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Die Arche Norbert
"Was machst du da schon wieder?"
"Ich bastel eine Skulptur."
"Ja toll! Du sitzt hier den ganzen Tag in deinem miefigen Zimmer und schnitzt an deinen Steinen rum, während..."
"Felsen. Es sind Felsen."
"... während deine Menschen vor sich hingammeln. Und was hast du uns damals in den Ohren gelegen, weil du sie unbedingt haben wolltest."
"Aber Mama, ich... am Anfang waren sie ja auch noch lustig mit ihren Dinosauriern und so. Aber jetzt finde ich sie langweilig. Irgendwie hat sich das nicht so entwickelt, wie ich wollte."
"Und darum gibst du gleich auf? Warum fängst du nicht einfach noch mal an?"
"Ach, ich weiß nicht..."
"Keine Widerrede! Wir haben dir diese Menschen nicht geschenkt, damit sie jetzt in der Ecke vergammeln. Es war von Anfang an klar, daß du dich um sie kümmern mußt."
"Ja, Mama. Ich fange nochmal von vorne an."
...
Wenn die Sonne scheint, dann tut sie das auf eine sehr demokratische Art und Weise. Ihr Licht breitet sich einigermaßen gleichmäßig in alle Richtungen aus und versorgt die Erde mit Wärme. Die Sonne scheint an den weiten Stränden der Karibik ebenso wie in den tiefsten Wäldern Mittelamerikas und sogar manchmal über den eisigen Schneewehen Norwegens. Nur an einem Ort, da scheint sie nie. Die mintgrüne Jalousie verhindert es.
Norbert Meier biß herzhaft in seine Käsestulle und wischte sich mit seinem geblümten Stofftaschentuch einen Margarinefleck aus dem Mundwinkel. Seine Mittagspause würde noch fünf Minuten andauern und dann wollte er den Bürgern gepflegt gegenübertreten. Er prüfte noch einmal den korrekten Sitz seiner Krawatte, stellte den rechten Winkel zwischen den Textmarkern und dem Holzineal wieder her - welches er übrigens nur deshalb auf dem Schreibtisch liegen hatte, damit es einen rechten Winkel mit den Textmarkern bilden konnte - verdeckte einen peinlichen Kaffeefleck auf seiner Schreibunterlage notdürftig mit dem Locher und grummelte ein ärgerliches Herein, als es an der Tür klopfte.
Zwei Minuten vor Ende der Pause, aber Norbert wollte heute nicht kleinlich sein.
"Bin ich hier richtig in Zimmer 1M6?" Ein Mann betrat Norbert Meiers Büro, ganz in weiß gekleidet und mit Sandalen an den nackten Füßen. Ein paar Brötchenkrümel in seinem weißen Bart verrieten, daß auch er vorhin Mittag gemacht hatte. Er setzte sich in den abgewetzten Stuhl vor dem Schreibtisch, faltete die Hände und lächelte freundlich.
"Ja, das ist hier", antwortete Norbert. "Was kann ich für Sie tun?"
"Nun... es ist ein etwas seltsames Anliegen, aber ich bin sicher, Sie können mir helfen." Der Mann sprach sehr langsam und der ruhige Tonfall in seiner Stimme brachte sogar die Blattläuse dazu, ihr schändliches Treiben an den Blättern des Gummibaums auf der Fensterbank zu unterbrechen und andächtig zu lauschen.
"Dazu bin ich da. Worum geht es denn? Einen Schuppen?" Es ging den meisten Antragstellern um einen Schuppen. Oder einen Zaun. Zäune und Schuppen, das war Norbert Meiers täglich Brot. Das und die Käsestullen, die seine Nadja ihm immer schmierte.
"Nein, kein Schuppen. Um ehrlich zu sein, habe ich gar nicht vor, etwas zu bauen."
"Was führt Sie dann ins Bauamt? Sie verkaufen doch nicht etwa Rentenversicherungen, oder?" Norbert kicherte leise. Niemand schätzte einen guten Witz so sehr, wie Norbert Meier. Daher war es als eine eher bösartige Laune des Schicksals zu interpretieren, daß er keinen einzigen guten Witz kannte.
