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Die alte Frau am Fenster

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01.07.2007
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Die alte Frau am Fenster

Da war er. Groß und breitschultrig eilte er schnellen Schrittes die Straße entlang, den gelben Wagen hinter sich herziehend. Seine gelb-schwarze Jacke leuchtete im nebeligen Morgenlicht und als er die Briefe in den Schlitz warf und sich zu ihr umdrehte, schenkte er ihr das Lächeln.
Für dieses Lächeln stand sie jeden Morgen auf. Für dieses Lächeln zog sie sich Tag für Tag an. Dieses Lächeln gab ihr Kraft, die lange Einsamkeit des Tages zu überstehen. Sie zog ihre braune Strickjacke fester um sich, da ihr die Kühle dieses Septembertages in die Knochen fuhr und schloss mit einem Ruck das Fenster. Sofort umschloss sie die staubige Wärme ihrer kleinen Mietswohnung.
An guten Tagen schaffte sie es leicht, in die Küche zu gelangen, um sich ihre Haferflocken zu kochen. Mit Zucker. Manchmal auch mit Honig, wenn sie welchen da hatte. Aber Charlotte vergaß regelmäßig die Hälfte, wenn sie einmal die Woche für sie zum Supermarkt ging. Mit ihrem MP 3 Player in den Ohren konnte man ja auch nur die Hälfte verstehen. Kaugummikauend nahm sie den Zwanziger entgegen, ehe sie sich auf den Weg machte. Aber sonst hatte sie ja keinen. Alle gestorben, oder zu beschäftigt, um sich um eine alte Achtzigjährige zu kümmern.
Mühsam ließ sie sich auf ihren klapprigen Küchenstuhl fallen, ihre Knochen schmerzten und die Luft war knapp. Schade, das ihre Augen so schlecht waren, dass sie die Tageszeitung nicht mehr lesen konnte; ein wenig Abwechslung wäre so schön. Die Küchenuhr tickte unnatürlich laut, der Kühlschrank knackte.
Früher war alles so schön. Als die Kinder noch klein waren, sie noch brauchten. Engagiert war sie gewesen, zuerst in ihrer Ausbildung als Krankenschwester, später dann als Mutter und Hausfrau. Immer hatte sie ihr Bestes gegeben, sich für andere aufgeopfert. Und jetzt? Jetzt opferte sich niemand auf. Zumindest nicht für sie. Sie seufzte und strich gedankenverloren über ihre, mit Pigmentflecken übersäte Hand. Eine alte Hand. Aber sie wollte nicht ungerecht sein. Sie hatte ihr Leben gehabt, so wie ihre Kinder jetzt ihres hatten. So war das Leben. Kinder bekamen Kinder, gründeten ihre eigene Familie, arbeiteten hart und verbrachten ihre kostbare Freizeit schwungvoll, lebendig, voller Abenteuer. Für sie gab es keine Aufgabe mehr.
Ihr Blick fiel auf ihren uralten Gasherd. Auf die Knöpfe. Der Gedanke kam schnell und plötzlich.
Ihr Kopf fuhr herum, blieb an dem alten, vergilbten Foto hängen. Der junge Mann schaute unternehmungslustig und schelmisch in die Kamera. Vor sechzig Jahren hatte sie sich in diese blauen Augen verliebt, die sie beim Tanzen im Sturm erobert hatten.
Gustav. Gustav Schulte. Rosemarie und Gustav Schulte. Verliebt, verlobt, verheiratet. So viele Jahre waren sie glücklich gewesen, hatten zwei Kinder in die Welt gesetzt und schmiedeten abenteuerliche Pläne für die Zukunft. Nur das es für sie keine Zukunft gab.
Der Krieg kam, zerriss ihre Familie, ihr Glück, ihre Zukunft. Von einem zum anderen Tag war er weg, war ihr Papa weg. Sie hatten es nie verstanden. Konnten es bis heute nicht verstehen. Sie auch nicht. Fast war es so, als wäre die Zeit stehengeblieben.
Und die Frage, die blieb: Warum? Warum ist er gegangen, hatte sie allein gelassen? Für das Vaterland? Für die Ehre?
Hatte es sich gelohnt?
Ihre Augen füllten sich mit Tränen, ließen ihre sowieso schon hellblauen Augen noch heller erscheinen. Ihre Hand zitterte, als sie sich ein Taschentuch nahm und sie trocknete.
Noch immer lag ein langer Tag vor ihr. In zwei Stunden würde das Essen geliefert werden; anonym, steril verpackt, nach Plastik schmeckend. Dann der obligatorische Mittagsschlaf. Auf der Couch. Immer der gleiche Blick auf ihren Eichenschrank, die beigen Spitzenkissen, die buntbemalten Vasen mit den ewighaltbaren Plastikrosen.
Sie war müde. So müde.
Ihre Beine trugen sie fast automatisch zum Herd. Ihre Hände suchten die Knöpfe. Nur eine kleine Drehung, nicht schwer.
Das Surren der Türklingel brachte sie in die Realität zurück. Ihre Gedanken verwirrten sie. Es konnte niemand klingeln. Nicht um diese Zeit. Nicht jetzt. Sie wollte nicht öffnen. Doch sie ging zur Haustür. Langsam und doch ein wenig neugierig.
Vor der Tür stand eine junge Frau, vielleicht fünfundzwanzig. Ihr blonder Haarzopf wippte fröhlich, ihr Lächeln war ansteckend.
„Guten Tag, Frau Schulte. Ich habe von ihrem Hausarzt ein Rezept über zehnmal Physiotherapie bekommen. Er meinte, wir müssten sie ein wenig fitter machen, damit sie wieder besser laufen können. Ich denke wir kriegen das hin, wenn wir zweimal die Woche üben. Mein Name ist übrigens Katharina.“
Katharina Engel.

