- Anmerkungen zum Text
3.076 Wörter
Die Amnesie des Paul H.
Vom Urlaubstag bemerkt Paul Heffner nichts. Sein Geländewagen folgt dem Verlauf einer kargen Landstraße. An seinem Ohr hält er ein altmodisches Klapphandy.
Missmutig kommentiert er: „Wir reden von nem kaputten Kühlschrank und nicht von nem Wasserrohrbruch.“
Kenny Jones, sein Angestellter, hält ihn hin. Paul betont die vermeintliche Nichtigkeit des Problems. Die Mitarbeiter sollen den Kühlschrank leeren und den Kram im Verkaufsbereich unterbringen. Kenny fragt, ob es die Kunden nicht zum Stehlen verführe. Es platzt aus Paul heraus.
„Jungs! Ich komme gerade vom Arzt. Ihr kriegt das hin.“
Die eintretende Stille dominiert ein Weilchen. Kenny fragt, ob der Arztbesuch wegen jenem Problem gewesen sei. Paul hadert damit, zu antworten. Schließlich bestätigt er die Vermutung. Auf die Nachfrage, was man gefunden habe, antwortet er mit ‚Nichts‘.
„Schrecklich, das zu hören!“, erwidert Kenny.
„So ist es eben. Wir sehen uns morgen.“
Seufzend klappt Paul das Handy zu und wirft es ins Handschuhfach. Er schaltet rasch das Radio ein. Kurz lüftet er seine Truckermütze und kratzt sich am Kopf mit den strengen Geheimratsecken. Im Rückspiegel erblickt er dunkle Augenringe und Krähenfüße. Statt normaler Autos begegnen ihm mehr und mehr Laster mit Mais, Rüben und Getreide. Es geht nur geradeaus. Von weitem erkennt er zahlreiche Pferde und Schweine. Ein Schild macht auf eine Sehenswürdigkeit, etwa 80 Meilen entfernt, aufmerksam. Das nächste Schild ist Werbung für den Diner, etwa zehn Minuten in umgekehrter Richtung. Dahinter beginnt das Land der Acres und Hektare.
Paul findet bald etwas Abwechslung. Vor einer Abzweigung hält er an und wägt auf der Lippe beißend die Richtung ab. Hinter ihm sind keine Autos. Er entscheidet sich für links und folgt einem Weg mit mehreren Ausfahrten. Das Ödland, auf das er danach trifft, ist nicht ausgeschildert. Wieder beißt er sich auf den Lippen. Hin und wieder stoppt er, schaut auf leere Tiergehege. Jedes Mal ist er in Gedanken. Plötzlich macht er Halt. Da steht ein Mann. Im großen Gehege steht eine einsame Seele und er ist schwarz. Seine Haare sind lockig, fast in der Länge eines prächtigen Afros, an den Seiten jedoch etwas kürzer. Die Kleidung wirkt aus der Zeit gefallen, eine Art Hippie-Look bestehend aus einer lila-schwarzen Weste und Schlaghose. Paul beobachtet, was er macht. Nichts, stellt er schnell fest. Fasziniert schaut er durch die Fensterscheibe. Der Andere entdeckt den Wagen und kommt wahnsinnig langsam auf ihn zu. Das Gesicht wirkt etwas alt und ausgemergelt. Am Zaun macht er halt und starrt zu Paul hinüber. Dieser starrt zurück, bis er es satt hat und aussteigt. Aus der Entfernung fragt Paul, was der Mann dort mache. Es folgt Erklärungsnot. Paul fragt nach einem Namen. Der Fremde fasst sich auf den Hinterkopf.
„Eigentlich Lewis Carpenter… Sicher weiß ich es nicht“, sagt er etwas langsam.
Paul tritt einige Schritte näher und ruft: „Warum?“
Der andere Mann fasst sich erneut an den Kopf. Beinah weinerlich blickt er zum Himmel.
