm bisher gefehlt hatte, das war ein richtiger Freund. "Ich werde es mir bis morgen überlegen. Wenn ich es für richtig halte, dann komme ich wieder zu Deinem Baum, okay?" Benny schaute Jeremy fragend an. Dieser streckte ihm die rechte Hand entgegen und meinte: "Okay!" Benny ergriff diese Hand, drückte sie und ging dann über den großen Rasen zurück zum Haus.
In dieser Nacht lag der kleine Benny lange Zeit wach in seinem großen Bett und dachte über einen wirklichen Freund nach. Was machte man mit einem Freund? Mußte man ihm irgend etwas schenken? Vielleicht etwas von seinem vielen Spielzeug? Nein, das konnte eigentlich nicht sein, denn Jeremies Vater war arm, weshalb er ihm niemals etwas so teures und prachtvolles schenken konnte. Aber für was waren Freunde dann da, wenn man Mommy und Daddy hatte? Naja, da gab es doch diese kleinen Dinge, über die Mommy und Daddy nichts erfahren sollten, vielleicht konnte man darüber mit einem Freund reden?
Schließlich kam Benny zu der Feststellung, daß es auf jeden Fall neu war, einen Freund zu haben, und da er immer alles bekam, was er wollte, durfte auch ein Freund auf keinen Fall fehlen. Also stand er am nächsten Abend wieder unter dem Ahornbaum, und Jeremy und er wurden gute Freunde.
Vier Jahre lebten sie nebeneinander, Benny zeigte Jeremy, wie man mit teuren Spielsachen unnütz viel Zeit verschwenden konnte, und Jeremy zeigte Benny die abenteuerlichen Spielplätze inmitten der Natur. Je länger sich die beiden kannten, desto weniger interessierte sich Benny für sein Spielzeug, und desto mehr spielte er mit Jeremy im Garten im nahen Wald oder in der alten Kiesgrube.
Benny bereute niemals seinen Entschluß, und auch seine Eltern akzeptierten den Freund. Bald schon gehörte Jeremy fast zur Familie, obwohl diesem das nicht so ganz recht war, weil auch er seine Mom und seinen Dad sehr, sehr lieb hatte.
Weil Walter McPherson diese Einstellung respektierte, und auch, weil er Jeremy möglichst nahe bei seinem Sohn haben wollte, lies er extra für die Dienstboten ein Haus neben seinem eigenen errichten, in das Jeremy mit seinen Eltern und seiner kleinen Schwester schon bald einzogen. Von da an waren die beiden Kinder nun endgültig unzertrennlich.
Wie es bei Kindern nun mal so ist, so machten auch diese beiden eine Menge Unsinn, doch weil sie trotz allem immer die freundlichen kleinen Bursche blieben, freuten sich die Eltern der beiden, wenn sie die Kinder so heranwachsen sahen.
Als beide etwa zwölf waren - es war ein wunderbarer Sommer - da nahm sich Walter die Zeit, um mit den beiden Jungs einmal ans Meer zu fahren. Es war ein unbeschreibliches Erlebnis, denn es war einfach etwas ganz anderes, als die Vergnügungen im familiären Swimmingpool.
Beide Jungen waren ausgezeichnete Schwimmer und wetteiferten darum, wer länger unter Wasser bleiben konnte, wer weiter hinaus schwamm oder einfach, wer eine Distanz schneller zurücklegte.
Jetzt lagen die beiden Jungs auf einem Felsen, etwa hundert Meter vom Ufer entfernt und genossen die wärmenden Strahlen der Sonne.
"Komm!" sagte Benny und sprang auf. "Wer zuerst zurück am Ufer ist!" Und im selben Augenblick war er mit einem Kopfsprung in den Fluten verschwunden. Jeremy rappelte sich schnell auf und hüpfte ihm hinterher. Benny hatte fast zwanzig Meter Vorsprung, sodaß er es sich erlauben konnte, sich noch einmal nach seine Freund umzudrehen. Doch seine Augen weiteten sich vor Entsetzen. Jeremies Kopf tauchte fortwährend auf und unter, das Gesicht war ganz blaß und von irgendwelchen Schmerzen gepeinigt.
"Jeremy!" rief Ben und machte eine Wende, um seinem Freund zu helfen. "Mein Bein!" schrie dieser und verschwand abermals unter Wasser. "Daddy, komm schnell!" rief Benny in Richtung Ufer und Walter McPherson schreckte aus seinem Sonnenbad hoch. Kaum hatte er den Ernst der Lage erfaßt, da stürzte auch er sich in die Fluten, um dem Jungen zu helfen.
