Die Art der Alkoholikerin (Oktoberfest)
Die Art der Alkoholikerin (Oktoberfest)
Sie steht an der Theke, sitzen will sie nicht. Sie ist alt, aber eben nicht sehr, mit einer Tasche am Ellenbogen, wie die Queen, und sie trinkt in Momenten, in denen man nicht guckt. Hat man Glück, so sieht man die Biergischt im Glasesinneren noch rinnen. Plötzlich wird es laut, sie lacht über einen Witz, den sie schon kennt, man sieht die vernachlässigten Zähne zu den geschminkten Lippen, eine billige Farbe. Sofort solidarisiert man sich mit ihr, wie mit einem Negerkind, das auch Schlittschuhe haben will, oder wie mit einem Behinderten, der alleine an einer Straße steht und sich nicht helfen läßt. Ein geheimes Bündnis unter allen, die nicht so sind: sie will tanzen, also tanzt man mit, ohne Berührung, man wippt vor ihr. Sie ist glücklich scheinbar, und man lässt sie halt, sie tanzt mit gespitzten Händen, als hielte sie zwei Taschentücher an den Zipfeln, ihre Schulterstücke (die Schaumteile unter dem Damensakko) stehen ab, während sie die krummen Arme hochhält und lacht und tanzt, weil sie Freude hat. Wie gesagt, man lächelt. Man nickt ihr zu: gut so, weiter so, keine Kapitulation. Das kennt man ja: von sich selbst.
Sie beruhigt sich, grinst noch, dann nicht mehr. Irgendwann geht sie, wir merken es kaum, sie verabschiedet sich vom Barkeeper wie von ihrem eigenen Mann, mit Küsschen, er gibt sie zurück, ehrlich, und wir schauen weg, als sei diese Ehrlichkeit gefährlich, unpassend. Sie blickt um sich, alles macht was anderes, so geht sie eben, sie kennt das Desinteresse, sie hat gelernt, es zu empfangen wie einen Tritt auf die Brust. Kaum ist sie weg, zucken die Schultern. Es beginnt, lauter zu murmeln, da öffnet sich die Türe: sie ist es! Ihr Schal müsste noch irgendwo liegen, alles sucht, Umstände, dann sieht ihn jemand, der Schal liegt dort auf dem Boden zwischen zerknüllten Servietten und Dreck, sie hatte ihn verloren, als sie tanzte.
Sie hebt ihn auf, sie ist eben keine Dame: man lässt es geschehen. Keiner bückt sich, sie bückt sich selbst. Dann sieht man einen Augenblick das Gesicht: traurig und streng, konzentriert, aber eben müde. Sie hat sich gut im Griff, sie merkt, daß der Stoff nachlässt, aber das Geld ist alle, was soll´s. Daheim ist die Flasche, halbvoll, das wird reichen …
Sie ist im Arsch, aber egal. Erst Cognac, dann die härteren Sachen, und es war gut, sehr gut, als sie jünger war, und die Männer waren wundervoll. Man riecht sie nicht, wenn man getrunken hat, die Männer. Sie sind skrupelloser, wenn sie trinken, also besser. Außerdem tun es alle, nur eben weniger, weniger intensiv. Der Barkeeper fragt nicht, er schenkt ein. Sein Lächeln. Sie liebt es.
Trinken, das ist auch Kultur, das ist christlich, abendländisch zumindest, na, was auch immer. Trinken, das machen doch alle, und alle, das sind wir …
Einen Pfeffi? Pfefferminz-Likör … edel, was? Aber mehr als drei darf man nicht, ist nicht gesund angeblich, also dann eben lieber Bier, aber nur den Rest, das Glas steht ja noch da, sie erkennt das ihrige, sie erkennt den Pegel, der Barkeeper war noch nicht zum Abspülen gekommen, also nimmt sie es hinter der Theke hervor, der Barkeeper schaut lächelnd weg.
Das Knistern im Mund, es ist wie Trost, das Schlucken, das Aufnehmen, das kurze Sattsein, dann Rülpsen, wie als Kind, alles meins, mein Gefühl, mein Erleben, mein Schmecken. Alkoholkrankheit klingt irgendwie harmloser als Alkoholismus, das ist gut so, drum geht sie zum Arzt: „Sie sind alkoholkrank!“. Zünftig, was?
Gut, Blut. Aber was soll´s: es ist nur manchmal dabei, wenn man bricht.
