Die alte Frau
Die alte Frau
2006
Die alte Frau braucht sehr lange, um ihren Geldbeutel aus ihrer Handtasche hervorzuholen und einen Euro heraus zu kramen. Sie braucht noch länger, als es der Kaffeeautomat des winzigen Stehcafes namens „Coffy“ schon braucht, um den Kaffee langsam durchlaufen zu lassen. Ich lächelte die „Coffy“-Verkäuferin an, um ihr zu deuten, dass ich Zeit und absolut nichts gegen eine Rentnerin habe, die vor mir an der kleinen Theke steht und etwas länger braucht. Ich wechsle das Bein und schaue auf die große Bahnhofsuhr nur einige Meter von mir entfernt. Wie jeden Morgen hatte ich knapp eine ganze Stunde Wartezeit zwischen den beiden Zügen, die mich jeden Morgen zur Schule und Nachmittags wieder Heim brachten. Ein Wink des Schicksals wollte, dass ich zwecks einiger Minuten, vier um genau zu sein, einen Zug eher nehmen musste, um einen Anschluss zu bekommen, dem ich nicht jeden Morgen hinterherhetzen musste, um ihn dann doch größtenteils zu verpassen. So hatte ich immerhin Zeit, vor Klausuren noch einmal zu lernen oder aber in der Buchhandlung direkt gegenüber des „Coffys“ meinen Platz als Stammgast einzunehmen und ungehindert zu schmökern. Man sollte auch das Schlimmste im Leben positiv sehen und zumindest versuche ich dies seit geraumer Zeit tatsächlich.
Die alte Frau vor mir hat bezahlt, macht samt Handtasche und ihrem ziehbaren Reisekoffer, den sie dabei hat, einige Schritte nach links und häuft dort Milch und Zucker in ihren Kaffeebecher, während ich meinen morgendlichen Kaffee samt dem Aschenbecher bestelle und die Verkäuferin des „Coffys“, obwohl sie mich nun schon seit Monaten kennt und auf jeden Fall auch wiedererkennt, mir sämtliche Höflichkeitsfloskeln um die Ohren wirft und wir uns gegenseitig mit all dem Charme, den wir haben, im Lächeln überbieten scheinen zu wollen. Ich mag die kleine, etwas molliger geratene Frau mit ihrem „Coffy“-Hütchen und ihrer geduldigen, freundlichen Höflichkeit und bin der festen Überzeugung, sie irgendwann einmal mindestens mit dem Nachnamen und dem Gruß „Hey!“ anreden zu können.
Noch bevor ich meinen Kaffe entgegennehme, ist die alte Frau vor mir fertig, schnappt sich Handtasche, Reisekoffer und Kaffee und steuert auf die nur wenige Meter entfernten zwei Plastiktische, mit jeweils vier Plastikstühlen in der Mitte des Ganges vom Bahnhof, zu. In dem Moment, in dem mir in all meinen Gedanken, die ich denke, auffällt, dass sie ihre Plastikabdeckung für den Kaffee nicht mitgenommen hat, stolpert sie über irgendetwas und aus den Augenwinkeln kann ich beobachten, dass eindeutig mehr als die Hälfte aus ihrem Kaffeebecher hinausschwappt.
Gleichzeitig schwappt eine Welle von Mitgefühl über mich hinweg. Vielleicht habe ich zu viel Herz; vielleicht weiß ich, wie ärgerlich es ist, ausgerechnet Kaffee zu verschütten... wer weiß, vielleicht mag ich einfach nur ältere Damen, die mich ihres Alters wegen an meine Oma erinnern, die seit drei Jahren nicht mehr lebt. Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass ich, als ich endlich meinen Kaffee entgegennehme, einen Weiteren bestelle.
Der Anblick von einsamen Rentnern stimmt mich immer etwas traurig.
Meiner Oma wegen; der Tatsache wegen, dass diese Frau vielleicht ihre Liebes des Lebens nicht mehr an ihrer Seite hat und Anfang Dezember sehr früh am Morgen allein durch fremde Bahnhöfe läuft, bepackt und dann auch noch Kaffee verschüttend... ich kann es nicht erklären. Ich habe Mitleid... mein Herz ‚öffnet’ sich sozusagen und am liebsten würde ich zu der Rentnerin hinlaufen, sie umarmen und fragen, ob ich ihr den Reisekoffer irgendwohin tragen kann. Meinetwegen auch bis ans Ende der Welt.