Benny versuchte so gut es ging, Jeremies Kopf über Wasser zu halten, aber da er mit solchen Rettungsmaßnahmen keinerlei Erfahrungen hatte, war er froh, als sein Vater ihm zu Hilfe kam.
Endlich waren alle drei an dem rettenden Ufer angekommen. Jeremy lag im Sand und japste nach Luft. "Was war los?" kreischte Ben. "Du hast mir Angst gemacht!"
"Mein Bein!" japste Jeremy. "Ich kann es nicht mehr bewegen. Es tut so weh!" - "Hast Du viel Wasser geschluckt?" erkundigte sich jetzt McPherson. "Ich glaube nicht", antwortete Jeremy, "aber mein Bein tut so weh." - "Ich werde Dich zu einem Arzt bringen!" sagte McPherson. "Das nächste Krankenhaus ist nicht weit weg von ihr." Unter großen Schmerzen und mit Bens Hilfe zog sich Jeremy um, McPherson verstaute ihn sicher auf dem Rücksitz des Wagens, und dann fuhren alle zusammen zum nächsten Krankenhaus.
Walter McPherson schilderte einer Schwester die Situation, und Jeremy wurde mit einer Bahre in einen großen Untersuchungsraum gebracht. Benny und sein Vater warteten auf dem Flur, ehe ein Arzt sie nach fast zwei Stunden in sein Sprechzimmer bat.
"Sind Sie der Vater des Jungen?" fragte der Doktor. "Nein!" antwortete McPherson wahrheitsgemäß. "Ich bin der Arbeitgeber seines Vaters. Aber das spielt keine Rolle!" - "Doch!" erwiderte der Arzt. "Ihnen darf ich nämlich nichts über die Krankheit des Jungen sagen.
"Aber warum denn nicht?" fragte McPherson. "Er ist mit meinem Sohn herangewachsen, und ich habe ihn immer behandelt, als wäre er mein eigener." - "Das tut nichts zur Sache!" konterte der Arzt und musterte den Schliff seiner Fingernägel. "Hören Sie", sagte McPherson, jetzt bedeutend aufgebrachter las zuvor, und haute mit beiden Fäusten auf die Tischplatte. "Ich bin Walter McPherson, und wenn Sie aufgeblasener Wichtigtuer nicht sofort mit der Sprach herausrücken, dann kaufe ich dieses ganze verdammte Krankenhaus und verpasse ihnen eigenhändig einen Tritt in den Allerwertesten!" Noch einmal schnaubte er verärgert, doch die Miene des Arztes hatte sich sehr verändert. "Okay, okay, Mister! Hätten Sie das gleich gesagt, dann wäre die Sache doch ganz anders. Folgendes", sagte er, hängte zwei Röntgenbilder von Jeremies Bein an einen großen Wandschirm und schaltete ihn ein. "Die Untersuchungen haben ergeben, daß der Junge einen großen Tumor am Bein hat. Bisher können wir noch nicht beurteilen, ob es eine gut- oder bösartige Geschwulst ist, den Schmerzen nach zu urteilen ist aber wahrscheinlich letzteres zutreffend."
"Oh, mein Gott!" war das einzige, was Walter McPherson in diesem Moment hervorbrachte. "Wird Jeremy sterben?" kreischte jetzt Ben. "Nein, gewiß nicht. Wenn er jemanden hat, der ihm eine Chemotherapie bezahlt, dann wird er in spätestens eine halben Jahr wieder laufen können."
"Daddy?" Bens Blicke flehten um Hilfe für seinen Freund. "Wirst Du Jeremy helfen?" Walter McPherson wußte, wenn er jetzt "nein" sagte, dann würde er nicht zur seinen Ziehsohn verlieren, sondern auch seinen wirklichen.
Folglich wurde Jeremies Bein mit Strahlen behandelt. Ben besuchte ihn jeden Tag im Krankenhaus und machte ihn die Zeit leichter. Selbst als Jeremies Haar ausfielen, alberten die beiden noch immer so gut es ging umher. Jeremy war ans Bett gefesselt, doch dadurch wurde sein Erfindungsreichtum nur sehr wenig eingeschränkt. Kaum war Ben in seinem Zimmer, schon überlegten sie sich zusammen allerlei Unsinn, der Schwestern und Pfleger auf Trab hielt.