 

Hallo Hoernchen,
gefaellt mir gut, deine Geschichte. Die Einsamkeit der alten Frau ist gut beschrieben, auch das "Nicht mehr gebraucht werden" wirkt authentisch.
Ein paar Kleinigkeiten sind mir aufgefallen:
....schade, das ihre Augen so schlecht waren...- da fehlt bei das ein s
...bege Spitzenkissen- beige Spitzenkissen

Bei dem Satz : "von einem Tag zum anderen war er weg, war ihr Papa weg" , das wirkt ein bisschen verwirrend, du sprichst ja die ganze Zeit von der alten Frau, demzufolge klingt es so als sei "ihr Papa" weg. Du muesstest die Kinder noch mal deutlicher vorher erwaehnen.
Das Ende ist ganz nett, obwohl ich perverserweise sagen muss, es haette mir fast besser gefallen, wenn es kein gutes Ende gefunden haette. So wirkt es ein bisschen wie ein Maerchen, und nicht besonders "echt".
War gut zu lesen,
gruss, sammamsih

 

Hallo sammamish,

vielen Dank für Deine Kritik und schön, dass Dir meine Geschichte gefallen hat.
Habe bereits die Fehler verbessert.
Nochmal kurz zum "märchenhaften Ende". Es ist natürlich ok,wenn Du Dir ein anderes Ende gewünscht hättest, aber unrealistlisch und weit hergeholt ist das Ende nicht. Viele alte Menschen bekommen von ihrer Physiotherapeutin den einzigen Besuch und der ist ihnen verdammt wichtig. Ich wollte das einfach mal in das Bewußtsein der Menschen zurückbringen, damit wir diese Menschen nicht vergessen.

Gruß,
hörnchen.:)

 

Formal zwar ganz gut die Geschichte, aber nicht so das, was sie in meinen Augen rüberbringt: Das Leben im Alter sei grau und dröge, geprägt von Nostalgie und Einsamkeit. Wenig originell (den Anfang ausgenommen), ja sehr klischeehaft, fast als hätte dich eine Altersheim-Dokusoap eines Privatsenders zu dieser Geschichte inspiriert.

Beim abschließenden Absatz dachte ich erst an eine Betrügerin, die sie ausrauben will, denn eigentlich sollte sie die Verordnung von ihrem Hausarzt erfahren. Sehr unglaubwürdig.

Die Geschichte hat mir nicht gefallen. Der Anfang verhieß eine spannendere, originellere Geschichte. Und nein, ich meine jetzt nicht einen "Affäre mit dem Briefträger"-Plot.


-- floritiv.

 

Hallo floritiv,

erst einmal danke, dass Du meine Geschichte gelesen und kommentiert hast.
Denke, dass man natürlich nicht jeden Geschmack treffen kann, aber das macht ja nichts. So ist das eben.
Habe mir auf jeden Fall Mühe gegeben und möchte nur eines zu meiner Verteidigung sagen: so, wie ich die Situation der Frau geschildert habe, ist sie sehr realistisch und überhaupt nicht klischeehaft. Es ist halt einfach so und sieht in tausend Wohnungen so aus. Ich bin nämlich selber Physiotherapeutin und habe diese Situation selbst genug erlebt. Außerdem habe ich oft genug das Rezept von einer Angehörigen, Pflegeperson, Betreuerin oder einmal sogar vom Arzt selber bekommen. Stimmt also nicht, dass das nicht stimmt.