Aber vielleicht sollte man es nicht übertreiben.
Ich nehme den zweiten Kaffee entgegen und versuche, die Milch und den Zucker so abzuschätzen, wie ihn die alte Frau in Ihren hineingeschüttet hat. Mit beiden Kaffeebechern laufe ich so langsam wie möglich, um auch keinen Tropfen zu verschütten, hinüber zu dem kleinen Plastiktisch, an dem sie alleine sitzt. Die Handtasche liegt auf ihrem Schoß und den Koffer hat sie zwischen ihre Beine geklemmt. Als ich ihr den Kaffee neben Den stelle, der eigentlich keine drei Schlucke mehr beinhaltet, weiß ich eigentlich gar nicht, was ich ihr dazu sagen soll. ‚Auf Kosten des Hauses’ vielleicht?
Ich lächle sie zögernd an.
Und als sie genauso zögernd zurücklächelt, wird mein eigenes Lächeln sicherer.
„Für Sie.“
Ich stelle meinen Kaffee neben ihre mittlerweile zwei Becher ab, lasse meinen Rucksack fallen und laufe kurz zurück, um meinen Aschenbecher zu holen, ehe ich mich neben ihr niederlasse und beschließe, zu schweigen, da ich nicht zu aufdringlich wirken möchte. Ich genieße einfach nur die Tatsache, etwas Gutes getan zu haben und freue mich. Den Grund dafür kann ich nicht einmal genau sagen.
Sie trinkt ihren Kaffee aus und widmet sich dann meinem Geschenktem zu. Sie lächelt wieder und ich lächle zurück.
Lächle und lege fest, dass dieser Montag der schönste seit Langem ist.
2046
Ich brauche sehr lange, um meinen Geldbeutel aus meiner Handtasche hervorzuholen und einen Euro heraus zu kramen.. Ich brauche noch länger, als es der Kaffeeautomat des winzigen Stehcafes namens „KaffeeIn“ schon braucht, um den Kaffee langsam durchlaufen zu lassen. Ich lächle die „KaffeeIn“-Verkäuferin von unten hin kurz über meine Brille hinweg an, um mich zu entschuldigen, und hoffe, dass ich den Betrieb nicht ganz so arg aufhalte. Es ist mir peinlich, dass ich so lange brauche, natürlich, aber wie soll ich es sonst tun? Als junge Frau ist mir nie aufgefallen, wie klein und umständlich vor allem das Kleingeld mit dem Alter wird und auch, wie schwerer es von Jahr zu Jahr wird, die Zahlen darauf zu erkennen. Eigentlich sollte man mittlerweile allein durch Fingerabdruck oder gar Augenscan zahlen können, so wie es Anfangs des Jahrhunderts vorhergesehen war, aber noch immer hinkte die Technik stark hinterher. Sehr zum Leidwesen für Rentner wie mich.
Als ich endlich bezahlt habe und den Platz zusammen mit meiner Reisetasche räume, häufe ich mir am Ende der Theke Zucker und Milch in den Kaffee, soviel, dass ich mich für all die schwarze Brühe in meinen mittleren Jahren wahrscheinlich schon längst entschädigt habe. Hinter mir rückt sofort ein junges Ding nach und ich muss mich zusammenreißen, nicht hinüberzuschauen. Ich will nicht, dass sie sich über mich ärgert. Es reicht, wenn ich das für sie tue.
