Die Abrechnung
Er lockerte seine Krawatte, strich seinen Anzug glatt, atmete tief ein und dann wieder aus. Er legte seine Hand auf die Türklingel, drückte sie jedoch nicht , aus Angst vor dem, was sich dahinter befand.
Fast ein Jahr hatte er ihn jetzt schon nicht gesehen. Ein Jahr voller Einsamkeit, Trauer, Schmerz und Leid. Vor allem aber Furcht. Furcht vor ihm. Furcht vor diesem Tag, dem Tag des Wiedersehens, dem Tag der Abrechnung.
Er nahm seinen ganzen Mut zusammen und klingelte endlich.
Sein kleiner Sohn öffnete die Tür. Er blickte aus den vertrauten, runden Augen zu ihm hinauf. Er merkte förmlich, wie der Ausdruck des Sohnes sich veränderte. Von dem unschuldigen, kindlichen Lächeln, in puren Hass.
Er nahm seinen Kleinen jedoch in den Arm, drückte ihn an sich, fester denn je. Dieser fing an mit seinen Beinen zu zappeln und mit seinen kleinen Fäustchen auf ihn einzuschlagen.
“Ich hasse dich, ich hasse dich Papa! Warum bist du da? Lass mich los, geh weg! Ich hasse dich! Deinetwegen war meine Mama sehr traurig und hat ganz oft geweint. Keiner bringt meine Mama zum weinen! Ich hasse dich! Geh weg, wie du es schon einmal getan hast!”
Doch er rührte sich nicht, ließ ihn nicht los, drückte ihn nur noch fester an sich.
Immer noch schlug sein Sohn auf ihn ein, Tränen liefen ihm über die Wangen.
Er sagte nichts. Versuchte nur, ihm all die Liebe, auf die sein Kleiner die letzten Monate verzichten musste, in diesem Augenblick zu schenken.
“Wer ist da Maximilian?”, ertönte die warme Stimme seiner Frau aus der Wohnung.
Keine Antwort. Sein Sohn verstummte allmählich, man hörte nur noch ein leises schluchzen. Er vergrub sein Gesicht in der Brust seines Vaters.
“Papa ich hab dich so lieb. Du hast mir so gefehlt. Bitte verlass uns nie wieder.”
“Maximilian, Liebling, wer ist denn gekommen?”
Ihr fiel die Tasse aus der Hand und zersprang in tausend kleine Teilchen als sie ihn erblickte.
Er nahm seinen Sohn auf den Arm und umarmte stumm seine Frau.
“Es tut mir leid.”
Nadine Hassan