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- 14.02.2005
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Des Winters weiße Verführung
Schon seit ich klein bin, habe ich ihn geliebt, lief hinaus, wenn er kam, freute mich, wenn er sich andeutete und die ersten kühlen Tage kamen. Ich weiß nicht wieso, aber seit jeher, betrachte ich den Winter, als den Schönsten aller Jahreszeiten. Er ist so anders, geht in die Extreme, verändert alles. Wie ein völliger Umschwung, der wundervolle Tage mitbringt. All die weißen Ebenen, der weiche Schnee und ach, bevor ich es noch vergesse, wie gerne bin ich doch mit meinem Bruder Schlitten gefahren, habe mit ihm Kugel auf Kugel gesetzt, ihn gejagt und mit Schneebällen beschmissen. Ich weiß noch, wie wir früher immer von dem Höchsten aller Hügel der Stadt hinab gefahren sind. Wir nannten ihn immer den Todesberg, da er so steil war, das uns schon beim bloßen Anblick mulmig wurde. Außerdem musste man aufpassen, das man gerade hinab fährt und nicht zu sehr nach rechts oder links schlenkte, denn versteckt unter den gehäuften Schneemassen lagen dicke Felsen, die dir schnell das Genick brechen konnten. Wie eine ungeahnte Falle und wir waren wohl zu jung und unbedacht, als das wir das hohe Risiko in diesen ach so lustigen Schlittenfahrten erkannt hätten. Für uns war es mehr eine Mutprobe. Jeder der sich traute, konnte sich mit Stolz als ehrenhaft bezeichnen. Wir gingen sogar soweit, das wir uns als Soldaten, ja gar als Krieger bezeichneten. Als würden wir mit hoher Brust in die Schlacht ziehen, wenn wir uns mit den Füßen vom Boden abstießen und mit waghalsiger Geschwindigkeit den Hügel hinabbretterten. Na, ja, war ja nur ein Spiel... auch wenn sich bis zum heutigen Tag nichts verändert hat.
Endlich. Ja,endlich gleiten erste Flocken in schrillen Tänzen herab. Einige kühle Windböen treiben den Schnee in geschmeidige Flugbahnen. Wie ein Walzer in den Lüften. Rythmisch,schön,einfach elegant. Sie wenden in alle Richtungen,drehen sich um ihre eigene Achse, fliegen zur einen Sekunde schnell, und zur nächsten langsam. Erst links dann rechts, erst vorwärts, dann rückwärts. Vielleicht ein Salto, vielleicht auch nicht. Genau wie das Schiff auf dem Meer, das sich dem Fluß hingibt, von jedem Strom treiben lässt,die Segel hisst und über all die Meere gleitet, bis es an sein Ziel gelangt. Vom Wind getragen, bis es ans Ufer stößt.
Die Flocken landen, stauen sich an, lagern sich; auf den Ästen der Linden, auf den grünen Wiesen, auf den roten Häuserdächern, die sich unter den weißen Massen verstecken, auf dem Asphalt der Straßen. Selbst auf meinem Haar, das sich unter dem Schnee nach außen hin glättet, als hätte ich zu viel Gel benutzt. Alles füllt sich mit Schnee. Die wenigen frei geschaufelten braunen Straßen wirken wie asphaltierte Stränge, die den weißen Teppich in Hälften spalten. Alles erhellt. Alles blüht auf, wie es so schon lange Zeiten nicht mehr blühte.
Nach zwei Stunden Fahrt halten wir an und ich werfe einen Blick durch das Autofenster. Er sieht noch immer so wie früher aus. Genau so gefährlich, genau so steil und riskant. Genau so verlockend, genau so veführerische. Jeder kleine Fels, der aus dem Schnee herausragt, ergänzt den Hügel zu seiner Ausstrahlung, seinem Leuchten, seinem mysteriösen Etwas, das mir unbeschreiblich bleibt.
Wir steigen aus, holen die Schlitten aus dem Kofferraum und fühlen uns unverändert. Als wäre alles gleich geblieben. Ein letzter Blick hinauf auf den Hügel.
Wir sind so oft hinuntergefahren. So oft, das wir es heute aus purer Nostalgie wieder tun. Zumindest sagen wir das, doch insgeheim spielen ganz andere Gründe eine Rolle. Es ist wohl der verbliebene jugendliche Funke. Das Streben nach Ehre. Sicher,wir reden hier von einer lächerlichen Schlittenfahrt, aber dennoch ist es so, das dieser Berg eine unglaubliche Wirkung auf uns hat. Er strahlt den Wagemut förmlich aus. Ja, wir sind noch wie früher und wir haben es nie verlernt. Wir packen die Schlitten, stapfen durch den Schnee, bis hinauf zur Spitze, düsen hinunter und schreien wie kleine Kinder: "Nochmal!" Immer und immer wieder. Das Fieber hat uns gepackt. Wie ein Rausch, ein Adrenalinschub.
Mein Bruder und Ich. Keine Reunion ist harmonischer als unsere und jedes Mal, wenn wir schneller fahren, lachen wir lauter, feuern uns mehr an, schlagen uns öfter auf die Schulter. Erst als der Abend den ersten Schatten auf das Land wirft, sich unsere Sicht verdunkelt und die Fahrt der pure Wahnsinn wäre, schlittere ich das letzte Mal hinab - Mein Bruder feuert mich an, brüllt mir Jubelrufe entgegen und schreit: "Gib alles!" Dann sehe ich, wie er sich neben mich auf seinen Schlitten setzt, mich noch einmal anstarrt und wartet, bis ich losfahre. Mit voller Kraft, mit vollem Mut stoße ich mich ab, lasse einen richtigen Kriegsschrei los, sodass ich meine Miene förmlich verzieht und als ich mich schon auf den ersten Metern befinde, höre ich, wie sich die Kufen seines Schlittens beginnen einen Weg durch den Schnee zu bahnen. Er ist hinter mir, hinter mir, ganz nahe hinter mir. Mein Bruder. Ich glaube schon fast, das ich seinen Atem spüre, doch ist es wohl mehr Einbildung. Ich brülle. Der Schlitten hüpft und hüpft. Er schüttelt mich durch. Von Seite zu Seite und nur schwer schaffe ich es den Schlitten in Griff zu halten. Die Fahrt kommt mir wie eine Ewigkeit vor... ein Knall, ein Hüpfen, ein Schlittern... irgendwie schaffe ich es runterzukommen und nachdem der Schlitten sich nach einige Metern abgebremst hat, steige ich lautlachend ab. "Das war was!Echt irre!Total Geil!"
Ich schüttle ungläubig den Kopf. Fasziniert von dem Tempo,von der Geschwindigkeit,von dem gewissen Adrenalin. Erst als ich begreife, das keine Antwort kommt, mache ich mir Sorgen. Stille. Ich drehe mich um... Blut, mein Bruder, er ist mit dem Kopf auf einen Stein aufgeschlagen. Tot, so tot.