Doch ein halbes Jahr verging - und auch die Geschwulst - aber Jeremies Zustand wurde und wurde einfach nicht besser. Ben litt immer mit seinem Freund, der für ihn schon fast ein Bruder geworden war. Abermals wurden viele Untersuchungen durchgeführt, und diesmal waren fünf Personen im Sprechzimmer des Arztes versammelt. Jeremies Eltern samt seiner Schwester und auch Walter McPherson mit Ben wollten erfahren, was es mit dem Zustand des Jungen auf sich hatte.
Diesmal brachte der Doktor noch schlimmere Nachrichten. Jeremy hatte Krebs, "Leukämie" nannte es der Doktor, und das einzige, was Jeremy helfen würde, wäre eine Knochenmarkstransplantation - was natürliche wieder immense Summen kosten würde.
Wiederum war McPherson bereit, die Kosten zu tragen. Doch Jeremies Vater fiel ihm ins Wort: "Mr. McPherson, das können wir nicht annehmen. Sie haben schon so viel für Jeremy getan, und ich weiß nicht, wie ich das alles jemals wieder gut machen soll. Wir können uns doch nicht diese teure Operation auch noch von Ihnen bezahlen lassen." McPherson war verärgert über diese Geste der Ablehnung, zum anderen aber bewunderte er aber den Stolz und den Mut jenes Mannes, dessen Existenz derzeit voll und ganz von seiner Willkür abhing. "Mr. Appleton, Ihr Sohn Jeremy war in den vergangenen Jahren der einzige Freund, dem sich mein Ben je anvertraut hat. Die beiden gehören zusammen, und würde ich es zulassen, daß dem einen etwas zustößt, so würde ich auch die Liebe des anderen verlieren. Ich habe immer versucht, meinem Sohn jeden Wunsch zu erfüllen. Früher war es Spielzeug, doch heute ist Jeremy einer der wenigen Menschen, die meinem Sohn wirklich etwas bedeuten. Spielzeug kann man immer wieder kaufen, aber den besten Freund zu verlieren, das möchte ich ihm ersparen. Deshalb bitte ich Sie, mein Geschenk anzunehmen. Solange es noch eine Möglichkeit gibt, Jeremy zu retten, so lange werde ich dafür aufkommen. Denn dadurch, daß mein Sohn für mich einer der beiden wichtigsten Menschen in meinem Leben ist, dadurch ist auch Ihr Sohn für mich sehr wichtig. Verstehen Sie das?"
Jeremies Vater nickte zustimmen, und die beiden reichten sich freundschaftlich die Hände.
So wurde also Jeremy in ein anderes Krankenhaus verlegt, das auf solche Transplantationen spezialisiert war, und wartete darauf, daß die Ärzte einen geeigneten Spender fanden. Und es wurde Sommer und es wurde Herbst. Als der Oktober sich dem Ende näherte, da betrat Jean McPherson einmal das Arbeitszimmer ihres Mannes, was eigentlich schon beinahe ein Verbrechen war, da dieses Zimmer der Ort war, an den sich ihr Mann in grüblerischen Stunden zurückzog.
Walter schreckte in seinem Sessel auf und blickte seine Frau an. "Schau, was ich gefunden habe!" sagte sie und hielt ihm einen Zettel hin. Walter nahm ihr das Stück Papier aus der Hand und las, was darauf geschrieben stand:
"Wunschzettel für Weihnachten
Das einzige, was ich mir dieses Jahr zu Weihnachten wünsche ist, daß mein Freund Jeremy wieder gesund wird, damit wir wieder mehr zusammen sein können, denn ohne ihn fühle ich mich sehr, sehr einsam
Benjamin McPherson"
Tränen der Rührung standen Walter McPherson in den Augen. Von diesem Moment an beauftragte er einen Bekannten, jeden Tag bei Jeremy nach den rechten zu sehen.
Benjamins Bitten wurden erhört, und für ihn und Jeremy wurde es das glücklichste Weihnachtsfest aller Zeiten. Doch auch ihre Eltern waren sehr glücklich, denn zum ersten Mal feierten beide Familien Weihnachten gemeinsam. Und jeder hatte etwas dabei gelernt: Die Appletons wußten nun, daß man ein Geschenk annehmen konnte, so lange es von Herzen gegeben wurde, und die McPhersons hatten gelernt, daß all ihr Geld und ihre großzügigen Geschenke niemals Liebe oder Freundschaft ersetzen konnten, sie konnten ihr nur manchmal ein wenig nachhelfen.