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Diamant-Kollier
Ich schaue auf ein Diamant-Kollier unter einer Glasvitrine. Das Glas haben sie eingeeist – wahrscheinlich mit so einem Spray.
Soll wohl einen interessanten Effekt geben, irgendwie weihnachtlich. Glas, Diamanten und Eis. Eine Kollage der Schönheit.
Aber es verliert seine Wirkung, wenn man es öfter sieht.
Die Beretta steckt in meinem Hosenbund, hinten, und der Lauf flutscht in meine Po-Ritze. Also diesen Teil hasse ich wirklich am meisten.
Ich habe in letzter Zeit viel nachgedacht und mir ist aufgefallen, also in diesen alten Geschichten, diesen wirklich alten Geschichten, wenn dort jemand bestraft wird, dann immer durch Monotonie, immer durch Wiederholung.
Sisyphus muss den Stein nicht einmal rollen. Der Adler bei Prometheus, der macht ja keine Stippvisite. Und Tantalus hört nicht irgendwann auf, sich nach dem Wasser zu bücken und nach den Früchten zu greifen.
Das alles passiert wieder und wieder und immer wieder.
Und es heißt ja auch ewiges Fegefeuer und nicht bloß … Fegefeuer.
Durch das vereiste Glas kann ich die Verkäuferin sehen. Sie liegt auf dem Bauch vor der Theke und wimmert. Wimmert so wie manche Frauen wimmern, wenn sie Sex haben. Sieht irgendwie jüdisch aus. Lange, schwarze Haare. Gekräuselt. Irgendwie jüdisch eben.
Ich gehe um die Theke herum und betrachte ihren Hintern. Ziemlich knochig, das sieht man sogar durch den Hosenrock, und irgendwie muss ich an Goodfellas denken, also an den Film. Nicht wegen der Koks-Nutte, obwohl sie ihr ziemlich ähnlich sieht, sondern wegen der Fleischbällchen und der Nudeln und der vielen dicken Soßen.
Hinter der Schaufensterscheibe stehen drei Polizeiwagen. Eine Handvoll Polizisten hat sich dahinter verbarrikadiert. Normalerweise würde ich jetzt die Rollläden herunterlassen. Scharfschützengefahr und so weiter. Aber: Wozu?
An der Wand zwischen Eingangstür und Schaufenster lehnen meine Eltern. Es ist kein richtiges Lehnen, mehr so ein geiselmäßiges Hocken.
„Bitte, lassen Sie doch wenigstens die Frauen gehen.“ Mein Vater. Ob er damals schon so ein Supermann war, damals, als das alles wirklich passiert ist?
Ich ignoriere ihn. Das liegt am Unterbewusstsein. Wenn man schläft, dann ist das ja wie so ein Baum, also es findet ein Austausch statt, so wie bei Wurzeln. Aber wenn man nicht schläft, dann müssen die Wurzeln ja irgendwohin. Aber vielleicht bring ich da auch was durcheinander.
„Bitte, ich bleibe hier bei Ihnen. Aber lassen Sie doch wenigstens die Frauen gehen!“
Ich ziehe die Knarre aus meiner Po-Ritze, ziele auf die Kniescheibe meines Vaters und drücke zweimal ab. Natürlich habe ich wieder vergessen, die Waffe zu entsichern und es klickt nur.
Dann splittert es, als sich die Fensterscheibe in einem Kugelhagel auflöst. Na ja, eigentlich es ist kein Kugelhagel, nur zwei oder drei Patronen, die sich hinter mir in die Wand mit den Armbanduhren bohren.
Meine Mutter hebt ihren Kopf. Sie hält die Nase hoch, so dass ich in ihre Nasenlöcher schauen kann, aus denen Rotz läuft. Sie hat wirklich riesige Nasenlöcher. Es gibt ja Frauen, von denen man sagt, sie hätten Augen wie Scheinwerfer. Nun, meine Mutter hat Nasenlöcher wie Scheinwerfer. Sie verfolgen einen, man kann den Blick nicht von ihnen abwenden. Sieht schon ein wenig aus wie bei einem Schweinchen oder einer Steckdose.
Ich entsichere die Waffe mit meinem Daumen und drücke ab. Natürlich ziele ich wieder auf die Kniescheibe, denn es ist ja mein Vater.
Ich spüre den Rückstoß in meinem Handgelenk und sehe auf das Diamant-Kollier.
Es war eigentlich nur ein logischer Schritt. Eine Kette sozusagen. Fallschirmspringen, Bungee-Jumping, Abenteuerreisen, Survival-Tours. Ich steh auf den Scheiß.
Es war vor drei Tagen, oder in zwanzig Jahren.
Neckermann. Der Typ vor mir - ein Fossil. Ordentlich Hüftgold, babyblauer Anzug, korngelbe Krawatte.
„Reisen Sie zum ersten Mal?“
Ja, sage ich.
„Angst?“, fragt er und lächelt ein Schalterbeamtenlächeln.
