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Des Traumes Schlaf
Dichte Wolken, zu einem grau-schwarzen Gebilde verschmolzen. Umspannter Himmel. Den ganzen Tag schon. Durch eine schmale Lücke dringen kräftige Sonnenstrahlen und tauchen die Straße unten in ein unwirkliches Licht.
Sekunden später bricht ein Regenschauer über die Stadt herein.
Ich mag es, wie die Tropfen gegen die Scheibe trommeln.
Doktor Laubert räuspert sich, und mein Blick kehrt in den Raum zurück.
"Herr Marten, Sie wissen, dass es ungesund ist, was sie da machen."
Ich nicke, während draußen ein erster Donner grollt. Immer noch dieses unnatürliche gelbe Licht, das dem Unwetter nicht weichen will.
"Was soll ich sonst machen", frage ich tonlos.
Doktor Laubert greift nach den Unterlagen vor sich, rückt mit der anderen Hand die Brille zurecht. Er macht das immer, wenn er nach einer Ablenkung von Fragen sucht, deren Antworten er nicht kennt.
"Wie lange haben sie gestern geschlafen?"
"Achtzehn Stunden", erwidere ich, ohne zu überlegen.
"Und, ist sie Ihnen wieder begegnet?"
"Aber das tut sie doch immer."
Der Doktor lehnt sich zurück. Ein Blitz zuckt über den Himmel. Die Wolkenlücke schließt sich, und es wird dunkel.
"Herr Marten, was erwarten Sie von dieser Frau? Ich habe Sie dies bislang nicht gefragt, aber glauben Sie möglicherweise an Vorahnungen?"
"Sie meinen, dass ich diese Frau im wahren Leben einmal treffen könnte? Nein, daran glaube ich nicht. Sie existiert nicht, das weiß ich, und doch raubt sie mir jeden Tag den Schlaf, von dem ich viel zu viel habe."
Er steht auf und zieht die Vorhänge zu. Manchmal glaube ich, Doktor Laubert verschließt sich vor allem Finsteren, um ein normaler Mensch zu sein.
Er möchte etwas sagen, aber ich komme ihm zuvor: "Wie, Herr Doktor, ist es möglich, sich in einen Traum zu verlieben?"
"In dieser Intensivität, wie bei Ihnen? Gar nicht."
"Und warum liebe ich dann diese Frau?"
Wieder räuspert er sich. Draußen ein Donner.
"Nun, deshalb sind Sie ja hier."
***
Wenn ich durch die Innenstadt schlendere, lustlos die Menschen beobachte, dann frage ich mich manchmal, ob die richtige Welt für mich überhaupt noch Bestand hat. Die meiste Zeit meines Lebens schlafe ich. Realität ist ein verzerrtes Abbild, in dem ich mich ernähre, zur Toilette gehe, den Fernseher einschalte, ganz einfach irgendwie kurzzeitig da bin. So, wie all die Schemen, die im Regen an mir vorbeihuschen. Für einen Augenblick sind sie Realität, dann Vergangenheit, Sekunden später vergessen.
Meine Träume hingegen kann ich nicht vergessen.
Man muss gelegentliche Anwesenheit präsentieren, um als real zu gelten.
Nur, wenn sie da ist, gibt das Leben für mich einen Sinn. Ich wache auf mit diesem quälenden Gefühl des Verlustes, und mein erster Gedanke ist, dass ich möglichst bald wieder einschlafen will.
Seit drei Jahren erscheint mir die Frau ohne Namen. Wir liegen uns in den Armen, sie kuschelt sich an mich. Ab und an reden wir ein paar Worte.
Es ist nicht sexuell. Es ist ... Liebe.
In letzter Zeit wird es schwerer für mich, zu akzeptieren. Dieses nervöse Kribbeln im Bauch. Bei anderen Menschen hält es nach solchen Träumen nur wenige Minuten an. In meinem Fall ist es ein ständiger Begleiter.
Wie kann ich auf das Schönste verzichten? Einschlafen kann man lernen, auch, wenn keine Müdigkeit da ist.
***
Die Sonne scheint. Es ist wohl ein Tag, der allgemeinhin als wundervoll bezeichnet wird.
Sogar Doktor Laubert ist heute bester Laune.
"Sie sollten rausgehen", sagt er. - "Sich unters Volk mischen. Neue Leute kennenlernen!"
Dass er mich längst aufgegeben hat, weiß ich ohnehin. Doch da ist etwas in seiner Stimme. Es ist so, als wenn man versucht, das Rauschen einer Schallplatte digital zu entfernen. Das Ergebnis klingt unnatürlich.
"Wissen Sie, ich bin gestern nur zwei Stunden wach gewesen."
Er wird wieder ernster. Am liebsten möchte er mir in diesem Moment von Problemen erzählen, die ein normaler Mensch nicht haben darf. Beinahe fällt ihm die Brille zu Boden, bei dem Versuch, sie in eine vermeintlich korrekte Position zu bringen.
"Herr Doktor Laubert?"
"Ja?"
"Tun Sie mir doch einen Gefallen. Schließen Sie die Vorhänge."
"Aber wieso sollte ich ..."
"Machen Sie es bitte."
"Aber warum?"
"Ich will bloß wissen, ob Sie sich dem Licht verschließen können. Vielleicht heilen wir uns dann ja gegenseitig."