"Nein. Es geht um meine Mutter. Sie möchte, daß ich mich wieder mehr meinem alten Steckenpferd widme."
"Also doch ein Schuppen? Zum Werken vielleicht?"
"Bitte, lassen Sie mich ausreden. Eigentlich mag ich mein Hobby sehr, aber irgendwie ist es mir aus dem Ruder gelaufen und jetzt möchte ich... naja, ich möchte einen radikalen Schnitt machen. Und dazu brauche ich Ihre Hilfe." Eigentlich gefiel es Norbert gar nicht, daß dieser Kerl seine kostbare Zeit raubte, und das obwohl er noch nicht mal einen Antrag stellen wollte. Aber langsam war sein Interesse geweckt.
"Geht es um Flaschenschiffe? Das ist mein Hobby und da könnte ich Ihnen..."
"Nein, keine Flaschen. Ich habe mich wie gesagt entschlossen, von vorne zu beginnen. Dazu werde ich alles unter Wasser setzen. Aber ich brauche eine Arche, um die ganzen Tiere zu retten."
...
"Mama, der Mensch will mir nicht helfen."
"Dann denk dir was aus."
"Kann ich nicht einen anderen nehmen? Einen, der mehr an mich glaubt?"
"Nein, mein Sohn. Du hast ihn gewählt und jetzt bleib gefälligst bei deiner Entscheidung! Immer mal Hü und mal Hott, so geht das nicht."
"Na gut. Ich werde morgen noch einmal zu ihm gehen. Gefällt dir meine Skulptur?"
...
Seit Tagen regnete es nun schon.
Norbert saß in seinem Sessel und genoß den Feierabend mit einem kühlen Bier und der Zeitung. Nadja stand derweil in der Küche und hantierte lautstark mit Töpfen und allerlei Werkzeugen, um ein leckeres Abendessen zu bereiten. Sauerbraten, denn es war Donnerstag.
"Du schon wieder. Ich habe dir doch gesagt, du sollst verschwinden", brummte Norbert verärgert, als die steinerne Katze neben ihm aus dem Nichts erschien.
"Du weißt, daß ich das nicht kann. Nicht, bevor du mich angehört hast."
"Sag mal, willst du es nicht verstehen? Ich habe nein gesagt. Bau dein komisches Boot doch alleine!"
"Es ist eine Arche, Norbert. Eine Arche. Und ich kann sie nicht bauen, weil ich kein Mensch bin."
"Es zwingt dich niemand, in dieser Gestalt rumzulaufen."
"Die Gestalt spielt keine Rolle, Norbert. Ich mag einfach Katzen", sagte der Besucher und leckte sich hingebungsvoll den Bauch.
"Kannst du nicht wem anders auf die Nerven gehen? Ich meine, seit einer Woche geht das nun schon so mit dir."
"Ja, ich muß sagen, daß ich über diesen Umstand auch alles andere als erfreut bin. Aber es geht nicht anders. Du bist der einzige, der..."
"Norbert, mit wem redest du da?" Nadja stand mit einem Topfdeckel in der Hand in der Tür und blickte sich fragend im Wohnzimmer um. Natürlich konnte sie die steinerne Katze nicht sehen.
"Ach nichts, Schatz... Hier steht nur, daß sie die Bezüge für Beamte schon wieder kürzen wollen. Das ist schon das zweite Mal in den letzten zehn Jahren. Da hab ich mich wohl etwas aufgeregt, tut mir leid."
"Na gut. Gleich gibt’s Essen."
"Das zweite Mal?", fragte die Katze, nachdem Nadja wieder in die Küche gegangen war.
"Ja. Eine Unverschämtheit."
"Siehst du, die Welt ist schlecht. Darum muß ich neu anfangen."
"Tu das. Aber lass mich damit in Ruhe."
"Na gut, Norbert, du hast es so gewollt." Die Katze sprang auf Norberts Schoß, fauchte grimmig und fuhr ihm mit ihrer Kralle einmal quer über das Gesicht. Und in diesem Moment brach die Welt für ihn zusammen.