„Wenn Sie mir nicht glauben, nehme ich das nicht übel.“, holt er aus und atmet kurz durch, „Ich habe keinen blassen Schimmer, wie ich in diesem Teil gelandet bin. Sie sind der erste Mensch, den ich hier sehe.“
Beim näheren Hinschauen wirken das Haar und die Kleidung eingestaubt. Die Fingernägel sind etwas lang für einen Mann. Es hagelt Verständnisfragen und verwirrte Blicke von Paul. Der Eingesperrte weiß genauso wenig wie er.
„Eigentlich kriegen Sie hier fantastische Milch. Ich wollte mir spontan eine Kiste kaufen. Heute sehe ich niemanden, nicht einmal die Rinder“, wundert sich Paul.
„Hab hier nie etwas anderes gesehen. Nachts höre ich nur Geräusche und bete, dass ich morgens wieder aufwache.“
„Und was so?“, fragt Paul, als er in Lewis verängstigte Augen blickt.
„Tiere, schätze ich, ein leises Knacken und Tippelschritte, aber manchmal klappert irgendein Metall, so als würde ein Tor aufgehen. Ich höre genau hin, hoffe immer, es geht ein Licht an. Dann ist wieder Stille.“
Paul beachtet erstmals seine Gänsehaut. Es schüttelt ihn. Er fragt, ob der Andere Wasser braucht. Lewis seufzt erleichtert auf. Joggend holt Paul eine Flasche aus dem silbergrauen Ford. Lewis trinkt die Hälfte auf ex und bedankt sich. Der Abstand zwischen den beiden wird kleiner. Sie stehen vor einem Stacheldrahtzaun, der höher ist als die meisten anderen Zäune der Gehege. Selbst für Hirsche oder Stiere wäre er zu hoch. Es fehlen Stäbe zum Stabilisieren, mit Ausnahme am Tor.
„Haben Sie versucht, über den Zaun zu klettern?“
„Mein Körper macht das nicht mit. Dort hinten ist das Schloss.“, sagt Lewis und zeigt auf eine entfernte Stelle, „Vielleicht können Sie es aufbrechen.“
Auf die Idee, Paul klettern zu lassen, kommt keiner der beiden. Er hat ein Bäuchlein, dass er unter einem karierten Hemd versteckt. Am Tor untersucht er das morsche Holz der Querbalken und entdeckt ein nagelneues Schloss. Erst nimmt er es in die Hand, lässt es dann los als sei es verhext. Bei seiner Rückkehr erklärt er Lewis hastig, dass ihn jemand sehr wohl einsperren wollte. Daran habe er keinen Zweifel. Er selbst hat kein passendes Werkzeug dabei, um das Schloss aufzubrechen, halte es aber für eine bessere Idee, die Polizei zu rufen. Lewis lässt sich mehr oder weniger auf den Boden fallen und ist einverstanden. Noch ist es Vormittag, doch die Sonne knallt beiden bereits auf den Kopf. Paul sucht im Auto etwas gegen die Hitze. Er bietet eine Plastiktüte als Schattenspender an. Mehr hat er nicht.
„Hätte ich geahnt, was heute passiert, wäre ich selbstverständlich ausgestattet hergekommen“, erklärt Paul.
Lewis nimmt die Tüte dankend an und zitiert den Spruch Gute Zäune, gute Nachbarschaft.
„Ich war mir so unsicher, ob ich das alles erlebe. Da niemand hier war, musste ich mich irgendwie allein unterhalten“, sagt Lewis und wischt seinen Kummer aus dem Gesicht.
„Woher komme Sie?“
„Ich…“, Lewis stoppt und blickt Paul überfordert an, „Weiß es nicht mehr.“
„Okay, wissen Sie, wie man Ihre Familie erreicht? Heißt die auch Carpenter?“
„Unter anderem. Nur die Telefonnummern kenne ich nicht.“
Paul fragt nach dem Wohnort, Lieblingsplatz, Arbeitsstelle oder wo Lewis normalerweise einkaufen ginge. Dieser denkt nach und zuckt am Ende mit den Schultern. Es ist ihm sichtlich unangenehm.
„Sie finden das bestimmt bizarr“, vermutet Lewis.
Paul kommt vom Kichern ins Seufzen.