Ich überlege kurz, ob ich den weißen Plastikdeckel für den Pappbecher mitnehmen soll, entscheide dann aber, dies nicht zu tun. Das kurze Stück bis hinüber zum Tisch, der genau in der Mitte des breiten Bahnhofsgang steht, werde ich auch so schaffen. Ich straffe die viel zu große Handtasche über meiner Schulter, bücke mich zu meiner Reisetasche hinunter und nehme diese mit der gleichen Hand auf. Mit der anderen greife ich nach meinem Kaffee und mache mich auf den Weg Richtung Tisch. Nach nur wenigen Schritten stolpere ich – ich bin mittlerweile knapp über die Sechzig und habe es mein ganzes Leben noch nicht einmal geschafft, nicht tollpatschig zu sein! – und fühle mich an eine Szene zurückerinnert, die ich vor rund vierzig Jahren erlebt habe. Damals war noch jung, knapp über Zwanzig, und habe an genau solch einem kleinem Bahnhofscafe gestanden und zugesehen, wie vor mir eine alte Dame zum ersten sehr lange gebraucht hat, um fertig zu werden, und zum zweiten den Großteil ihres Kaffees danach auch noch verschüttet hatte. Damals hatte ich Mitleid – und habe dieser alten Frau einen neuen Kaffee spendiert.
Ich linse in meinen Kaffee und sehe, dass ich tatsächlich fast die Hälfte meines Kaffees verschüttet habe. Ich seufzte. So etwas kann aber auch nur alten, tollpatschigen Frauen passieren.
Ich lege die letzten Schritte zum noch immer freien Tisch zurück und lasse mich erleichtert darauf nieder. Ich glaube, ein halber Kaffee ist besser als gar keiner, und wenn ich Glück habe, hat mich Niemand dabei beobachtet.
Ich seufze erneut. Eigentlich sollte ich in meinem Alter gar keine mehr all zu langen Reisen unternehmen. Vor allem nicht in diesen frühen Stunden, allein und mit Wartezeiten von knapp einer Stunde. Ich bin auf dem Weg zu meiner Schwiegertochter. Allein. Vor etwa einem Jahr ist mein Mann gestorben und seitdem pendle ich zwischen dem betreutem Wohnen in meiner alten Heimatstadt, meiner Schwiegertochter und einem gnädigem Enkel hin und her. Letzterem werde ich wohl nicht mehr all zu oft sehen und auch meine Schwiegertochter wird irgendwann keine Lust mehr auf ihre Schwiegermutter haben – mein Sohn ist nämlich ebenso nicht mehr am Leben. Er kam vor wiederum knapp fünf Jahren bei einem Unfall ums Leben und seitdem besuche ich meine Schwiegertochter zwei bis vier Mal im Jahr für einige Wochen. Aber es wird die Zeit kommen, in der auch meine Schwiegertochter, die sie ja eigentlich gar nicht mehr ist, einen neuen Mann an ihrer Seite hat.
Manchmal würde ich mich gern einfach hinlegen und sterben.
Das junge Ding, ebenfalls mit einem Pappbecher in der Hand, ist nun selbst fertig und wendet sich vom „KaffeeIn“ weg. Sie steuert ebenso wie ich auf die Tische zu und als sie sieht, dass der andere Tisch voll besetzt ist, zieht sie einen Flunsch, als sie daraus schließt, dass sie sich nur noch an meinen Tisch setzen kann.
Ich lächle sie zögernd an.
Doch sie lächelt nicht zurück. Angewidert wirft sie einen Blick nach hinten und ich weiß sofort, dass sie damit meinen verschütteten Kaffee meint. Sie setzt sich mir gegenüber an den Tisch, knallt den Aschenbecher, den sie sich mitgebracht hat, in die Mitte und holt demonstrativ ihre Zigaretten sowieso eine Zeitschrift hervor.
Ich greife nach meinem Kaffee. Zum Lächeln ist mir nun nicht mehr zumute. Es ist traurig, wie stark sich die Generation, zu der ich vor vierzig Jahren noch gehört habe, verändert hat. Der Respekt vor älteren Leuten sinkt. Etwas, was ich nie nachvollziehen konnte. Etwas, was die Rentner vor vierzig Jahren wahrscheinlich auch schon nicht nachvollziehen konnten.
Ich seufze und lege fest, dass dieser Montag der Belastendste seit Langem ist.
Außerdem lege ich fest, dass ich mit dem Taxi zurückfahre, egal, wie viel ich dafür werde blechen müssen, und das dies hier meine letzte Reise sein wird, sobald ich bei meiner Schwiegertochter angekommen bin und mich am Ende von ihr verabschiedet habe.
Ich glaube, ich werde sie vermissen.
13.-29. Dezember 2006
© Demex