Der Schmerz war unerträglich. Es war, als hätte sich das Universum entschlossen, direkt in Norberts Seele zu explodieren. Die Strukturen der Realität lösten sich, das Nichts übernahm die Kontrolle über das Sein, kleine Partikel der Ewigkeit huschten durch unendliche Weiten des Nullraumes, bevor sie sich in sich selbst krümmten. Neue Dimensionen des allumfassenden Chaos taten sich auf und erstarben zugleich in einem grellen Lichtblitz.
Alles war auf einmal anders. Alles war wie immer. Alles war klar.
"Du bist... ich meine, du bist... wirklich..."
"Ja. Es tut mir leid, daß ich dir Schmerz zufügen mußte, Norbert. Ich mache das äußerst ungerne, aber ich habe keine andere Möglichkeit gesehen. Baust du mir die Arche?"
...
Es regnete.
Aber Norbert bekam nichts davon mit. Seit ein paar Tagen saß er in seinem Hobykeller und zeichnete. Er hatte in den letzten Jahren schon viele Schiffe entworfen und gebaut - sie standen in kleine Flaschen gezwängt auf Regalen an den Wänden - aber noch keines in Lebensgröße. Er würde Holz brauchen, viel Holz. Und Stoffbahnen für die Segel. Dazu Nägel, Seile und natürlich einen...
"Nein, keinen Anker. Wenn es erst einmal soweit ist, werden wir keinen Anker mehr brauchen." Die Katze saß auf dem eigenst für sie von Norbert gebauten Hochsitz neben dem Tisch und starrte auf die Pläne.
"Aber wir müssen doch irgendwo anlegen."
"Nein, das müssen wir nicht. Nicht wir werden das Ziel finden, das Ziel wird uns finden."
"Weißt du was? Manchmal gehst du mir mit deinem kryptischen Zeug auf die Nerven."
"Wenn es soweit ist, wirst du verstehen."
"Ja, das sagst du immer."
"Dieser ewige Regen macht mich noch wahnsinnig."
"Wem sagst du das. Seit Wochen keine Sonne mehr. Man könnte fast meinen, die Sintflut würde kommen."
"Dann sollten wir uns schnell ein Schiff bauen." Die beiden Frauen lachten. Es tat Nadja gut, mal wieder zu lachen. Seit Tagen hatte sie ihren Mann kaum zu Gesicht bekommen und langsam machte sie sich ernsthafte Sorgen um seinen Geisteszustand. Er hatte auf unbestimmte Zeit Urlaub genommen und werkelte nun in seinem Hobbykeller an seinen Flaschenschiffen. Sie bekam ihn nur noch zu Gesicht, wenn er sich etwas zu Essen nach unten holte. Neuerdings aß er rohen Fisch. Sogar zu Pfannkuchen.
"Du, war nett, mal wieder mit dir zu plaudern, aber ich muß wieder. Kurt kommt bald nach Hause und dann will ich das Essen fertig haben. Danke für den Kaffee."
"Danke, daß du Zeit für mich hattest. Komm gut nach Hause."
"Ich kann gut schwimmen." Wieder lachten sie. Uschi zog ihren schweren Regenmantel über und trat hinaus in den Regen. Heute war Hackbratentag, Kurts Lieblingstag.
"Nadja!" Norberts Stimme hallte durch das Haus. "Nadja, wo bist du denn?"
"Ich bin hier. Hast du Hunger?"
"Nein. Ich möchte dich um einen Gefallen bitten. Kannst du mir ein Segel nähen?"
...
Das Wasser stieg
Norbert achtete nicht auf den ewigen Regen. Der Wasserpegel stand bereits bei mehreren Zentimetern, aber er hatte sich eine überdachte Arbeitsbühne gezimmert, so daß er einigermaßen trocken blieb. Verbissen kniete Norbert auf den Holzdielen und sägte einen Balken auf die richtige Länge.
"Siehst du, Martha, der Norbert, der baut vor. Wenn wir dann alle am Absaufen sind, dann wird er uns von seinem tollen Schiff aus zuwinken..." Norbert beachtete die spöttischen Passanten nicht. Seit Tagen machten sie ihre Witzchen und lachten ihn aus. Er wußte, daß er das Richtige tat. Seine Knochen taten ihm weh und jeder einzelne Muskel brannte, aber er gönnte sich keine Pause. Er hatte einfach zu wenig Zeit.
