Des Geschirrtuchs letzte Reise
27.10.04 – Neue Berichte über eine Verschlechterung des Gesundheitszustands des Geschirrtuchs führen zur Beunruhigung des am Spülstein stehenden Abwaschs. Aus des Geschirrtuchs Umfeld verlautet, es sei hausfräuliche Hilfe aus dem Wohnzimmer angefordert worden. Noch am Nachmittag hat die Hausfrau versichert, das Geschirrtuch leide nur an einer Grippe.
28.10.04 – Verlässliche Neuigkeiten über den Zustand des Geschirrtuchs gibt es wenige. Eine Spülbürste sagt, das Geschirrtuch leide an Leinenweberkrebs, in spüliphilen Medien ist von einer großen Laufmasche die Rede. Nicht wenige vermuten gar, das Geschirrtuch sei schon verstorben. Am Abend dann gibt die Hausfrau erstmals offiziell Auskunft: Das Geschirrtuch weise zu niedrige Baumwollfaserwerte auf. Morgen früh soll das Geschirrtuch aufs Dach gebracht und von dort per Hubschrauber zum Waschsalon geflogen werden.
29.10.04 – In einem Waschsalon in der Pariser Straße ringen Fachhausfrauen für Baumwollfaserkrankheiten um das Leben des Geschirrtuchs. Vor dem Abflug vom Dach des Wohnhauses in der Rama-Allee hat sich das Geschirrtuch noch einmal den Tellern, Tassen, Töpfen und dem Besteck gezeigt, es hat gelächelt und gewunken. Nach der gut vierminütigen Flugreise ist für aufmunternde Gesten keine Zeit und keine Kraft mehr. Die vor dem Waschsalon mit Blumensträußen und Fahnen ausharrenden Fans bekommen nur den grauen Helikopter zu sehen, der hinter einem Seitenflügel des Gebäudes landet.
30.10.04 – Die Erkrankung des Geschirrtuchs ist nach Angaben einer beratenden Waschfrau nicht lebensbedrohlich. Dies hätten die jüngsten Schonwaschgänge ergeben. Das Geschirrtuch leide auch nicht an Leinenweberkrebs, wie zeitweise spekuliert worden war.
04.11.04 – 00.17 Uhr: Der Sohn der das Geschirrtuch besitzenden Hausfrau bestätigt, dass das Geschirrtuch auf die Intensivstation verlegt wurde.
00.48 Uhr: Nebenstehende Waschmaschinen berichten, das Geschirrtuch habe in den vergangenen 24 Stunden dreimal das Bewusstsein verloren.
11.21 Uhr: Ein namentlich nicht genannter tiefer Teller erklärt, das Geschirrtuch sei ins Koma gefallen. Des Geschirrtuchs beste Löffelfreundin dementiert: »Alles Gerüchte.«
15.49 Uhr: Das Waschsalonaufsichtsamt teilt mit, die Oberwaschfrau habe das Geschirrtuch am Krankenwäschekorb besucht.
16.29 Uhr: Des Geschirrtuchs beste Löffelfreundin räumt erstmals ein, dass das Geschirrtuch in Lebensgefahr schwebt.
17.30 Uhr: Das spüliphile Fernsehen vermeldet unter Berufung auf Waschfrauenkreise in der Pariser Straße, das Geschirrtuch sei klinisch tot.
17.53 Uhr: Die ranghöchste Hausfrau des Kiezes dementiert den Tod. Des Geschirrtuchs klinischer Zustand sei aber noch komplexer geworden.
18.38 Uhr: Waschsalonmitarbeiterinnen teilen mit, sie hätten den Hirntod festgestellt.
18.53 Uhr: Das Geschirrtuch befindet sich nach Angaben des Waschfrauenverbandes in einem sehr tiefen Koma des Stadiums IV. In der weißwaschenden Terminologie kann diesem Stadium noch ein fünftes, terminales Koma mit immer geringeren Faserströmen folgen.
19.19 Uhr: Eine der Waschsalonmitarbeiterinnen erklärt, das Geschirrtuch könne nach seinem Hirntod noch wochenlang im künstlichen Baumwollschlaf gehalten werden.
05.11.04 – Des Geschirrtuchs Zustand ist unverändert. Eine behandelnde Waschfrau berichtet, das Geschirrtuch sei hirntot und werde nur noch von Waschmaschinen am Leben gehalten. Die ständige Gesandte des Hausfrauenbundes in der Pariser Straße, Persila Omo, spricht dagegen von einem Koma, aus dem das Geschirrtuch erwachen könne.
07.11.04 – Der Chef des Baumwollverarbeitungsgewerbes bestätigt, dass das Geschirrtuch lebt. Sein Gesundheitszustand sei sehr komplex, sehr ernst und stabil.
08.11.04 – Das Geschirrtuch ist noch nicht für tot erklärt, doch schon tobt eine Schlammschlacht um sein Erbe. Seine Frau, das große Badelaken, greift das am Spülstein stehende Geschirr an: »Sie wollen das Geschirrtuch lebendig begraben, die Macht übernehmen.« Die Angegriffenen empfinden die Vorwürfe als ungeheuerlich: »Das große Badelaken hat alle beleidigt«, sagt die Scheuerbürste.
09.11.04 – Nach Angaben des Waschsalons ist das Geschirrtuch in ein tieferes Koma gefallen. »Sein Zustand hat sich in der Nacht verschlechtert«, sagt Meisterin Proper. »Dies bedeutet einen wichtigen Schritt hin zu einer Entwicklung, in der eine Prognose ungewiss wird.«
10.11.04 – Der oberste Baumwollsatzleser eilt in die Pariser Straße, um nach dem Sterbenden zu sehen. Eine Stunde lang bleibt er allein mit dem Geschirrtuch und betet für das Geschirrtuch.
11.11.04 – 03.30 Uhr: »Ein großes Herz hat aufgehört zu schlagen«, sagt die Sprecherin der Geschirrtücher. Das Geschirrtuch litt zuletzt an Spülmittelblutung und Tensideversagen. Begraben werden soll das Geschirrtuch auf dem Gelände des Wohnhauses in der Rama-Allee.