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Die Abwärtsspirale
Wie ein Traum sich nachts, ganz heimlich und einschürfend, erwartet und ungewollt, unkontrollierbar und ängstlich, - mörderisch mit seinen schmerzhaft schönen, unwiederbringlichen Bildern durch den Kopf hämmert, so real schien mir eben dieser Moment, in welchem ich zum hundertsten Male mich vom Leben verabschiedete.
Wissend, dass es auch dieses Mal ein Wiedersehen geben würde, doch niemand würde mich nun aufhalten können, zu verhindern imstande sein, den Ausbruch aus meinem selbsterwählten Gefängnis wieder zu versuchen, mich in einer anderen Welt von meinem stechenden, gequälten, geliebten Schmerz zu erlösen, - oder mich ihm mit aller Lust zu ergeben, mich ihm mit aller Leidenschaft hinzugeben, mich mit aller Liebe zu ihm ganz aufzugeben... Denn nichts war ich als eine tote Seele, schon zu Lebzeiten voll von Fäulnis.
Ich hatte das Leben mehr geliebt als gehasst.
Die Sonne verschwand hinter dunklen, spitzen, unregelmäßigen Bergesschatten und tauchte den angrenzenden Teil des Erdendaches in schillerndes Rot, während auf der gegenüberliegenden Seite schon die Ankunft der rettenden Nacht zu erkennen war, welche bereits vereinzelt Sterne aufblitzen ließ -– zum letzten Mal.
Das Buch entglitt meinen trockenen Händen und ich zuckte bei dessen Aufprall kurz zusammen, denn in diesem verlorenen Moment wurde mir bewusst, dass ich nicht nur das Buch hatte entgleiten lassen, dass nicht nur das Buch hart auf dem dreckigen Boden aufgeschlagen war.
Jenes Werk, mit seinen vergilbten, abgegriffenen Seiten und seiner wertvollen Aneinanderreihung (ach, wenn sie mir nur wieder als wertvoll erscheinen könnte!) einzelner, unbedeutender Wörter demonstrierte mir innerhalb eines Augenaufschlags durch den Fall und Aufprall, was ich schon seit meiner ersten Sekunde tat, was seit jeher mit mir gemacht worden war:
Jemand sah mich, interessierte sich für mich, oder auch nicht, nahm mich in seine widerwilligen Arme, oder ich selbst begab mich in diese, versuchte, in mir zu lesen, einen Kontext herzustellen, mich zu interpretieren, zu vergleichen, zu verstehen, - mich umzubringen mit zärtlichem Blick und mir wieder ein wenig von meinem Zauber zu entreißen. Und sobald derjenige mit mir fertig war - nicht selten bereits nach der ersten Seite meines kleinen Seelenbüchleins -, mich aufgegeben, zerstückelt und zerstört hatte, ließ er mich fallen, nein! warf mich zu Boden und lachte grausam schön, - oder ich entglitt ihm aus eigener Kraft, aus eigener Schwäche, bevor er mich wegwerfen konnte.
Der letzte Sonnenstrahl streifte meine kleine, unfruchtbare, verdorrte Welt, die nichts Lebendiges mehr hervorzubringen imstande war, legte sich sanft um sie als würde ein junger Mann seine unwissende, hoffende Geliebte zum letzten Abschied noch einmal bestimmt, jedoch mit unsicherem und erleichtertem Herz, umarmen, zärtlich ihr Haar streicheln, ihr trauriges, sehnsüchtiges Gesicht berühren und ihr mit beruhigender Sanftheit ins Ohr flüstern, dass er bald wieder käme... Nun war gewiss, dass dies der letzte Besuch des Lichtes sein würde.
Es war kein versöhnlicher Abschied, denn Trauer und Wehmut umschlangen mein leeres Herz und drückten so fest zusammen als müssten sie auch noch den letzten Lebenstropfen aus ihm pressen.
Ich hatte immer gedacht, ich wäre auf diesen Moment vorbereitet, schließlich hatte ich jede Minute meines Daseins nur für ihn gelebt, die Angst vor ihm mit Genuss ausgekostet, doch Wehmut erfasste mein Gemüt, ich wollte weglaufen vor dem Augenblick dieses endgültigen Abschieds vom wunderbaren Licht.
Doch begierig erwartete ich die Nacht.
Plötzlich stand sie vor mir.
„Warum bist DU hier?“
„Wer sollte denn sonst bei dir sein?“ Sie zauberte ein Lächeln hervor.
„Du warst so weit weg“, flüsterte ich.
„Ich war näher als du denkst. Du musst endlich bereit sein, deine Augen zu öffnen und die Wirklichkeit anzusehen. Alles Abwesende ist am gegenwärtigsten, nimm Glück und Schmerz als die größten aller Beispiele.“
Ich begann zu zittern, als sie auf mich zuging. Sogar die Luft schien wegen ihres Anmutes zu beben und sich vor ihr zu verneigen. Ihre Stirn war wunderschön. Sie lachte. Niemand konnte lachen wie sie. So lachen, dass es nur noch weh tat.
