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Der Zug ist abgefahren

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24.03.2005
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Der Zug ist abgefahren

Der Zug ist abgefahren

Ich löse meine Fahrkarte. Es kostet mich einige Zeit, bis ich herausgefunden habe, welche der vielen bunten Knöpfchen ich in den Bauch des Automaten rammen muss. Alles in allem kein Problem. Maschinen und Technik haben mir eigentlich noch nie Probleme gemacht. In der Regel weiß ich rein intuitiv, was zu tun ist, wenn man mich vor einem technischen Gerät setzt, was allerdings eher eine allgemeine Fähigkeit meiner noch recht jungen Generation zu sein scheint. Auch war es kein großes Problem den Fahrplan zu lesen. Mir ist klar wo ich hin will; Ebenso klar ist mir also auch die Linie und deren Richtung, die ich nehmen muss. Sie sticht mir förmlich entgegen aus dem Kleingedruckten Buchstabengewirr des Fahrplans.
Ich habe also meine Fahrkarte und fünf Minuten Zeit, bis die nächste Straßenbahn kommt. (Natürlich ist während dem Fahrkartenkauf schon ein Zug meiner Linie abgefahren...) Ich setze mich nicht auf die Bank, die wartenden Fahrtgästen zum Verschnaufen dienen soll. Ich sitze viel zu viel, mehr Aktivität würde mir gut tun und so erlege ich es mir als Probe auf, mal fünf Minuten meines Lebens standhaft zu sein.
Langsam beginne ich auf und ab zu gehen. Vom Stehen werden die Beine einfach taub!
Ein Dolch trifft mich in den Rücken. Nun ja... nicht wörtlich ein Dolch. Aber es beschreibt das bohrende Gefühl, dass die Blicke der anderen Leute in meinem Kreuz hinterlassen sehr treffend. Auch klingt leises Lachen durch die Luft, erreicht mein Trommelfell. Wegen der geringen Lautstärke, der aber trotzdem guten Vernehmlichkeit de Lachens, kann es nur an mich errichtet sein, nein, kann es nur über mich gewesen sein. Die Zeit, in der mich zuletzt jemand anlachte, ist schon längst aus meinem Gedächtnis verschwunden. Doch als ich mich umdrehe, gehen alle ihren Beschäftigungen nach. Es gibt kein Anzeichen dafür, dass mich überhaupt jemand bewusst wahrgenommen hat. Trotzdem fühle ich mich wie ein Tiger im Käfig. Von allen wie durch Gitterstäbe begafft schreite ich aus Langeweile auf und ab, immer auf und ab.
Meine Bahn kommt um die Biegung, erleichtert atme ich auf, nur um gleich wieder zurückzuschrecken. Hier würde ich nicht einsteigen! Nein, zu diesem Haufen Schläger und Monster, die aus einer geisteskranken Horrorgeschichte stammen könnten, allerdings vollkommen real sind und gerade das innere meines potentiellen Transportmittels unsicher machen, bringen mich keine zehn Pferde! Was für ein Glück, dass ich mich in einer großen Stadt befinde, in der alle fünf Minuten ein Zug kommt. Eilig habe ich es nicht. Ich warte.
Nach weiteren fünf Minuten die ich mit umhertigern verbringe, kommt tatsächlich die nächste Straßenbahn. Aber was für eine! Klar, sie würde ihren Zweck erfüllen und mich an mein Ziel bringen, aber muss ich dafür wirklich in die älteste (ihre gleichaltrigen Brüder und Schwestern waren noch stolze Dampfrösser, da bin ich mir sicher) und versiffteste Bahn des gesamten städtischen Fuhrparks einsteigen?
Ich warte. Fünf Minuten, in denen ich glaube paranoid zu werden (wenn ich es nicht längst schon bin). Die Bahn ist da, aber ich nicht. Ich habe Hunger bekommen, also bin ich zum Kiosk, der sich in der Mitte der Haltestelle befindet, gegangen und kaufe mir gerade etwas zu essen. In den nächsten fünf Minuten bin ich mit essen beschäftigt, weshalb sie so schnell vergehen, wie normale fünf Minuten zu vergehen haben.
Gestärkt will ich in die nächste Bahn steigen, aber sie ist voll. Es grenzt an ein Wunder, dass die Massen nicht auf Grund des Druckes durch die Menschenleiber, einem sich lösender Pfropf gleich, aus der Tür schießen. Niemand steigt aus.
Wieder warte ich. Vor Nervosität zerknittere ich ganz unbewusst die Fahrkarte in meiner Manteltasche. Die nächste Bahn kommt. Genau wie ihre Vorgängerin droht sie aus allen Nähten zu platzen. Verzweifelt blicke ich um mich und erstarre. Auf allen Gleisen stehen völlig überfüllte Trams, auf denen die Nummer meiner Linie prangt. Wie zum Spott öffnen sich ihre Türen. Ich fühle, wie alles mich anstarrt und diesmal ist es keine Einbildung. Die Menschen auf der Haltestelle haben einen Kreis um mich gebildet. Wie auf Kommando beginnen sie zu lachen. Ein Lachen bar jeglicher Freude. Unmenschlich, kalt, grausam. Die Leute in den Straßenbahnen fallen ein. Die Gesichter zu grotesken, dämonischen Fratzen verzerrt. Alles beginnt sich zu drehen, bricht über mich herein.
Ich schrecke auf. Nur ein Traum!
Ich fahre mir mit einer Hand über ein Gesicht, dass sich anfühlt als hätte es seit Tagen nicht den Stahl einer Rasierklinge zu spüren bekommen. Es ist finstre Nacht. Ich schaue auf die Uhr, sie ist auf viertel nach acht stehen geblieben. Mein Rücken schmerzt mehr, als es mein Alter begründen könnte (mit ende 40 zählt man nun mal nicht mehr zu den Jüngsten). Als ich versuche mich in eine bequemere Position zu rücken, durchzuckt mich der Schmerz. Er läuft meine Wirbelsäule entlang und verbreitet sich in den gesamten Knochen meines Körpers, dringt in meinen Kopf ein und lässt mich gänzlich erstarren. Mit einem metallenen Kreischen setzt sich ein Stahlungetüm vor mir in Bewegung. Eine Nummer, die mir irgendwann mal etwas bedeutet hat, zieht an mir vorüber.
Schlagartig erkenne ich worauf ich sitze. Eine eiserne Wartebank. Ich bin an einer Haltestelle...