„Nein, überhaupt nicht! Ich erkenne mich auf Videos nicht wieder. Dann steht da jemand Fremdes und macht Sachen, an die ich mich nicht erinnere. Das hat vor kurzem angefangen.“
„Oh!“, sagt Lewis und fragt, ob Paul auch ein solches Erlebnis hatte.
Kopfschüttelnd bittet Paul den Eingesperrten, es noch einmal mit dem Klettern zu versuchen. Der Versuch am Tor scheitert trotzt seiner Bemühungen, mit Händen durch den Zaun hindurch zu stützten. Lewis Gang wirkt unkoordiniert und wackelig. Paul joggt erneut zum Auto und holt das Klapphandy aus dem Handschuhfach. Im Selbstgespräch hofft er auf Empfang. Die Aufregung ist umsonst. Sie erreichen die Notrufzentrale. Während der Warterei möchte Lewis mehr über Pauls Gedächtnislücken wissen.
„Wie kommt das so aus dem Nichts?“
„Der Arzt will sich dazu noch nicht äußern. Man weiß es jedenfalls nicht. Ich besitze einen Shop und sehe mir regelmäßig Videos der Überwachungskamera an. Plötzlich schaute ich verwirrt auf einen Mann an der Kasse, der mir unbekannt vorkam. Dann sagte mir ein Mitarbeiter: ‚Das bist doch du‘ und ich fiel aus allen Wolken.“
„Unpraktisch für nen Ladenbesitzer!“
Paul nickt eifrig: „Da ist ein Loch in meinem Kopf. Sonst hatte ich mich beschwert, tagein tagaus Regale aufzufüllen und Leute zu begrüßen. Ich hatte mir Überraschungen gewünscht. Jetzt glaube ich langsam, mich selbst verflucht zu haben.“
„Hm, Langeweile kenne ich nicht. Manche sagen, es sei ein Traum. Ich antworte darauf: Das willst du nicht erleben!“
Hoch steht die Sonne, als Paul sich nach einer kurzen Erklärung in den Wagen zurückzieht. Erst bei der Ankunft des Polizeiautos steigt er wieder aus. Lewis wirkt zu erschöpft zum Aufstehen. Es begrüßt sie wortkarg einer dieser fies aussehenden weißen Cops, einem mit Schnauzer wie aus einer alten Fernsehserie. Paul beantwortet alle Fragen. Der Polizist scheint am Ende zu sein, doch etwas in ihm arbeitet. Abwechselnd schaut er beide Männer an.
„Wie heißt der Farmer, den Sie besuchen wollten?“
Paul erschrickt.
„Ich war hier vier- oder fünfmal. Der Name stand sogar irgendwo am Eingang.“
„Macht nichts, Kumpel. Das ist gerade nicht meine größte Sorge“, antwortet der Polizist, bevor er ankündigt, jetzt mit Lewis sprechen zu wollen, allein.
Paul wartet wieder im Wagen. Nachdem der Polizist sich einen Überblick verschafft hat, bestellt er Verstärkung. Man befreit Lewis durch ein Loch im Zaun. Ein Sanitäterteam liefert ihn sofort in die Notaufnahme. Paul darf nach Hause fahren. Er lässt es sich nicht zweimal sagen. Der Abend verläuft ruhig mit einem kalten Glas Milch. Erneut telefoniert er mit Kenny. Die Sache mit dem Kühlschrank ist erledigt. Paul legt die Füße hoch. Auf einmal hört er ein lautes Klopfen an der Tür. Durch den Türspion sieht er zwei Cops. Er öffnet augenblicklich die Tür.
„Paul Heffner?“
„Ja, der bin ich.“
„Wir haben einige Ermittlungsfragen zu Lewis Carpenter. Können wir kurz mit Ihnen sprechen?“
Er gewährt ihnen höflich Einlass. Das Gespräch nimmt Zeit in Anspruch. Paul antwortet auf alles und erkennt nicht, dass er der Verdächtige ist. Er soll sich hinstellen. Sie legen ihm Handschellen an. Die Vorwürfe lauten Entführung und Misshandlung.
„Was? Welchen Mist erzählen Sie? Ich war heute nach langer Zeit dort“, bricht es Paul heraus.