Jetzt meinetwegen den Pfeffi. Und dann? Noch einen.
Vielleicht mal was essen? Nein. Zu riskant. Also Bier. Der letzte Schluck, aber nicht der allerletzte. Hoffen wir´s. (Gelächter) Na, und sonst? Ach … und bei Dir? Oh, lass mal. (Gelächter, ohne Grund, deshalb nicht so laut). Nicken. Ein Schluck, das Glas ist leer. Noch´n Bier. Ach …. na gut, und das Geld machen wir nächstes Mal, oder? Der nickt und lächelt. Sie liebt den Barkeeper. Tief drinnen liebt sie ihn. Er ist die Quelle, das Lächeln trotz allem. Wie Buddha. Oder auch Jesus. Dieter lässt es langsam rein, das mag sie, dann ist mehr drin, wahrscheinlich. Dann stellt er es hin: mein Glas. Ein ganzes Meins, mit einer Hand zu fassen, erfassbar, also logisch: das trinkt man, was sonst? Gott, das Taxi ist da, der Fahrer steht fragend an der Türe, Herrje, alles wird ruhig, alles guckt sie an. Na fein, der Fahrer kennt sie schon, der heißt auch Dieter, herrlich. Hallo Dieter … (Gekichere). Trinken, das ist auch Humor, und Daheim, das ist dort, wo man hingeht nach dem Trinken. Jetzt gleich? Ach was … na gut, aber das Glas mach ich noch leer, oder? Na logisch …
Die Straße ist naß. Alles ist dunkelnaß. Und kalt, September halt, das Oktoberfest ist immer so septembrig. Das Taxi ist bereits wie ein Ofen. Sie will schlafen, aber in Taxis nickt man nicht ein, die sind so offiziell, zu sauber zum Einnicken. Er weiß, wo wir hinmüssen. Das donnernde Fest verschwindet hinter der Dunkelheit. Schon da? Komisch. Jesus, Maria und Joseph, bezahlen. Ich hab gar nix mehr … nächstes Mal, oder? Wir kennen uns doch.
Vater Unser, der Haustürschlüssel … ach, da ist er ja.
Daheim ist alles dunkel.
Und kalt, Mist. Wie draußen, sie kann die Straße sehen, und einige Fenster auf der Seite gegenüber. Jemand steht nackt am Fenster, ein Glas in der Hand. Jetzt ist sie wieder wach … Fernsehen? Ach nein … na gut, dann eben doch.
Schlagersendung. Hilfe. Sie war mal Philosophin gewesen an der Uni, eigentlich ist sie´s ja noch, nur ohne Uni.
Schlagersendung … hm, na schön: was ist der Schlager?
1.) Die Lust am Häßlichen, eine Eigenart der deutschen Bevölkerung, eine Reaktion auf das Vermögen, Prachtvolles und Herrliches hervorzubringen: vergleichbar also mit der kindlichen Lust, mit Matsch zu spielen, obgleich das gleiche Kind ebenso gut seinen Blick zum Himmel heben könnte, um aufgrund von reinem Glauben Gott selbst zu erblicken.
2.)Die im Eigentlichen wertvolle und teuere, im Tatsächlichen jedoch unausstehliche und dennoch sich behauptende Hässlichkeit. Der Anblick des Dummen als Garantie für das Gefühl der Sicherheit: der Dumme ist harmlos, daher kann man ihn finanzieren, ohne Gefahr zu laufen, daß er sich gegen einen selbst verwendet.
3.) Der Eindruck des Harmlosen: Moderatoren stecken in unzeitgemäßen Sakkos längs vergangener Moden, man meint die mütterliche Hand selbst zu sehen, wie sie ihn aus dem Schrank des verstorbenen Onkels gezogen und glattgestreckt hat. Morbide. Das Blumengesteck hinter dem Moderator, überaus teuer: jede Blüte an und für sich kostspielig, Callas, Casablanca, Geranie. Und doch: das Ensemble sieht aus wie Erbrochenes, unschön. Diese Gleichzeitigkeit ist es: Mittelmaß und Geld, das ist der Schlager, das macht ihn beliebt. Faschismus der Normalität, Befriedigung des permanent bohrenden Neids einer gescheiterten obersten Unterschicht.
