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Die Angst vor dem Ende
Was war denn schon dabei? Er musste lediglich den Stuhl, der unter seinen Füßen stand, wegtreten. Das konnte doch nicht so schwer sein. Aber Marius hatte Angst. Schreckliche Angst.
Er hatte einen kleinen Sohn, der seinen Vater über alles liebte. Wenn nur seine Frau nicht wäre. Sie wollte ihm seinen Sohn wegnehmen, sich von ihm scheiden lassen.
Vor vier Wochen hatte er zu allem Überfluss auch noch seinen Arbeitsplatz verloren. Seinen über alles geliebten Job, den er seit fünfzehn Jahren ausübte. Er hatte immer davon geträumt, Polizist zu werden. Als er den Einstellungstest bestanden hatte, war er der glücklichste Mensch auf Erden gewesen.
Jetzt war alles kaputt. Er hatte Angst. Sein Sohn brauchte ihn. Er selbst musste seit dem vierten Lebensjahr ohne Vater aufwachsen, weil sein Vater sich damals erhängt hatte. Er wusste, wie schrecklich es für ein Kind ist, ohne Vater zu leben. Sein Sohn wurde erst vor zwei Wochen sechs Jahre alt. Wenn er jetzt Schluss machte, könnte er ihm nie bei den Schularbeiten helfen. Er hatte Angst. Aber er war fest entschlossen.
Das Telefon klingelte. Yvonne nahm den Hörer ab.
"Hallo?"
"Guten Tag Frau Stürzer. Hier spricht Hauptkommissar Freischal. Ich hätte gerne mit ihrem Mann gesprochen, wenn es möglich wäre."
"Hallo Herr Kommissar. Ich weiß leider nicht, ob mein Mann im Moment da ist. Aber vielleicht kann ich ihm was ausrichten. Um was geht es denn?"
"Nun. Ich rufe an, wegen seiner Suspendierung. Es gab eine weitere Untersuchung, bei der festgestellt wurde, dass Marius richtig gehandelt hat. Ich wollte ihm lediglich sagen, dass er wieder bei uns arbeiten kann. Die Suspendierung wurde annulliert."
"Das wird ihn aber freuen. Ich danke ihnen sehr"
"Keine Ursache. Dann werde ich jetzt wieder an meine Arbeit gehen. Tschüss Frau Stürzer."
"Tschüss."
Das würde ihn aber freuen, wenn er das erfuhr. Vor zwei Tagen hatten sie sich schrecklich gestritten, weil er keine Anstalten machte, sich einen neuen Job zu suchen. Daraufhin hatte sie ihm mit der Scheidung gedroht. Vielleicht war das ein wenig übertrieben. Sie rief nach ihm. Er musste im Haus sein. Sein Auto stand noch draußen. Yvonne ging durch jedes Zimmer im Erdgeschoss und suchte nach ihrem Mann. Aber sie fand ihn nicht und ging deshalb nach oben. Sie rief weiter nach Marius. Aber er antwortete nicht.
Marius konnte hören, wie Yvonne seinen Namen rief. Aber er antwortete nicht. Bis man ihn fand, würde es zu spät sein. Er hatte Angst. Ihm waren Zweifel gekommen. Er wollte seinen Sohn nicht enttäuschen. Andererseits gab es für ihn keinen Grund, es nicht zu tun. Jetzt mach schon du Feigling. Du brauchst nur einen kleinen Schritt zu tun und es ist vorbei. Es geht ganz schnell. Du hast schon so viele gesehen, die mutig genug waren. Drogenabhängige, die nicht von dem Zeug runter kamen, verzweifelte Väter, die nach einem Streit ihre Familie ausgelöscht hatten, Arbeitslose, die nach zwanzig Jahren der Verzweiflung nicht mehr weiter wollten.
Bei genauerem Überlegen stellte er fest, das von all denen auch ein wenig in ihm steckte. Er war Vater, arbeitslos und seine Droge war die Arbeit gewesen. Marius hatte Angst, aber er war fest entschlossen. Dann atmete er ein paar mal tief ein und machte sich bereit für sein Ende.
Yvonne ging ins Schlafzimmer. Auch hier war er nicht. Aber es war das letzte Zimmer, in das sie geguckt hatte. Sie drehte sich um und wollte gerade gehen, als ihr etwas ins Auge fiel. Die Luke zum Dachboden war nicht richtig verschlossen!
Yvonne zog an der Kordel und eine Klapptreppe kam herunter. Sie sah hoch, konnte aber nichts erkennen. Langsam stieg sie die Treppe hoch. Dann trafen sich ihre Blicke. Vor Schreck wäre sie fast gestürzt.
Marius setzte gerade dazu an, den Stuhl unter ihm wegzutreten, als die Luke geöffnet wurde.
Verdammt. Sie war klüger als er erwartet hatte. Er stand reglos auf dem Stuhl und sah zu wie seine Frau auf den Dachboden kam. Einen Augenblick lang dachte er, sie würde stürzen. Aber Yvonne schaffte es gerade noch sich zu halten. Dann stand sie auf und stellte sich vor ihn.
"Mein Gott Marius! Bist du wahnsinnig geworden? Was hast du vor?"
"Ich kann nicht mehr, Schatz! Ich habe alles verloren, was mir wichtig war. Erst meinen Job und jetzt euch."
"Beruhige dich. Es wird alles gut. Ich habe nachgedacht. Ich werde mich nicht scheiden lassen."
"Was? Aber ich dachte du willst keinen arbeitslosen Mann."
"Will ich auch nicht. Du bist nicht arbeitslos, Marius"
"Was redest du denn da, Schatz? Natürlich bin ich das. Ich habe meinen Job verloren!"
"Dein Chef hat eben angerufen. Die Suspendierung wurde aufgehoben. Du kannst wieder arbeiten."
"Aber das ist ja großartig!"
Marius wollte jetzt nur noch seine Frau umarmen. Er breitete die Arme aus, und stieg vom Stuhl. Ohne dabei an den Strick zu denken, der um seinen Hals lag und ihm sofort die Kehle zuschnürte, als er von dem Stuhl sprang. Angst jagte durch seinen Körper. Wie konnte er nur so blöd sein?
Er sah, wie seine Frau kreidebleich wurde und ohnmächtig zu werden drohte.
Da fiel ihm das Messer in seiner Hosentasche ein, mit dem er de Strick zurecht geschnitten hatte. Marius versuchte seiner Frau mitzuteilen, dass sie sein Messer nehmen sollte, um das Seil zu zerschneiden. Aber bis auf ein Krächzen brachte er nichts hervor. Und dann musst er auch noch zusehen, wie Yvonne bewusstlos zusammensackte. Er hatte panische Angst.
Bisher hatte er sich mit beiden Händen an dem Strick festgehalten, um nicht endgültig erdrosselt zu werden. Jetzt blieb ihm nichts anderes übrig als mit einer Hand loszulassen und das Messer aus der Tasche zu holen. Als er die linke Hand vom Seil nahm, merkte Marius, wie er ein Stück tiefer rutschte und sich die Schlinge enger zog. Seine Finger tasteten zitternd nach dem Messer und fanden es. Hastig zog er es aus der Tasche und streckte seinen Arm nach oben. Ihm wurde bereits schwarz vor Augen. Dann krachte er neben seiner Frau auf den Boden.