Ich schüttle den Kopf und frage, ob es denn sicher sei. Natürlich ziemlich widersprüchlich, aber das fällt mir erst jetzt auf, nachdem ich das Gespräch tausend Mal durch mein Hirn habe laufen lasse.
Was passiere denn zum Beispiel, frage ich, wenn ich mir die Sportpalastrede anhörte und auf die Idee käme, Goebbels zu erschießen.
Er lacht und fragt: „Kennen Sie sich mit der String-Theorie aus?“
Mir fällt ein dummer Witz über Damenunterwäsche ein, aber ich schüttle nur den Kopf und sage Nein.
„Schade. Das hätte vieles leichter gemacht. Dann stellen Sie sich eben einfach vor, Sie wären ein Geist.“
Ein Geist, frage ich.
„Ein Geist“, sagt er. „Was haben Sie denn ins Auge gefasst?“
Weiß nicht, sage ich. Ob er mir nicht mal die Bestseller vorstellen könne.
„D-Day“, sagt er. „Zumindest seit wir die Religions-Sachen nicht mehr machen dürfen. Vorher alle Nazareth und jetzt die Normandie. Ich weiß gar nicht, wieso. Mir ist das viel zu laut, aber das nehmen viele. Ich empfehle ja Cleopatra. Den Selbstmord. Das ist wirklich ein sehr erhabenes Gefühl, sehr viel Klasse und auch für uns Männer nicht schlecht. Sie war ja sehr schön, vor allem die Nase, aber darum geht es ja nicht. Ich kann das schwer beschreiben, aber es ist bittersüß, wenn Sie wissen, was ich meine. Und auch die Haut, diese Eselsmilch, glauben Sie mir, so schön ist in der ganzen Geschichte der Menschheit noch nie jemand gestorben.“
Ich schüttle den Kopf.
„Was Handfesteres, ja? Wie wäre es mit Münster? Zur Zeit der Wiedertäufer. Orgien, Gewalt, menschliches Drama. Oder gleich die französische Revolution. Glauben Sie mir, Sie haben nicht gelebt, bevor Sie nicht Robespierre gesehen habe. Ganz im Vertrauen, viele sind ja enttäuscht bei so was. Hitler, Nero, Napoleon. Die machen nicht viel her, aber, glauben Sie mir, Robespierre, allein die Augen und dieser Blick.“
Ich sage, dass ich kein Französisch spreche und frage ihn, ob es nicht etwas Individuelleres gebe. Pauschalreisen seien nicht so mein Ding, sage ich.
Eurozeichen blinken in seinen Augen auf. Er knetet seine Hände, streicht über die korngelbe Krawatte und sagt: „Sehr gerne, dann bin ich aber verpflichtet, Sie darauf hinzuweisen, dass Sie in keinem Fall zu einem Ereignis reisen dürfen, bei dem eine frühere Instanz Ihrer selbst präsent gewesen ist.“
Ja, sage ich. Schon klar.
„Wirklich, das ist sehr wichtig. Die Auswirkungen wären –“
Ja, sage ich. Schon klar.
Im Nachhinein betrachtet, hätte ich mir natürlich lieber Cleopatras Näschen angesehen oder Robespierre oder diese Nummer damals, als die Russen Kennedy umgebracht haben. Aber, na ja. Die Zeit, hab ich mir überlegt, ist wie ein Gummiband. Man kann sie dehnen, aber sie will immer wieder in die Ausgangslage zurück. Dass ich so was weiß und mir so was überlegen kann, zeigt ja, dass ich besser dran bin als Sisyphus. Der wusste das ja nicht. Der dachte, er wäre der erste, dem es so geht. Und er dachte, das hätte mit den Göttern zu tun, oder so. Und nicht mit Gummibändern. Also irgendwie bin ich besser dran als Sisyphus.
Ich steige über die orgasmisch wimmernde Verkäuferin, öffne die Tür, werfe meine Waffe hinaus und gehe nach draußen, auf die Straße.
Für einen Moment sehe ich noch überraschte Augen über Polizei-Schnauzern, dann wieder: Kristall-Kollier. Und natürlich wieder die Beretta in der Po-Ritze. Wenigstens hat sie Körperwärme.
Ich weiß, was ich tun muss, damit es aufhört. Das ist ja noch was, was mich besser macht als Sisyphus.
Ich kann nichts dafür. Das ist ja Sozialisation. Wenn man in der Jugend, in der Zeit, in der man noch gar keinen Charakter hat, wenn man da die Geschichte hört, wie sich die eigenen Eltern kennen gelernt haben, dann setzen ja Mechanismen ein. Am Anfang ist man interessiert, dann gelangweilt und schließlich genervt, aber dabei gewesen wäre man irgendwie immer gern. Vor allem wenn die Geschichte was hat. Und die Erste-Treffen-Geschichte meiner Eltern gehört bei den Erste-Treffen-Geschichten weltweit sicher zu den oberen fünf Prozent.