Trotzdem danke,
Gruß, hörnchen:)

 

1. Realität (Alltag) und Klischee ist kein Widerspruch. Ganz im Gegenteil, nichts ist klischeehafter als der schnöde Alltag. Somit hätte ich die Bemerkung vielleicht gar nicht gemacht, stünde deine Geschichte in der entsprechenden Rubrik.

2. Von Stimmen oder nicht Nichtstimmen habe ich nicht gesprochen, sondern vom Sollte und von Glaubwürdigkeit. Und um unnormale Praktiken wie diese glaubwürdig machen zu lernen bist du ja hier, oder?


-- floritiv.

 
Zuletzt bearbeitet:

Hi hoernchen!

In einem Punkt muss ich - floritiv - recht geben. Die Geschichte ist nicht besonders originell und spannend. Aber im gegensatz zu ihm empfinde ich das, im Zusammenhang mit diesem Text, überhaupt nicht negativ, sondern im Gegenteil, sogar passender. Meines Erachterns würde es in keinsterweiße der Thematik gerecht, wenn du eine spannende und aufreißendere Story daraus zu machen, schließlich fühlt sich die Prota auch von der Welt verlassen und gelangweilt. Durch diesen recht erreignislosen Text, kann man sich besser in sie hineinversetzen und alles wirkt authentischer. Und das deine KG klischeehaft ist stimmt, aber einfach auch bittere Realität. Das weiß ich, selbst wenn ich noch nie in direktem Kontakt zu einem solchen bemitleidenswerten Menschen gekommen bin. (Meine beiden Omas sind zum guten Glück noch voll aktiv. Eine arbeitet sogar noch im dörflichen Altersheim, als freiwillige Helferin :) )
Das mir die Geschichte ohne persönliche Erfahrung in diesem Bereich so nahe gegangen ist finde ich bemerkenswert.

Zum Schluß noch nervige Details die mir aufgefallen sind:

Sie hatte ihr Leben gehabt, so wie ihre Kinder jetzt ihr Leben hatten. So war das Leben. Kinder bekamen Kinder, lebten ihr eigenes Leben,
für meinem Geschmack zu viel leben in diesem Absatz, wenn du verstehst was ich meine ;) Vllt: Sie hatte ihr Leben gehabt, so wie ihre Kinder jetzt ihr Leben hatten. So war es nun mal. Kinder bekamen Kinder und gründeten ihre eigene Familie,
OK, das ist zugegeben auch nicht der Erde letzte Weisheit :D

Ich habe von ihrem Hausarzt ein Rezept über zehnmal Physiotherapie für sie bekommen.
"Ihrem" und "Sie". Weiters kommt es mir in der Tat komisch vor, dass der Arzt einen Physiotherapiezyklus verschreibt, ohne die Betreffende zu erst zu informieren. Aber ich halte mich aus dieser Diskussion raus, schließlich komme ich aus Italien und es heißt ja: "Andere Länder, andere Gesetze" ;).

Ich muss dir gestehen, dass du eines meiner ersten Versuchskaninchen in Sachen Kritikschreiben bist :D Also bitte drücke alle Hühneraugen zu, falls ich nur blödsinn dahergeschrieben habe

Wie dem auch sei,
Es grüßt herzlich
Mister Moritz

 

Hallo Mister,

danke schön, habe mich sehr über Deine Kritik gefreut! Und schön, dass sie Dir gefallen hat. Okay, okay, das mit dem "Kliescheehaft" habe ich jetzt verstanden. Sie ist es und ich kann damit leben.;)
Die anderen Kritikpunkte waren ebenfalls gerechtfertigt; werde sie ändern.
Ich möchte das Ganze zwar nicht überstrapazieren und es ist eigentlich auch nicht wichtig, aber es ist gängige Praxis, dass quasi manchemal über den Kopf der Patienten hinweg entschieden wird. Das ist natürlich nicht immer so, aber wenn keine Angehörigen da sind, bestimmt der Hausarzt über die Behandlung und informiert die Patienten wirklich nicht immer. Aber wie gesagt, ich will darauf auch nicht herumreiten. Nur zur Info.

Danke und Gruß,
hörnchen

 

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