„Johnsons Farm steht seit zwei Jahren leer. Der Einfahrtsbereich wurde von der Verwaltung abgesperrt.“
Paul hält die Luft an. Währenddessen öffnet ein Polizist die Tür nach draußen. Die Nachbarn sind bereits in der Nähe. Der Cop auf der Farm wirkt harmlos gegen Sergeant John O’Connor und Lieutenant Gene-Clark Avery. Schnurbärte scheinen dazu zugehören als auch starrende Blicke. Einig sind sich alle gleich in einer Sache: Gemeinsam wollen sie Lewis Entführer finden. Doch egal, was Paul äußert, die Beamten krallen sich an der Möglichkeit fest, ein Geständnis zu erhalten. Zudem kriegen sie ihn dazu, erst gar nicht einen Anwalt hinzuzuziehen. Er müsste lediglich das Wort ‚Anwalt‘ sagen und das Verhör wäre beendet. O’Connor entlockt ihm jedoch in der ersten Minute Rechtfertigungen und Stottereien. Der ergraute Avery schwenkt mit verschränkten Armen seinen Kaffee ohne alles. Meist beobachtet er still die Szenerie. Paul erfährt, dass die Polizei gerade mit Kenny spricht. Er schluckt.
„Wir geben Ihnen die Möglichkeit, jetzt alles offen zu erzählen“, sagt O’Connor.
„Ich sagte doch, es war ein Zufall. Von Carpenter habe ich nie zuvor irgendwas gesehen oder gehört“, erwidert Paul.
O’Connor schaut zu seinem Vorgesetzten. Dieser nickt und O’Connor greift in eine Akte. Heraus holt er Fotos, die Paul und Lewis auf einem öffentlichen Platz zeigen sollen.
„Lewis Carpenter ist im Ort bekannt wie ein bunter Hund. Er wohnte in Des Moines, hat sich aber immer wieder herumgetrieben. In den letzten Jahren verbrachte er viel Zeit in unserem County. Eine Bewohnerin hat ihn als ‚vermisst‘ gemeldet, weil er tagelang nicht mehr zu sehen war.“
„Ich kenne ihn nicht“, flüstert Paul.
„Ich kenne ihn“, erwidert Avery.
„Viele Leute begriffen schnell, dass er psychisch nicht sauber tickt. Er ist ein leichtes Opfer“, sagt O’Connor und zeigt beharrlich auf das Foto des Mannes, mit dem Carpenter mitlief.
Paul verzweifelt an den Aufnahmen, schaut immer wieder den Polizisten flüchtig in die Augen, atmet schnell. Dass es auch ohne Bewegtbild Schwierigkeiten geben könnte, sein Gesicht zu erkennen, erfährt er ausgerechnet hier. Avery löst seine Körperhaltung und faltet die Hände auf dem Tisch. Er glaube ihm kein Wort und wolle die Wahrheit wissen. Paul besteht darauf, Lewis zum ersten Mal gesehen zu haben.
„Es gibt übrigens Kameraaufnahmen vom Auto in der Nähe des Ortes, wo Sie Mister Carpenter aufgelesen haben. Man sieht sehr genau, was passiert“, teilt O’Connor mit.
Paul atmet tief ein, mit geöffnetem Mund. Er setzt zum Sprechen an, lässt es aber wieder. O’Connor zeigt die Aufnahme auf einem Monitor. Paul kann kaum hinsehen.
Avery fragt: „Ist das dein Auto? Der graue SUV?“
Beide Beamte starren den entsetzten Paul an und warten. Es ist ein Auto zu sehen. Nummernschild und Logo erkennt man nicht. Man sieht zwei Schatten einsteigen und den Wagen wegfahren.
Paul antwortet zögerlich: „Ich kapiere nix davon. Könnte sein, aber… Ich war es nicht.“
O’Connor wirft Paul einen enttäuschten Blick zu und erklärt, dass die nächste Aufnahme von der Landstraße stammt. Darauf sei dasselbe Auto zu sehen und schemenhaft ein Fahrer.
„Wo ist das Kennzeichen?“, fragt Paul.
„Man sieht, dass es ein grauer Ford war. Der Fahrer sieht dir verdammt ähnlich. Würdest du zustimmen?“, behauptet Avery und beobachtet aufmerksam, wie er Paul ins Schwitzen bringt.
