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Die alte Frau am Fenster
Da war er. Groß und breitschultrig eilte er schnellen Schrittes die Straße entlang, den gelben Wagen hinter sich herziehend. Seine gelb-schwarze Jacke leuchtete im nebeligen Morgenlicht und als er die Briefe in den Schlitz warf und sich zu ihr umdrehte, schenkte er ihr das Lächeln.
Für dieses Lächeln stand sie jeden Morgen auf. Für dieses Lächeln zog sie sich Tag für Tag an. Dieses Lächeln gab ihr Kraft, die lange Einsamkeit des Tages zu überstehen. Sie zog ihre braune Strickjacke fester um sich, da ihr die Kühle dieses Septembertages in die Knochen fuhr und schloss mit einem Ruck das Fenster. Sofort umschloss sie die staubige Wärme ihrer kleinen Mietswohnung.
An guten Tagen schaffte sie es leicht, in die Küche zu gelangen, um sich ihre Haferflocken zu kochen. Mit Zucker. Manchmal auch mit Honig, wenn sie welchen da hatte. Aber Charlotte vergaß regelmäßig die Hälfte, wenn sie einmal die Woche für sie zum Supermarkt ging. Mit ihrem MP 3 Player in den Ohren konnte man ja auch nur die Hälfte verstehen. Kaugummikauend nahm sie den Zwanziger entgegen, ehe sie sich auf den Weg machte. Aber sonst hatte sie ja keinen. Alle gestorben, oder zu beschäftigt, um sich um eine alte Achtzigjährige zu kümmern.
Mühsam ließ sie sich auf ihren klapprigen Küchenstuhl fallen, ihre Knochen schmerzten und die Luft war knapp. Schade, das ihre Augen so schlecht waren, dass sie die Tageszeitung nicht mehr lesen konnte; ein wenig Abwechslung wäre so schön. Die Küchenuhr tickte unnatürlich laut, der Kühlschrank knackte.
Früher war alles so schön. Als die Kinder noch klein waren, sie noch brauchten. Engagiert war sie gewesen, zuerst in ihrer Ausbildung als Krankenschwester, später dann als Mutter und Hausfrau. Immer hatte sie ihr Bestes gegeben, sich für andere aufgeopfert. Und jetzt? Jetzt opferte sich niemand auf. Zumindest nicht für sie. Sie seufzte und strich gedankenverloren über ihre, mit Pigmentflecken übersäte Hand. Eine alte Hand. Aber sie wollte nicht ungerecht sein. Sie hatte ihr Leben gehabt, so wie ihre Kinder jetzt ihres hatten. So war das Leben. Kinder bekamen Kinder, gründeten ihre eigene Familie, arbeiteten hart und verbrachten ihre kostbare Freizeit schwungvoll, lebendig, voller Abenteuer. Für sie gab es keine Aufgabe mehr.
Ihr Blick fiel auf ihren uralten Gasherd. Auf die Knöpfe. Der Gedanke kam schnell und plötzlich.
Ihr Kopf fuhr herum, blieb an dem alten, vergilbten Foto hängen. Der junge Mann schaute unternehmungslustig und schelmisch in die Kamera. Vor sechzig Jahren hatte sie sich in diese blauen Augen verliebt, die sie beim Tanzen im Sturm erobert hatten.
Gustav. Gustav Schulte. Rosemarie und Gustav Schulte. Verliebt, verlobt, verheiratet. So viele Jahre waren sie glücklich gewesen, hatten zwei Kinder in die Welt gesetzt und schmiedeten abenteuerliche Pläne für die Zukunft. Nur das es für sie keine Zukunft gab.
Der Krieg kam, zerriss ihre Familie, ihr Glück, ihre Zukunft. Von einem zum anderen Tag war er weg, war ihr Papa weg. Sie hatten es nie verstanden. Konnten es bis heute nicht verstehen. Sie auch nicht. Fast war es so, als wäre die Zeit stehengeblieben.
Und die Frage, die blieb: Warum? Warum ist er gegangen, hatte sie allein gelassen? Für das Vaterland? Für die Ehre?
Hatte es sich gelohnt?
Ihre Augen füllten sich mit Tränen, ließen ihre sowieso schon hellblauen Augen noch heller erscheinen. Ihre Hand zitterte, als sie sich ein Taschentuch nahm und sie trocknete.
Noch immer lag ein langer Tag vor ihr. In zwei Stunden würde das Essen geliefert werden; anonym, steril verpackt, nach Plastik schmeckend. Dann der obligatorische Mittagsschlaf. Auf der Couch. Immer der gleiche Blick auf ihren Eichenschrank, die beigen Spitzenkissen, die buntbemalten Vasen mit den ewighaltbaren Plastikrosen.
Sie war müde. So müde.
Ihre Beine trugen sie fast automatisch zum Herd. Ihre Hände suchten die Knöpfe. Nur eine kleine Drehung, nicht schwer.
Das Surren der Türklingel brachte sie in die Realität zurück. Ihre Gedanken verwirrten sie. Es konnte niemand klingeln. Nicht um diese Zeit. Nicht jetzt. Sie wollte nicht öffnen. Doch sie ging zur Haustür. Langsam und doch ein wenig neugierig.
Vor der Tür stand eine junge Frau, vielleicht fünfundzwanzig. Ihr blonder Haarzopf wippte fröhlich, ihr Lächeln war ansteckend.
„Guten Tag, Frau Schulte. Ich habe von ihrem Hausarzt ein Rezept über zehnmal Physiotherapie bekommen. Er meinte, wir müssten sie ein wenig fitter machen, damit sie wieder besser laufen können. Ich denke wir kriegen das hin, wenn wir zweimal die Woche üben. Mein Name ist übrigens Katharina.“
Katharina Engel.