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Der Zug ist abgefahren
Der Zug ist abgefahren
Ich löse meine Fahrkarte. Es kostet mich einige Zeit, bis ich herausgefunden habe, welche der vielen bunten Knöpfchen ich in den Bauch des Automaten rammen muss. Alles in allem kein Problem. Maschinen und Technik haben mir eigentlich noch nie Probleme gemacht. In der Regel weiß ich rein intuitiv, was zu tun ist, wenn man mich vor einem technischen Gerät setzt, was allerdings eher eine allgemeine Fähigkeit meiner noch recht jungen Generation zu sein scheint. Auch war es kein großes Problem den Fahrplan zu lesen. Mir ist klar wo ich hin will; Ebenso klar ist mir also auch die Linie und deren Richtung, die ich nehmen muss. Sie sticht mir förmlich entgegen aus dem Kleingedruckten Buchstabengewirr des Fahrplans.
Ich habe also meine Fahrkarte und fünf Minuten Zeit, bis die nächste Straßenbahn kommt. (Natürlich ist während dem Fahrkartenkauf schon ein Zug meiner Linie abgefahren...) Ich setze mich nicht auf die Bank, die wartenden Fahrtgästen zum Verschnaufen dienen soll. Ich sitze viel zu viel, mehr Aktivität würde mir gut tun und so erlege ich es mir als Probe auf, mal fünf Minuten meines Lebens standhaft zu sein.
Langsam beginne ich auf und ab zu gehen. Vom Stehen werden die Beine einfach taub!
Ein Dolch trifft mich in den Rücken. Nun ja... nicht wörtlich ein Dolch. Aber es beschreibt das bohrende Gefühl, dass die Blicke der anderen Leute in meinem Kreuz hinterlassen sehr treffend. Auch klingt leises Lachen durch die Luft, erreicht mein Trommelfell. Wegen der geringen Lautstärke, der aber trotzdem guten Vernehmlichkeit de Lachens, kann es nur an mich errichtet sein, nein, kann es nur über mich gewesen sein. Die Zeit, in der mich zuletzt jemand anlachte, ist schon längst aus meinem Gedächtnis verschwunden. Doch als ich mich umdrehe, gehen alle ihren Beschäftigungen nach. Es gibt kein Anzeichen dafür, dass mich überhaupt jemand bewusst wahrgenommen hat. Trotzdem fühle ich mich wie ein Tiger im Käfig. Von allen wie durch Gitterstäbe begafft schreite ich aus Langeweile auf und ab, immer auf und ab.
Meine Bahn kommt um die Biegung, erleichtert atme ich auf, nur um gleich wieder zurückzuschrecken. Hier würde ich nicht einsteigen! Nein, zu diesem Haufen Schläger und Monster, die aus einer geisteskranken Horrorgeschichte stammen könnten, allerdings vollkommen real sind und gerade das innere meines potentiellen Transportmittels unsicher machen, bringen mich keine zehn Pferde! Was für ein Glück, dass ich mich in einer großen Stadt befinde, in der alle fünf Minuten ein Zug kommt. Eilig habe ich es nicht. Ich warte.
Nach weiteren fünf Minuten die ich mit umhertigern verbringe, kommt tatsächlich die nächste Straßenbahn. Aber was für eine! Klar, sie würde ihren Zweck erfüllen und mich an mein Ziel bringen, aber muss ich dafür wirklich in die älteste (ihre gleichaltrigen Brüder und Schwestern waren noch stolze Dampfrösser, da bin ich mir sicher) und versiffteste Bahn des gesamten städtischen Fuhrparks einsteigen?
Ich warte. Fünf Minuten, in denen ich glaube paranoid zu werden (wenn ich es nicht längst schon bin). Die Bahn ist da, aber ich nicht. Ich habe Hunger bekommen, also bin ich zum Kiosk, der sich in der Mitte der Haltestelle befindet, gegangen und kaufe mir gerade etwas zu essen. In den nächsten fünf Minuten bin ich mit essen beschäftigt, weshalb sie so schnell vergehen, wie normale fünf Minuten zu vergehen haben.
Gestärkt will ich in die nächste Bahn steigen, aber sie ist voll. Es grenzt an ein Wunder, dass die Massen nicht auf Grund des Druckes durch die Menschenleiber, einem sich lösender Pfropf gleich, aus der Tür schießen. Niemand steigt aus.
Wieder warte ich. Vor Nervosität zerknittere ich ganz unbewusst die Fahrkarte in meiner Manteltasche. Die nächste Bahn kommt. Genau wie ihre Vorgängerin droht sie aus allen Nähten zu platzen. Verzweifelt blicke ich um mich und erstarre. Auf allen Gleisen stehen völlig überfüllte Trams, auf denen die Nummer meiner Linie prangt. Wie zum Spott öffnen sich ihre Türen. Ich fühle, wie alles mich anstarrt und diesmal ist es keine Einbildung. Die Menschen auf der Haltestelle haben einen Kreis um mich gebildet. Wie auf Kommando beginnen sie zu lachen. Ein Lachen bar jeglicher Freude. Unmenschlich, kalt, grausam. Die Leute in den Straßenbahnen fallen ein. Die Gesichter zu grotesken, dämonischen Fratzen verzerrt. Alles beginnt sich zu drehen, bricht über mich herein.
Ich schrecke auf. Nur ein Traum!
Ich fahre mir mit einer Hand über ein Gesicht, dass sich anfühlt als hätte es seit Tagen nicht den Stahl einer Rasierklinge zu spüren bekommen. Es ist finstre Nacht. Ich schaue auf die Uhr, sie ist auf viertel nach acht stehen geblieben. Mein Rücken schmerzt mehr, als es mein Alter begründen könnte (mit ende 40 zählt man nun mal nicht mehr zu den Jüngsten). Als ich versuche mich in eine bequemere Position zu rücken, durchzuckt mich der Schmerz. Er läuft meine Wirbelsäule entlang und verbreitet sich in den gesamten Knochen meines Körpers, dringt in meinen Kopf ein und lässt mich gänzlich erstarren. Mit einem metallenen Kreischen setzt sich ein Stahlungetüm vor mir in Bewegung. Eine Nummer, die mir irgendwann mal etwas bedeutet hat, zieht an mir vorüber.
Schlagartig erkenne ich worauf ich sitze. Eine eiserne Wartebank. Ich bin an einer Haltestelle...