4.) Die Abwesenheit der Scham: man macht das Scheitern selbst zum Stilmittel, das Geldausgeben wird zum Sarkasmus. Das ist der Schlager, die wiedererkennbare Summierung des unwiderstehlichen Argumentes der Billigkeit. Der Moderator sitzt am peinlichen, dafür aber bezahlbaren Camping-Klapptisch, den man daheim ja selber in der Garage stehen hatte, aufrecht angelehnt an der Wand neben dem Durchgang zum Haus, verstaubt, weil nie genutzt, und über den eine große Papierserviette gelegt und mit Wäscheklammern befestigt worden war: wieder einmal hatte man dieses Flair von Behelfsmäßigkeit einer in Not geratenen Hausfrau und Mutter hervorzurufen gewusst. Während man dieses fade Bild des Moderators in sich einsickern läßt, wehrlos, durchschaubar und doch brenzlig warm wie der Geruch eingemachter Windeln, entwaffnet allein der Campingtisch jede aufkommende Aggression gegen diese offenbare Geldverschwendung für Sakko, Frisur, Staffage und mimisches Training, das in solch Nichtsnutzigkeit mündet, daß man Mitleid spürt für die Mama (ein wichtiger Begriff: Mama!), die den Campingtisch mit einer Papierserviette abgedeckt hatte, weil das Haushaltsgeld wieder einmal nicht gereicht hatte, weil das Haushaltsgeld NIE gereicht hatte. Man war ja froh, wenn man den Hustensaft bezahlen hatte können für die ewig fiebrigen Kinder … Geschmacklosigkeit als Instrument der Entwaffnung, Frieden als Konsequenz der Effizienz des Billigen.
Die Interpreten: entweder sie waren männlich oder weiblich, Kinder waren selten, da man hinter ihnen niemals das ererbte Talent vermuten durfte (den Vater hatte man ja nicht geheiratet, weil er talentiert war! Talent kam also über den Liebhaber in die Kinder, und an den Dritten im Bunde durfte NIE erinnert werden …).
Die Frauen: nach Alter ausstaffiert: von 20 bis 25 waren es meist die feschen Mädels, ruhig in Anlehnung ans Dritte Reich, so mochten es die Älteren, so mochte es die schweigende, immerhin zahlende Masse der über 50-Jährigen, die ihren Trotz nach verlorenem Versuche zur Weltherrschaft hinter einer Bayernliebe verschleierten: Blondfrisur, Alpen, Zöpfchen, Lächeln, bereit für das Lieben, Edelweiß auf der Brust, ein Dirndl. Die Brünette ist eher selten, sie taucht erst ab 25 auf, so als sei das Mädel gereift, quasi „nachgedunkelt“: sie trägt den opulenteren Schmuck, keine Perlen mehr, ist bereits verlobt und durch die Regelmäßigkeit der befriedigten Leidenschaften nicht mehr ganz so fesch, dafür aber raffiniert mit einem Hauch Sehnsucht, der aber nicht wollüstig rüberkommen darf. Die Dirndlpflicht weicht gelegentlich dem Bürokostümchen, gerne Lederhose, gerne auch ein Schal, all dies Abbilder bekannter Dramen, die man selbst durchzumachen meint, so als sei die Heidi auf dem Motorrad in die Stadt deportiert worden, gegen besseres Wissen der Großeltern, aber so ist die Welt: Drama eines Mädels, das in die Welt gerät und die reif werden muß zwischen dem nicht mehr ganz so frischen Mundgeruch eines Mannes und den niedlichen Grübchen des Liebhabers, die man auch beim ersten eigenen Baby wiedererkennen wird. Tränen sammeln sich, Rosine wird aus dem Zahn geholt. Jemand weiß also, wie mir geschieht! Erhebung! Die Dreißigjährige: sie ist spezialisiert, kennt ihren G-Punkt, macht Massagekurse, sammelt Tupper und hat eine Frisöse als Freundin: die macht es ihr kostenlos. Über die kluge, vielleicht auch listige Hausfrau darf es nie kommen, Themen bleiben der liebe Mann, die ersten Kinder, der Haushalt, Italien, Katholizismus. Studium des Ältesten? Nein, dafür reicht das Haushaltsgeld nicht, weil es NIE gereicht hatte. Den Liebhaber konnte man allerhöchstens ahnen (mehr dazu später). Mama! Zwischen Windeln und dem Geruch von warmer Milch, von dem die Kinder allergisch werden, Kinderarzt, vielleicht auch der Zahnarzt, Übermüdung, vergessene Träume, der nach Mist riechende Ehemann, den man von Minute zu Minute vertröstet, bis er zu müde für die Liebe ist und schnarcht, während man selbst wach bleibt und an einem Stück Schokolade lutscht. Die Raffinesse entartet ab 40 zum Haß auf die durchstandenen Lebensmitte, nach der nichts mehr möglich ist außer der Depression, bekannt als „Oh, meine Nerven …“ oder aber die Befreiung namens „Ich will die Scheidung!“.