 

Salve Doc,

Ich hab deine Geschichte jetz ein paar Mal durchgelesen. Mir geht es jetzt haupsächlich um den Inhalt, den ich beileibe nicht ergründen kann.
Hat dein Prot was schlechtes gegessen und deshalb Alpträume?
Oder hast du einfach grundsätzlich etwas gegen öffentliche Verkersmittel?


Mit deiner Hilfe versteh ichs dann vielleicht! :smokin:

 

Moin,

Tja, wenn man Umberto Eco Glauben schenken darf ist es zwar nicht meine Aufgabe die Geschichte zu erklären, aber ich will mal nicht so sein ;)
Ich glaube du hast die Geschichte zu wörtlich genommen, es geht hier nicht um Realismus, sondern um den Ausdruck der Geschichte an sich.
Sie ist aus der ersten Pesron geschrieben, damit der Leser sich mit dem Protagonisten identifiziert, oder sogar sich selbst ein Stück weit für den Protagonisten hält. So, du hast jetzt einen Traum, in dem du an einer Haltestelle stehst und Zug für Zug vorbeifahren lässt, aber als du einsteigen WILLST, fehlt dir die Möglichkeit dazu, vielleicht hättest du früher einsteigen sollen...
Nun wachst du auf, merkst, dass du alt bist und vor allem in der gleichen Situation wie in deinem Traum. Du blickst auf ein Leben voller verpasster Gelegenheiten zurück. Das ist so im groben die Aussage der Geschichte, tut mir leid wenn die Erklärung nicht 100%ig klar ist, aber ich mags metaphorisch^^

mfg,
The_Docter

 

Hi Doc.

Danke für deine Erklärung.

(Hätt ich eigentlich selber drauf kommen müssen) :bonk:

 

Na, was für ein schönes Gleichnis, wenngleich auch ein nicht sonderlich frisches. Der Plan als Lebensplan, die Züge als Möglichkeiten, die einer verpasst... Am Stil musst du aber noch arbeiten, ein wenig. Auch ist es etwas langatmig - ich fühle mich am Ende so ermüdet wie dein Prot :)

Gruß,
A.v.M.

 

Hallo Docter,

deine Beschreibungen des Wartenden sind recht ansprechend. Der Inhalt ist mir etwas zu einfach (man möchte dem Prot. ‚Carpe diem!’ zurufen), erscheint mir auch eher eine psychische Problematik darzustellen, als eine philosophische. (Es ist ja keine Lebensphilosophie, Gelegenheiten ungenutzt zu lassen).

Änderungsvorschläge:

„(Natürlich ist während dem Fahrkartenkauf schon ein Zug meiner Linie abgefahren...)“

- Die Klammer ist unnötig, der prot. spricht (denkt) ja zu sich selbst.


„Nun ja... nicht wörtlich ein Dolch.“

- S. o. Die Erklärung braucht er nicht.