„Das hier entstand übrigens am Tag der Vermisstenmeldung“, sagt O’Connor und zeigt eine Videoaufnahme des Diners an der Landstraße.
Diese Aufnahme entstand etwa eineinhalb Stunden nach dem vorherigen Foto. Zu sehen ist ein Mann, der im Diner Zeit verbringt. Er ist weiß, hat graue kurz geschorene Haare mit strengen Geheimratsecken, einen kleinen Bierbauch und eine Knollnase. Die Kleidung ist ortstypisch, eine Jeans und ein kariertes Hemd. Paul atmet wieder tief ein und beißt auf der Lippe.
„Weißt du, dass Augenringe herausstechen?“, fragt Avery nach einer Weile und Paul blickt ihm sofort ins Gesicht.
O’Connor nickt und ergänzt: „Jap, die Augenringe sind mir auch aufgefallen. Nicht viel geschlafen in den letzten Nächten?“
Pauls Atem wird unruhiger, der Blick hektischer.
„Das Spiel ist aus, Kumpel“, seufzt Avery und lehnt sich zurück.
„So etwas würde ich niemals machen. Aber… ich habe diese Krankheit. Deswegen war ich heute Morgen beim Neurologen. Der sieht bestimmt so aus wie ich, aber ich war es nicht, auch wenn ich nicht weiß, ob er aussieht wie ich.“
Die Polizisten geben offen zu, nichts verstanden zu haben. Geduldig geht Paul mit ihnen durch, dass sein Gehirn seit einiger Zeit ein Problem hat, verdachtsweise eine unbekannte Form von Amnesie. Er erkenne sich im Spiegel, aber nicht in Videos. Avery ächzt herum und fordert, um die Zeit abzukürzen, ein baldiges Geständnis.
„Wer weiß von dieser Krankheit?“, fragt O’Connor.
Sofort findet Avery die Frage überflüssig. Er bittet den Kollegen, sich nicht auf dumme Spielchen einzulassen. Paul konzentriert sich auf den Sergeant und erzählt, dass der Arzt keine Diagnose geben wolle. Er kann der Polizei aber die Kontaktdaten übermitteln.
„Wann wurde das untersucht?“, fragt O’Connor weiter.
Avery unterbricht: „Wir haben etliche Beweise! Du hast Carpenter ins Gehege gebracht und ihn dort eingeschlossen, wohlwissend, dass die Farm keine Besucher hat, weil du die Gegend kennst. Was war der Grund?“
„Nicht ich! Das muss jemand anderes gewesen sein“, gestikuliert Paul und wiederholt, dass er nicht einmal die Aufnahmen verarbeiten kann.
„Wann war der erste Termin mit dem Arzt?“, wiederholt O’Connor.
Avery fordert diese Fragerei zu unterlassen, damit sie herausfinden, was Paul mit Carpenter vorgehabt habe. O’Connor erörtert stattdessen, wann die Polizeistation den Arzt kontaktieren sollte. Denn offensichtlich müsste in diesem Fall eine psychiatrische Beurteilung erfolgen.
„Sergeant! Falls Sie es vergessen haben: Er ist deutlich auf dem Bild zu erkennen. Der Wagen ist identisch. Das sind Ausreden.“
Nach der Zurechtweisung zieht O’Connor seine Frage zurück und lässt Avery reden. Paul stottert, wiederholt, dass er es nicht gewesen sein kann, auch wenn er sich nicht sicher sei. Avery will nichts davon wissen.
Paul gehen die Worte aus, bis er O’Connors Hinweis als Gegenmittel einsetzen will: „Sie brauchen ein Gutachten. Mein Arzt muss eine Auskunft geben.“
Avery starrt stumm in Pauls geweitete Augen. In aller Ruhe fährt er fort.
„Ich halte dich nicht für einen Gewalttäter. Bestimmt hat sich Carpenter selbst verletzt, beim Kletterversuch oder wie auch immer. Das wird vor Gericht nicht mitgezählt. Das andere schon“, erwidert er und tippt auf die Fotos.
Paul macht den Rücken gerade.