Mein Vater ging in den Juwelierladen, um einen Hochzeitsring zu kaufen. Für eine Frau, die er nie geliebt hatte. Das betonte er immer, wenn er und meine Mutter mir die Geschichte erzählten.
Meine Mutter verbrachte damals ihre Kaffeepausen vor dem Schaufenster. Überlegte, wie sich jene Uhr an ihrem Handgelenk machen würde oder wie wohl jene Ohrringe an ihr aussähen. Rechnete nach, wie viel sie von ihrem Monatsgehalt abzwacken musste, um sich beides zu leisten. Normalerweise ging sie nicht in den Laden, sie wollte ja nichts kaufen und niemanden belästigen. Da spielt bestimmt Scham eine große Rolle, aber an diesem Tag, und sie schwor immer wieder, dass sie nicht wusste, wieso, aber an diesem Tag ging sie in ihrer Mittagspause in das Juweliergeschäft.
Dann kamen erst mein Vater und kurz danach noch ein Typ hinein. Und zog eine Beretta, also der Typ und nicht mein Vater, und na ja. Es ist wie bei Diamanten.
Normalerweise dauert es ja ewig bis aus einem Kohlestückchen ein Diamant wird, weil der Druck zu gering ist. Aber wenn man den Druck künstlich erhöht, geht es viel schneller.
Auf jeden Fall hätten sich die beiden nie kennen gelernt, wenn nicht der Typ in den Laden gekommen wäre. Und wenn sie sich nicht kennen gelernt hätten, dann wäre ich nicht gezeugt worden.
Diese ganze Gummibandgeschichte.
Ich muss mich so verhalten, dass das Band so ist, wie es sein will, sonst gäbe es mich nicht.
Also Kristall-Kollier. Also eine wimmernde Verkäuferin. Also eine Fensterscheibe mit Polizeiwagen als Panorama.
Diesmal ignoriere ich die Verkäuferin, lege die Waffe auf die Vitrine und fange an zu reden.
Hey, sage ich. Ihr beiden da, ihr müsst euch verlieben, ihr müsst miteinander schlafen. Also auch, wenn das hier vorbei ist, versprecht ihr mir das?
Dann passiert auch nichts, sage ich zum Diamant-Kollier.
Wahrscheinlich fehlt irgendwas. Ich gehe noch mal hin, spreche diesmal schneller. Füge noch hinzu, dass sie ihrem Kind nie davon erzählen dürften und dann wieder Diamant-Kollier. Gummiband eben.
Ich ziehe die Beretta aus meiner Hose, nehme sie wie einen Scheiß Hammer in die Hand und jage den Knauf in das verdammte, vereiste Glas. Schneide meine Hand an einem Splitter, höre das Schreien – oh, wenn sie nur endlich kommen würde – und wieder: Diamant-Kollier.
Als Kind hab ich einmal eine Geschichte über die Ewigkeit gehört. Irgendwo in einem Ozean gibt es einen riesigen Berg. Alle tausend Jahre fliegt ein Specht vorbei und pickt einen Krumen aus dem Berg. Und wenn der ganze Berg abgetragen ist, dann ist eine Sekunde der Ewigkeit vergangen.
Natürlich eine ziemlich schwachsinnige Geschichte, denn wie viele Sekunden hat die Ewigkeit, wie hoch ist der Berg, wie groß ist so ein Krumen und ist der beknackte Specht denn unsterblich? Aber trotzdem. Gerade die schwachsinnigen Geschichten merkt man sich ja.
Ich wiege meinen Kopf in der Halterung, die mein Nacken bildet. Wiege nach links und nach rechts. Sisyphus, höre ich mich murmeln. Dann nicke ich.
Ich steige über die Verkäuferin und baue mich vor meinen Eltern auf.
Meine Mutter hockt da in ihrem Mittwochs-Kostüm von der Stange, aus ihrer Fünf-Tage-Kollektion, die sie seit zwei Jahren trägt, weil sie Anwaltsgehilfin ist, aber auf eine schicke Ohrring/Uhr-Kombination spart. Sie hebt ihre Scheinwerfer-Nasenlöcher.
Mein Vater sitzt neben ihr und versucht, allen Mut zu sammeln, um einmal im Leben ein Held zu sein und das Richtige zu tun.
Mir ist es vorher nie aufgefallen, aber jetzt, für einen winzigen Moment, berührt der kleine Finger an der linken Hand meiner Mutter die rechte Handkante meines Vaters. Sofort zucken beide zurück. Wahrscheinlich haben sie es gar nicht bemerkt. Vielleicht ist es auch gar nicht passiert.
Ich halte mir die Beretta an die Schläfe und drücke ab. Aber natürlich hab ich wieder vergessen, die Waffe zu entsichern.
Ich schließe die Augen und mein Daumen findet den kleinen Sicherungshebel und legt ihn um.
Ich bin besser dran als Sisyphus. Ich weiß, wie es endet. So wie in der Geschichte meiner Eltern.
Ich drücke ab.
Diamant-Kollier.