Nadja betrat den Garten und brachte ihrem Mann ein paar Schnittchen - Käse mit Gurke. Sie fuhr sich mit der Hand über die Narbe in ihrem Gesicht und schenkte der Katze ein aufmunterndes Lächeln.
"Keine Sorge, wir bekommen es hin. Ich war im Zoo und habe Tiere ausgewählt. Außerdem habe ich Orte gefunden, wo wir die anderen Spezies finden."
"Das ist gut. Ich bin froh, euch beide für diese Mission ausgewählt zu haben. Kann ich noch einen von diesen Thunfischen bekommen? Und ich habe wieder dieses gemeine Jucken hinter den Ohren..." Nadja lachte und kraulte die Katze sanft am Kopf, die hingebungsvoll schnurrte.
...
"Und, mein Sohn, wie kommst du vorran?"
"Gut, Mama. Die beiden Menschen haben die Arche rechtzeitig fertiggestellt. Wir müssen nur noch die Tiere einladen und dann kann es losgehen."
"Denk an die Opossums."
"Wie bitte?"
"Na, die Opossums. Dein Vater kann sie ja nicht leiden, aber ich finde sie niedlich. Du solltest sie unbedingt retten."
"Ja, Mama. Ich sorge dafür."
"Ich bin richtig stolz auf dich, mein Sohn. Es freut mich, daß du nicht gleich aufgegeben hast sondern diese Sache zu einem Ende bringst."
...
Der Anblick hatte etwas majestätisches. Artig aufgereiht standen die Tiere auf den Hausdächern und warteten, bis sie dran waren. Keines muckte auf und sie versuchten auch nicht, sich gegenseitig zu fressen. Auch das hatte die Katze organisiert.
"Was ist das?"
"Das sind Antilopen. Zwei Stück."
"Ja, richtig." Norbert machte auf seiner Liste einen Haken und steckte den Tieren kleine Fahrscheine ins Maul. Nichts ging über gute Organisation. "Die kommen auf Deck zwei, Box Nummer Siebzehn." Die beiden Antilopen verstanden und machten sich auf den Weg in das Schiff.
"Was ist das denn? Wir haben schon Ratten. Mindestens hundert Stück."
"Das sind Opossums", gab die Katze bereitwillig Auskunft. "Ich weiß auch nicht genau, wozu die gut sind, aber Mama hat... also, ich meine, wir müssen sie unbedingt retten."
"Sie stehen nicht auf der Liste."
"Sie müssen mitkommen, Norbert."
"Na gut... dann müssen wir aber ein anderes Tierpaar zurücklassen."
Schafe sind in vielerlei Hinsicht bemerkenswerte Tiere. Nicht nur, daß sie dem Menschen sehr nützlich sind in ihrer Eigenschaft als natürlicher Rasenmäher, Wollproduzent und nicht zuletzt als Fleischlieferant, zusätzlich sind Schafe die einzigen Lebewesen auf der Welt ohne Zeitgefühl. Zumindest könnte man das annehmen - denn wären die beiden auserwählten Schafe an diesem Tag nicht zu spät an ihrem Abholpunkt erschienen, hätte Norbert auf seiner Arche vermutlich große Platzprobleme bekommen.
...
Es regnete nicht mehr.
Niemand hatte die Sache ernst genommen, niemand hatte Maßnahmen ergriffen. Und so war Norberts Arche tatsächlich das einzige Schiff, das nun auf der in alle Richtungen bis an den Horizont reichenden Wasserfläche sanft dahintrieb. Die Katze war seit ein paar Tagen verschwunden - es gab noch ein paar Felsen zu modellieren.
Die Sonne ging auf und malte Muster von schier unmöglicher Schönheit an den Himmel. Hier gab es keine mintgrüne Jalousie. Norbert und seine Frau standen an der Reling und sogen die Ruhe dieses erhabenen Moments tief in sich auf. Nadja hatte Schnittchen gemacht.
"Hat die Katze dir gesagt, wo wir hinfahren?"
"Sie hat gesagt, daß wir es wissen werden, wenn es soweit ist."
"Und wann ist es soweit?"
"Ich weiß es nicht, Nadja. Ich weiß es nicht."