„Dachtest du wirklich, ich hätte dich verlassen? Dummes, kleines Kind!“ Mit ihrer weichen Hand fuhr sie sanft über mein verwelktes Gesicht. „Warum bist du HIER?“ fragte ich.
Wieder lächelte sie. Und ohne ein Wort zu sprechen hörte ich ihre furchtbare, einem Traume entkommene Stimme durch meinen Kopf kriechen: „Du stellst keine Fragen und ich erzähle keine Lügen.“
Wer war sie bloß?
Ihre Gesichtszüge verwandelten sich – in etwas noch nie Gesehenes, noch nie Dagewesenes, noch und für immer Unbekanntes. Kein Mensch war sie mehr, weder Gut noch Böse, weder Liebe noch Hass, weder Traum noch Wirklichkeit, sondern etwas Größeres und Höheres, das über allem stand. Sie erschreckte mich – er war alles. Seidig glänzende Lippen mit Tautropfenschimmer, die Haut einem Sandstrand gleich, Augen tiefer als das Meer, Bewegungen voller Anmut und Leichtigkeit, Zuneigung und Kälte.
Wäre ich stärker gewesen, hätte ich seinem Antlitz standgehalten, doch es war unmöglich, den Glanz seines Hauptes und seiner vollkommenen Schönheit zu ertragen. Ich sank nieder, in ein unendliches Nichts, von Wasser ertränkt und Sternen erfüllt, in eine Welt voll Leere, ohne Halt, ohne Sonnenschein, ohne ihn. Ein einziger Satz schrie sich aus meinen Gedanken hervor:
„Denn das Schöne ist nichts als des Schrecklichen Anfang...“ und ich wusste, dass ich diese Zeile nun in mir zu Ende gelebt hatte.
Seine Schönheit hatte mich die Unerträglichkeit gelehrt – hatte mich ohne ein Wimpernzucken umgebracht und mir meinen letzten Zauber entrissen. Ich wünschte, ich hätte für ihn genauso schön sein können, so mächtig und unentbehrlich, so begehrenswert und mörderisch, so nichts und alles...
Noch fühlte ich die Bewegungen der Luft, von seinem lebendigen Atem verursacht und mir wurde klar, dass er für ewig verloren und entglitten war, unerreichbar, zerstört von seiner eigenen Schönheit und meiner entatmenden Liebe, ertrunken in der eigenen Kälte und meinen Tränen, untergetaucht in einer Flut von Sternen...
Nun war alles verloren, ohne ihn war das letzte Lächeln, das mir das Leben geschenkt hatte, erloschen. Unvergessene Wunden gruben sich tief und tiefer in meine Seele.
Denn das Schöne war nichts als des Schrecklichen Anfang...
Ein fühlendes Herz wie meines schien zum Untergehen bestimmt. Wohl fragte es sich selbst, wofür es schlug, immer und immer wieder, ohne Atem zu schöpfen und doch denselben erst ermöglichend.
Die ewige Abwärtsspirale meines Lebens drehte sich schwindelig, fiel zuzeiten in tiefe Ohnmacht um sich weiter um alle Seligkeiten des Daseins zu winden – ohne sie jedoch jemals berühren zu können. Endlos zwirbelte sie sich den Abgrund hinunter. Jede Stufe, die ich tiefer gekommen war, wünschte ich mich noch sehnlicher hinauf – ob ich das allerdings wirklich wollte, wusste ich nicht. Ich wollte es aber ganz sicher in jenen Augenblicken, in denen ich noch tiefer zu fallen begehrte.
Vielleicht war die Ziellosigkeit der Sinn, dies ängstliche Herumirren in einer fremden Welt, unter unbekannten Gesichtern, nicht gleichgesinnten Seelen, zu einer falschen Zeit, unter allwissenden Sternen. Alles Lebendige ängstigte mich. Es erwartete etwas von mir, das ich nie zu geben, ja, nie zu verstehen verstand! Es hatte alles, was ich nie hatte.
Es lebte.
Und dennoch, ziellos war ich nicht, irgendwohin wollte ich doch, an irgendeinen Ort trug und zog es mich. An jenen vollkommenen Ort, an dem ich zu Hause würde sein können, den ich Heimat würde nennen können, wo alles Suchen, Herumirren, Verirrt- und Verwirrtsein und alle Ungewissheit ein Ende haben würde.
Ihn suchte ich, ja, ich war auf der Suche nach mir selbst, nach meiner kleinen Welt, die alle Antworten kannte und in mir unruhig schlummerte, wartend darauf, von sich selbst gefunden, zum Leben erweckt und erlebt zu werden. Sie wartete geduldig darauf, dass all ihre Schrecklichkeiten von ihr selbst überlebt werden würden...
Diese kleine schlafende Welt, die meine eigene, die ich selbst war, galt es zu finden, denn konnte bereits verloren sein, was noch nicht gefunden worden war und deshalb noch nicht gewesen sein konnte? Es galt sie – oh welch grausames Wort! – zu heilen...