Die Überlebende
Die Überlebende
Aus tiefhängenden Wolken bricht ein Unwetter hervor, welches die Welt um sie herum zu verschlingen scheint. Mit dem Regen geht eine unnatürliche Düsternis einher. Heftiges, stets lauter werdendes Donnergrollen kündet das Nahen eines Gewitters an. Blitze zucken aus den schwarzen Wolken. Starke Winde treiben das Unwetter weiter auf sie zu. Sie rennt. Ein verzweifelter Ausdruck hat sich in ihrem Gesicht eingebrannt. Ihre Augen sind panisch aufgerissen, ein leerer starrer Blick, der ins Unendliche gerichtet zu sein scheint, zieht sie voran, wie unsichtbare Hände, die sich am Faden des Lebens voranziehen.
Ein starker Gegenwind peitsch schweren Regen gegen ihren Körper. Das schwarze, enggeschnittene Shirt, die dunklen Bluejeans heften, wie eine zweite Haut an ihrem Körper. Die schwarze Kapuze des Shirts klebt über ihrem braunen, langen Haar. Der harte Kontrast des rabenschwarzen Shirts hebt die blutleere Bleiche ihres maskenhaften Gesichts noch stärker hervor. Ihre Kleidung ist durch und durch nass.
Ihre Schritte hallen nur gedämpft durch die finstere Gasse. Ihre auf den Pflastersteinen aufgerissenen, wundgelaufenen nackten Füße hinterlassen blutige Rinnsale, die vom starken Regen sofort weggewischt werden. Den körperlichen Schmerz spürt sie nicht. Sie friert nicht. Sie sieht das Gewitter nicht. Alles was sie sieht, ist das grausige Bild des Mordschauplatzes, den sie hinter sich lässt.
Sie ist allein in der Gasse. Sie weiß es. Sie ist entkommen. Ein greller Blitz schlägt mit lautem Donnerschlag ganz in ihrer Nähe ein. Der ohrenbetäubende Knall reist das Mädchen aus dem tiefen Trancezustand in den sie der Anblick des Todes gestürzt hat. Ihre Beine kommen zum Stehen. Ihr fahriger Blick schwenkt die Häuserzeile der Gasse entlang. Wo sie sich befindet weiß sie nicht. Er hat sie betäubt, in einem weißen Lieferwagen hierher gebracht. Hinter ihr liegt das verlassene Fabrikgebäude, in dem sie vor Stunden geknebelt und gefesselt in einem finsteren Kellerraum ihr Bewusstsein zurückerlangt hatte.
Vor dem Mädchen liegen weitere verlassene Gebäude. Die Fassaden sind grau, Putz ist abgeblättert, Scherben der eingeschlagenen Fenster haben ihre Fußsohlen zerschnitten und liegen vereinzelt auf dem verwachsenen Kopfsteinpflaster. Verlassene Fenster blicken abweisend auf sie hinab.
Sie spürt, wie sich die Panik wieder in ihrer Brust festsetzt und sich mit einer Schauderwelle über ihren Körper ausbreitet. Die Flutwelle der Angst raubt ihr die Kraft und mit einem verzweifelten aufstöhnen sinkt sie auf die Knie. Ihr Kopf sackt auf den Boden, ihre heiße Stirn vermag nicht die Kühle der Steine aufzunehmen. Das Blut rauscht in ihren Ohren, ihre Halsschlager pocht in rasendem Stakkato. Regen fällt auf ihren Rücken, bildet Rinnsale, die über Rücken, Nacken und den Hinterkopf in den Rinnstein hinabfließen. Salzige Tränen vermischen sich mit dem erdigen Regenwasser, welches den ganzen Weg überflutet hat. Scheinbar unendlich lange bleibt das Mädchen so zusammengekrümmt auf der nassen Erde liegen. Als sie ihren Kopf wieder anhebt, sind ihre Lippen blau, die Augen hält sie geschlossen.
Der Regen versiegt. Eine merkwürdige Stille scheint die ganze Welt erfasst zu haben. Vorsichtig öffnet sie ihre Augen und senkt den Blick auf ihre zitternden Hände. Die angeschwollenen Handgelenke sind rotblau verfärbt, von den schweren Fesseln die er ihr letzte Nacht angelegt hatte. Die Finger ihrer rechten Hand krampfen sich um den breiten Griff eines Messers. Ihre Knöchel treten weiß hervor. Während sie die Mordwaffe betrachtet presst sich ihr Atem stoßweise aus ihren Lungen. Der starke Regen hat die scharfe Klinge saubergewaschen. Doch ihr Ärmel war zu tief in ihr eigenes und in sein Blut getränkt, als dass es der Regen vollständig hätte herauslösen können. Ein schmaler Strom des Blutwassergemisches beginnt sich aus ihrem Ärmel zu lösen, gleitet lautlos, wie eine sich windende Schlange hinab über den weißen Handrücken, über das silberne Messer, bis es sich von der Klinge löst und beinahe lautlos über die Schneide auf den Boden tropft.
Sie wirft ihren Kopf in den Nacken und ein plötzlicher Lachanfall lässt ihren Körper erneut erbeben. Ihr schrilles Lachen prallt gegen die verlassenen Fassaden, dringt in die leeren Gebäude ein und wird als ohrenbetäubendes Kreischen zu ihr zurückgeworfen. Aus dem kreischenden Lachen eines Schockzustands wird ein befreiendes Lachen der Überlebenden.