„Mister Carpenter hat mir selbst erzählt, dass er nicht weiß, wie er dorthin kam. Er kann sich nicht an die Person erinnern, die das gemacht hat.“
„Umso leichter für Sie!“, kontert O’Connor.
„Nein, Sie verstehen nicht!“, protestiert Paul lauter, „Er hat seit kurzem Gedächtnislücken, so wie ich.“
„Du gräbst dich immer tiefer ein! Carpenters Vergangenheit ist gut dokumentiert. Hinzu kommen die Aufnahmen von dir und deinem Auto. Der Typ hier bist du und wenn du Pech hast, redet gerade dein Mitarbeiter über deine Lügerei.“
Paul sackt wieder zusammen. Avery fährt einen Gang herunter.
„Okay, gehen wir davon aus, dass es eine weitere Person gibt, so wie Carpenter es angeblich gesagt hat. Was sollte deiner Meinung nach mit einer Person passieren, die so ein Verbrechen ausübt?“
Ruhig antwortet Paul: „Anwalt!“
Zwei Monate sitzt er. Niemand bezahlt die Kaution. Sein Anwalt erzwingt eine psychiatrische Diagnostik. Am Ende ist es jedoch eine Unbekannte, die ihn vorzeitig entlastet. Sie will gesehen haben, dass Lewis öfter mit einer anderen Person ins Gespräch kam. Es handelt sich um jenen Mann, der Paul zum Verwechseln ähnlich sieht und einen ähnlichen SUV fährt. Man macht ihn ausfindig. Kurz nach der Festnahme erhält die Polizei ein Geständnis. Paul darf nach Hause. Er lässt es sich nicht zweimal sagen. Der Fall schafft es ins Lokalfernsehen. Um ihn herum wird Zufall das neue Lieblingswort.
Aufwand ist nötig, um Lewis zu kontaktieren. Paul erreicht über Umwege einige der Verwandten. Anfangs halten sie ihn für einen Journalisten. Als sie ihm schließlich glauben, sind sie trotz aller Dankbarkeit skeptisch und zurückhaltend. Aus irgendeinem Grund möchte Paul ihren Lewis persönlich sehen. Den Lewis, den sie erst seit kurzen wieder bei sich haben. Am Ende überzeugt er sie zu einem Treffen an einem öffentlichen Park. Lewis wartet mit zwei Familienmitgliedern vor einer Eisdiele. Paul macht ihm Komplimente, denn äußerlich hat sich bei ihm viel getan. Sie holen sich Eiscreme. Seit Jahren hat er kein Eis mit Waffel gehabt, erzählt Paul. Seine Augen leuchten.
„Es tut mir furchtbar leid, was Ihnen passiert ist“, sagt Paul.
„Dank Ihnen bin ich am Leben!“
„Verrückt, dass ich mich nicht daran erinnern konnte, dass Johnsons Farm geschlossen wurde. Mir war es so als wäre ich vor kurzem dort gewesen.“
„Dazu kann ich leider nichts sagen.“, sagt Lewis und schleckt am Eis, „Das letzte Mal war ich auf einer Farm… da hat Bush Senior das Land regiert!“
„Ist doch gar nicht so lange her!“, erwidert Paul.
Lewis Gesicht mag noch unterversorgt erscheinen, doch er legt die Stirn gekonnt in Falten.
„Das war doch erst vor zwei Jahren, oder?“, fragt Paul.
„In Politik bin ich ne Niete, aber ich glaube, erst kam Senior, dann Clinton, dann Junior und jetzt Obama“, antwortet Lewis.
„Das weiß ich doch sonst“, stammelt Paul und verstummt schließlich.
Lewis pfeift seinen Verwandten zu, die mit etwas Abstand die beiden im Auge behalten. Er fragt, welches Jahr sie haben. Mehr als zehn Jahre sind vergangen. Paul sitzt eine Weile in Schockstarre. Das schmelzende Eis an der Hand holt ihn wieder zurück. Er beginnt, zu schlürfen.
„Tja, dann werde ich wohl einen weiteren Termin mit meinem Arzt machen.“
Lewis lacht und klopft ihm auf die Schulter.