Tschüß... Woltochinon

 

Sers Woltochinon,

Mit der psychischen Problematik magst du recht haben, die Geschichte ist aus einer ein wenig.... nun ja, depressiven Stimmung heraus entstanden^^
Natürlich ist es keine Lebensphilosophie Gelegenheiten ungenutzt zu lassen, wohl aber ist die Erkenntnis, die dem Leser durch das Schicksal des Protagonisten klar werden soll, philosophischer Art. Und dies schlicht aus dem grund, WEIL eben viele Möglichkeiten an sich vorbeiziehen lassen ohne sie wahr zu nehmen. Die Geschichte soll also eine art Augenöffner sein, die einem auf der Suche nach Wahrheit (was ja gerade Philosophie ist, falls ich da nicht grundlegend was falsch verstanden habe) helfen soll.

Die Klammern sind so eine Art sucht von mir, tut mir leid, manchmal denke ich mit Klammern und Einschüben, was mir als die beste Lösung bei parallel laufenden Gedankensträngen erscheint :D Es gehört nun mal leider zu meinem Stil und bleibt deshalb auch drin ;)

Über die Sache mit dem Dolch lasse ich allerdings mit mir verhandeln, meine Absicht war die Erzählung durch diese Selbstkommentierung authentischer und nicht so absolut überzogen, auf bildsprache versessen, hochstilisiert wirken zu lassen. Wenn mir das nicht gelungen ist, dann nehme ich es gerne heraus.
mfg
The_Docter

 

Hallo Docter,

der Leser wird, wie auch der Protagonist, die Erklärung, dass der Dolch nicht wörtlich gemeint ist nicht brauchen. (Aber natürlich erdolcht diese Erklärung niemanden, auch nicht anderes (Klammern, meine ich)).

Die nicht wahrnehmbaren (nicht erkennbare) Möglichkeiten sehe ich durchaus als philosophischen Aspekt der mit Wahrheit zusammenhängt. In deiner Geschichte erscheinen mir die Möglichkeiten eher als nicht wahrgenommene (nicht genutzte Möglichkeiten):

„Meine Bahn kommt um die Biegung, erleichtert atme ich auf, nur um gleich wieder zurückzuschrecken. Hier würde ich nicht einsteigen! Nein, zu diesem Haufen Schläger und Monster, die aus einer geisteskranken Horrorgeschichte stammen könnten, allerdings vollkommen real sind.“

Letztlich scheint es für den Prot. keine Konsequenzen zu haben, wenn er sich wie beschrieben verhält, es fehlt mir da ein Aspekt (ein Konflikt), der die Konsequenzen seines Tun aufzeigt. Hätte er die geschilderten Möglichkeiten ergriffen - wäre er da der „Wahrheit“ näher gekommen?

Nun gut - letztlich ist es deine Entscheidung als Autor, wie deutlich du werden willst und welche Mittel du zur Darstellung einer Idee wählst.


Tschüß... Woltochinon

 

Moin Woltochinon,

Ich danke dir für deine Antwort, nun verstehe ich deinen Kritikpunkt und muss zugeben, dass ich vielleicht wirklich nicht deutlich genug auf die Konsequenzen hingewiesen habe, die die Geschichte für den Protagonisten hat. Zur Verbesserung ist hier:
1. Eine Erklärung:

Er wacht auf und bemerkt das er unrasiert ist; Seine Uhr ist irgendwann morgens stehen geblieben; Seine besten Jahre hat er hinter sich. Er sitzt also schon geraume Zeit auf seiner Wartebank. Doch erst jetzt erreicht ihn die Erkenntnis, dass er tatsächlich wartet. Erst jetzt erkennt er, dass er sein Leben mit sinnlosem Warten verplempert hat. All die Möglichkeiten waren in der Tat für ihn verborgen und erst der Traum macht es ihm klar, führt ihn zu der Erkenntnis, wenn auch zu spät (btw ist dieser Faktor des zu spät etwas bemerkens eine der hauptaussagen der geschichte)​
2. Das Versprechen das ganze etwas genauer herauszustellen ;-)

Merci beaucoup,
The_Docter

 

Hallo Docter,

freut mich, wenn du etwas mit meinem Kommentar anfangen konntest.

Es ist schon tragisch, wenn man "sein Leben mit sinnlosem Warten verplempert" hat. Wohl dem, der rechtzeitig einen warnenden Traum hat...
Ein Traum als Quelle von Erkenntnis wird in (Philo-) Geschichten oft gebraucht (ähnlich wie der Weg zum Berggipfel oder durch unwirtliche Landschaft) doch in deine Geschichte fügt sich der Traum recht zwanglos ein durch die Verbindung warten - schlafen. Und in unruhiger Umgebung mag man tatsächlich so manches, Aufrüttelndes träumen.

Tschüß... Woltochinon

 

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