Der Mann wird immer dicker, man lächelt gar nicht mehr, die Kinder fahren Golf, anstatt zu studieren. Die Nachbarn schweigen, man ist allein. Suizid passt nicht rein, man will das Ablaufen der Bausparverträge erleben, schließlich ist man zu alt zum Bauen, benutzt das Geld für eine Weltreise oder was auch immer. Die Alte sitzt im Publikum, kann nicht richtig mitklatschen, wegen Rheuma, sie verschwindet, indem sie stirbt. Das ist Welt, wer als erster klagt, bekommt ein Zischen.
Die Männern: sie bleiben länger fesch, haben glattes Haar, auch hier das Blonde, Seitenscheitel wäre zu direkt, aber ab und zu eben doch, als Ausgleich ein Ohrenpiercing durch das Läppchen, unpassend, aber teuer, wie der Schlager an sich, Akkordeon gerne, auch mal eine Trompete … Gittare erst ab 30, etwas Country, das ist modern. Hässliche Zähne garantieren erschwertes Fremdgehen, man ahnt die Frau im Hintergrund, kein Mitleid, eher Neid, der Gatte singt. Natürlich die Lust auf Sex, symbolisch durch das Anstarren des Publikums, gerne blaue Augen, muß aber nicht sein, dunkle Augen gehen auch. Ein Lächeln, je dümmer, desto beruhigender. Dicke Gürtel, um den Bauch zu kaschieren. Jeans im Fernsehen, Väter sitzen mit seinen zwei Söhnen im Publikum oder aber auf der Bühne, wie Dekor. Man bemerkt die fast lächerliche Ähnlichkeit der Gesichtszüge zwischen Vater und Sohn, Mütter beglückwünschen sich, essen Kuchen, kauen langsam, blicken nervös um sich, bemerken die Kamera. Der Junge singt, Kinderlieder mit einem Hauch Alb, der Moderator fragt, das Kind wird verlegen, alles just in time, das Publikum ist begeistert. Symmetrie der Langeweile, eine Trance macht sich breit. Der Vater wird rot vor Freude, die Brezeln sind aus Kunststoff. Mitklatschen, hinter dem man verschwinden kann, man tarnt sich gegenseitig. Dazwischen Geburtstagsgrüße durch die weibliche Assistentin des Moderators, Tante Geesa aus Manzelsrieth wird geliebt und alle sind froh wegen des begonnenen 79. Lebensjahres. Der Interpret wippt immer noch.
Das Publikum: dermaßen alt, daß man sich beginnt zu wundern, wie sie überhaupt herantransportiert wurden, eine logistische Meisterleistung, man sucht unwillkürlich den Notarzt, manche Alten bewegen sich gar nicht mehr, Sonnenbrille, Rheuma, Erblindung, aber ein halbleeres Bierglas, sie leben! Dazwischen Kinder, die Enkel, wahllos, gelb vor Langeweile und Durst, weil weder Cola noch Fanta vertragen wird und der O-Saft zu teuer ist. Die Eltern rot vor Freude, sich zunickend, man kennt sich, obwohl man sich nicht kennt, und man lacht. Man lacht tatsächlich.
Es ist 7 Uhr. Es wird hell.
Die Alkoholikerin liegt da, endlich. Man wird abdominale Blutung sagen. Kann man denn daran sterben? Sogar im Schlaf? Wenn man getrunken hat … schon.
Vielleicht noch ein Gedicht? Ach nein … na schön, wegen dem Anlaß, aber nix Spinnertes!
Ein einziges Mal / Fuhrst Du an mir vorbei / Auf den glitzernden Wellen.
Starr war Dein Blick. / Des Schlafes Bruder / Nahm Dich in den Arm, / Trug Dich davon.
Nun liegst Du vor mir / Am schilfigen Ufer / Der Welt für immer entrückt.
In Deinem aufgelösten Haar / Algen und Pflanzen / Grabbeigaben des Sees.