Der Zauberwürfel
Der Zauberwürfel:
Zu seinem 13. Geburtstag bekam er seinen ersten Zauberwürfel. Es war ein klassischer 3x3x3 Würfel mit 54 Feldern und 6 Farben auf 6 Flächen. Eine Woche lang drehte er ohne Sinn und Verstand daran herum. Ohne Erfolg. Nicht mehr als zwei einfarbige Flächen aus jeweils neun gleichfarbigen Quadraten bekam er auf diese Weise zusammengedreht. Er war dem Verzweifeln nahe und begann so langsam sauer auf den Würfel zu werden. Wieso sträubte er sich so sehr dagegen, gelöst zu werden? Wollte er denn nicht auch in seinen flächenseitig-einfarbigen Ursprungs- wie Idealzustand zurückkehren? Es war bereits spät am Abend und der Schlaf zog bereits an seinen Liedern, sodass er schließlich -mit seinem ungeordneten Würfel auf der Brust- die materielle Wirklichkeit hinter sich ließ.
Er war auf dem Weg zur Schule. Neben ihm lief, oder besser gesagt, würfelte, sein Zauberwürfel, dessen Seitenlänge auf beachtliche 100 cm angewachsen war, zusammen mit ihm über den Fußweg. Sie unterhielten sich über Flächen, Formen und Farben, doch der Würfel antwortete stets in Rätseln. Er wollte ihm partout nicht verraten, wie er zu lösen, zu ordnen sei. Im nächsten Moment sah er seine Freunde, die mit ihm, dem Würfel, auf dem Sportplatz der Schule Fußball spielten. Bei jedem Tritt rotierten und drehten sich die Seiten des Würfels und bildeten neue Farbmuster. Doch egal wie oft sie ihn auch kickten, er schien sich nicht ordnen zu wollen. Er fand sich zusammen mit seinem Würfel in den Toiletten des Einkaufszentrums, in dem seine Familie jedes Wochenende ihren Großeinkauf macht, wieder und fragte sich, wie so ein Würfel wohl aufs Klo geht. Seine Augen, noch verklebt vom nächtlichen Schlafsand, öffneten sich und er rannte ins Badezimmer.
Der Würfel. An nichts anderes konnte er mehr denken, als diesen verdammten Würfel zu lösen. Schon bald darauf begann er sich Aufzeichnungen zu machen. Jede Drehung samt Richtung und sich verändernden Quadraten und Flächen wurde notiert. Ihm fiel auf, dass, je nach Ausgangslage, bestimmte Drehungen zu den immer gleichen, bestimmten Bildern führen. Es gibt also eine Ordnung. Ein Muster. Der Würfel ist lösbar!
Tage und Wochen vergingen und er notierte sich jede Möglichkeit, jede Drehung, jedes Bild und jedes sich wiederholende Muster des Würfels. Er versuchte, sich in den Würfel hineinzuversetzen. Wie er zu fühlen und zu denken. Immer wieder baute er ihn auseinander und wieder zusammen. Betrachtete ihn von allen Seiten. Fühlte ihn. Tastete ihn ab. Einmal leckte er sogar an ihm, aber das war ihm dann doch auch selbst etwas zu albern und er musste über sich lachen. Dann begann die Zeit des Schweigens. Tag und Nacht, in jeder freien Stunde, freien Minute, betrachtete er den Würfel. Still. Ohne ihn zu berühren. Immer wieder betrachtete er abwechselnd seine Aufzeichnungen und den Würfel, während dieser, der Würfel, sich bereits in seinem Unterbewusstsein zu entzaubern begann.
"Heureka! Heureka, heureka, heureka! Ich hab's!"
Er hatte den Würfel nun gänzlich verinnerlicht und war jetzt in der Lage, ihn im Geiste zu lösen. Der Würfel erschien vor seinem inneren Auge und begann sich langsam zu rotieren und zu ordnen, während der echte Würfel weiterhin ungeordnet auf seinem Schreibtisch lag. Immer wieder löste er den Würfel vor seinem inneren Auge. Aus jeder erdenklichen Anfangsformation heraus und mit der kleinstmöglichen Anzahl an Drehungen. Schon bald löste er zwei Würfel parallel, gleichzeitig. Bald darauf drei. Dann vier... usf. Der echte, materielle Würfel stand seit seiner Verinnerlichung weiterhin traurig und unberührt auf seinem Schreibtisch.
Er dachte nur noch in Würfeldrehungen. Jeder Mensch wurde zu einem Würfel. Jedes Gespräch zu einer Kombination von Drehungen, jede Emotion, Ausdruck einer Farbkombination aus Würfelquadraten der bestehenden Würfelflächen. Er nahm nur noch Nahrung in Würfelform zu sich und trank ausschließlich aus quadratischen, würfelförmigen Tetrapaks. Quader, Pyramiden oder gar Kugeln kamen für ihn nicht infrage. Die ganze Welt bestand für ihn bald nur noch aus endlichen Iterationen von Seitenflächendrehungen. Wenn er unterwegs war, begannen die Etagen der Hochhäuser sich zu drehen und zu ordnen. Fenster ohne Gardinen, Fenster mit Gardinen, Fenster mit Blumen und Fenster mit Satellitenschüssel, sie alle wurden über- und nebeneinander gedreht, bis jede Fläche des Hauses nur noch eine Art von Fenstern besaß. Ganz besonders schlimm waren für ihn gepflasterte Straßen. Sein Verstand begann automatisch jede nebeneinanderliegende 3x3 Pflastersteinformation in drehbare Würfel umzuwandeln und begann sogleich all diese "Würfel" zu ordnen. Gleichzeitig. Dabei wurde ihm oft so übel, dass er seinen Blick nach oben zwang, wenngleich ihn auch dort nur noch Würfel erwarteten. Absolut alles wurde in Würfelform gebracht und gedreht, gewürfelt, geordnet.
Manchmal träumte er davon, selbst ein Würfel zu sein und fand sich in einer Welt aus geometrischen Formen wieder, in der er sich den anderen Formen gegenüber beweisen musste. Schließlich kam es zu einem erbitterten Kampf zwischen ihm und einigen Prismen und deren Brüdern, den Zylindern, vor denen er schließlich davon würfelte. Schweißgebadet erwachte er aus seinem Albtraum und schaute hinüber zum Tisch.
Er wusste, dass es so nicht weitergehen kann, also setzte er sich ab den Schreibtisch und nahm das erste mal seit Monaten seinen Zauberwürfel in die Hand. Stille. Im neblig gelben Licht seiner Tischlampe sitzend, begann er den Würfel zu drehen. Erste Drehung. Dann die Zweite. "Langsam, immer schön langsam.", flüsterte er fast mahnend vor sich hin. Der Würfel war geordnet. Zum letzten mal. Er packte ihn in seine Schreibtischschublade, schloss diese anschließend mit doppelter Umdrehung ab und atmete tief durch.