Mitglied
- Beitritt
- 04.12.2007
- Beiträge
- 7
Die Alte Frau
Viel Zeit, blieb der alten Frau nicht mehr. Sie wusste es instinktiv. Sie hatte es gespürt, doch es machte ihr keine Angst. Draußen wurde es allmählich dunkel und sie hatte trotz der Kälte das Fenster offen. Von ihrem Bett aus, sah sie in den Nachthimmel und dachte nach. Sie wusste, dass dies ihre letzte Nacht war und sie war froh, in dieser Nacht nicht alleine zu sein. Er schien es regelrecht zu spüren, ebenso wie sie, denn er hatte sich zu ihr gelegt.
Er war immer bei ihr gewesen. Fast sein ganzes Leben hatte er mit ihr verbracht und er war ihr in dieser Zeit immer treu gewesen. Er spendete ihr Trost, wenn es ihr nicht gut ging. Er konnte ihr stundenlang zuhören, auch wenn sie ihm immer und immer wieder die gleichen Geschichten erzählte und sah sie dabei mit interessierten und wachen Augen an, nicht so wie manch Anderer, der nach ein paar Minuten gelangweilt weghörte. Er strahlte eine innere Ruhe aus, die sie an ihm stets bewundert hatte. Natürlich gab es zwischen ihnen nicht nur glückliche Momente, aber sie konnte ihm nie lange böse sein. Seine charmante und freche Art hatte sie oft zum Lachen gebracht. Er war der wichtigste Teil ihres Lebens.
Die alte Frau drehte ihren Kopf zur Seite und merkte, dass er sie beobachtete. Seine Augen zeigten keinerlei Trauer, nur offene Zuneigung und Liebe und dafür war sie ihm dankbar. Er hatte graue Haare. Aber das war kein Wunder, denn er war auch alt, genau wie sie. Ein schwacher Schmerz durchfuhr ihre Brust, als ihr klar wurde, dass sie ihn alleine zurückließ. Er würde sie überleben. Ganz alleine würde er dann sein, wenn sie nicht mehr war.
´Er hatte sie früher auch oft alleine gelassen`, dachte sie in einem Anflug von Trotz.
Je älter er geworden war, desto öfter hatte er tagsüber das Haus verlassen. Sie ahnte, dass er irgendwo spazieren ging um auch mal für sich zu sein, doch er sagte ihr nie wohin er ging. Aber jedes Mal, kam er noch vor dem Abendessen wieder heim. Gewiss, er aß nicht mehr so viel wie früher, aber er war eben alt, genauso wie sie. Doch in letzter Zeit, war er sehr viel bei ihr gewesen. Sie hatten zusammen ferngesehen, gegessen und schliefen in den Nächten an einander gekuschelt ein. Er hatte es schon eher gewusst als sie, wurde ihr gerade klar. Er wollte die letzten Tage noch einmal intensiv mit ihr verbringen.
Und nun lag er neben ihr und verbrachte die letzten Stunden mit ihr. Sie hörte seinen leisen Atem und dankte ihm noch einmal dafür, dass er ihr so eine glückliche Zeit beschert hatte. Sie wusste, dass sie auf ein rundum erfülltes Leben zurückblicken konnte und fing ihre schönsten Erinnerungen noch einmal in Gedanken ein.
Als ihre Augenlider langsam schwer wurden, stand der Mond schon hell am Himmel. Mit sichtlicher Anstrengung, lehnte sie sich zu ihm und gab ihm einen letzten Kuss auf die Wange, in den sie noch einmal all ihre Liebe und Zuneigung hineinlegte. Der Berührung noch nachspürend, schloss sie endgültig die Augen und schlief ein. Sie spürte noch wie er sich an sie kuschelte und lächelte unbewusst.
Er lauschte ihren leisen, langsamen Atemzügen noch einige Zeit lang. Als diese verstummt waren wusste er, dass sie gegangen war.
Er vergoß keine Träne, sondern blieb noch einige Minuten mit geschlossenen Augen bei ihr liegen. Dann erhob er sich und sprang leichtfüßig vom Bett. Als er vor dem offenen Fenster saß, drangen die Geräusche der Nacht auf ihn ein. Er bedachte die alte Frau mit einem letzten Blick, bevor er sich aufmachte um seine letzten Tage frei und allein draußen in der Welt zu verbringen. So frei, wie eine Katze nur sein konnte.