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Die aufbewahrte Liebe

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19.08.2004
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Die aufbewahrte Liebe

Die aufbewahrte Liebe

Ich hatte immer große Angst vor der alten Mina, unserer Nachbarin, die stets so grimmig schaute und nie lachte, die ihren Mann, den armen Ernst, immer beschimpft und geschlagen hat, und die ich nicht einmal bei seinem Tod hab weinen sehen. Als Kind habe ich den Erwachsenen immer geglaubt, was sie über Mina erzählt haben, und es wurde nur Schlechtes über sie erzählt – schließlich war ihre Mutter ja schon ein böses, herzloses Weib gewesen.
Als ich etwa dreizehn Jahre alt war, da stieg die Mina an einem warmen Spätsommertag auf eine lange Leiter um die Reben an ihrem alten Haus zu schneiden, und fiel runter auf den harten Asphalt der Straße. Sie war damals schon ziemlich alt, klein, gebeugt und grau, hat immer vor sich hin gebrabbelt und uns Kinder ausgeschimpft, wenn beim Spielen mal der Ball in ihren gepflegten Blumengarten gefallen war. Wie sie nun so da auf der Erde lag, tat sie mir nicht einmal groß Leid, schließlich geschah ihr das doch recht. Das hatte sie jetzt davon, dass sie ihren Mann immer nur drangsaliert hat, dass sie ihn nicht lieb gehabt und ihn schon vor über acht Jahren ins Grab gebracht hat. Der hat doch sicher wegen ihr so viel getrunken, glaubte ich damals felsenfest.
Mina wurde ins Krankenhaus gebracht, ein Oberschenkelhals war gebrochen. Lange lag sie da im Spital, meine Eltern haben sie ein oder zwei Mal besucht. Aufstehen konnte sie wohl nie mehr richtig und wurde dann zum Pflegefall. Sie hat ihr Zuhause nie wieder gesehen.
Nun blieb dieses kleine Haus der alten Mina ganz verlassen, der schöne Garten ungepflegt und die Hühner im Hof herrenlos und ohne Aufsicht. Kinder hatte Mina keine, nur eine Nichte gab es noch, und die hatte nicht viel Zeit – oder Lust. Damals wusste noch keiner, ob Mina wieder heim kommen würde, also hat die Nichte meine Eltern gefragt, ob sie nicht in Minas Abwesenheit nach den Hühnern schauen könnten.
„Ihr habt ja Zeit“, sagte meine Mutter zu meiner Schwester Hilde und mir. „Ihr seid jetzt für die Hühner zuständig. Lasst sie morgens raus, gebt ihnen Futter und macht abends den Stall wieder zu. Und vergesst nicht, regelmäßig die Eier einzusammeln.“ Die Eier durften meine Eltern nämlich behalten, sozusagen als Lohn.
Anfangs fand ich das Ganze richtig spannend, wenn auch meine siebzehnjährige Schwester, immer gestänkert hat, sie hätte besseres zu tun. Der Hof, der Garten, die Scheune und der Hühnerstall kamen mir verwunschen und geheimnisvoll vor. Überall gab es etwas zu entdecken, vom Gipsei im Hühnernest, über die vielen wunderlichen Sachen, die im Schopf herumlagen, bis zum völlig von Spinnenwaben überzuckerten Heuboden. Nur ins Haus traute ich mich nicht. Welch irrsinnige Vorstellung einer Dreizehnjährigen: ich war fest davon überzeugt, dass es da spuken müsse, schließlich wohnte das Böse in diesem kleinen Haus, auch wenn Mina nicht mehr da war.
Mit der Zeit wurde ich dem allem überdrüssig, bald kannte ich jeden Winkel um das Haus herum. „Komm schon endlich, du Angsthase!“ drängte mich meine neugierige Schwester, bis ich endlich nachgab und mit ihr das Haus betrat, um es ebenfalls zu erforschen. Ich weiß noch, wie ich mich hinter Hilde versteckt habe, so getan habe, als hätte ich keine andere Wahl gehabt, als mitzugehen. Als ob mir das noch etwas genutzt hätte, wenn das böse Hausgespenst um die nächste Ecke gegeistert wäre.
Wir betraten das Haus durch die Hintertür vom angrenzenden Schopf her. Der Mief und die abgestandene Luft schlugen uns wie eine Drohung aus einem alten Geisterschloss entgegen. Heimlich wollte ich schon wieder in den Schopf verschwinden, doch Hilde packte mich fest an der Hand und zog mich weiter mit sich hinein in die Küche.
Überall stapelte sich Geschirr, schmutziges, sauberes, wild durcheinander. Wir hatten angenommen, dass Minas Nichte sich wenigstens um das Haus kümmern würde, aber es sah so aus, als wäre sie nie hier gewesen, um nach dem rechten zu sehen.
Auf dem Küchentisch lag ein Stopfei mit einem Wollsocken darüber, eine Nadel steckte noch darin, Mina musste die Arbeit mittendrin unterbrochen haben. Es waren handgestrickte Männersocken in einer großen Größe. Wir schenkten dem keine allzu große Beachtung, vielleicht brauchte Mina Ernsts alte Socken auf. Vermutlich war sie ein geiziger Mensch.
Im breiten Flur stand eine große Gefiertruhe. Die Truhe war von einer dicken Staubschicht bedeckt, und der breite Griff glänzte speckig schwarz und klebrig. Ich hab mich geweigert, sie anzurühren, aber Hilde, neugierig wie sie war, musste die Truhe einfach aufmachen. Randvoll war sie gefüllt mit Fleisch, Geflügel und Gemüse aus dem Garten, und alles war mit einer dicken Eiskruste überzogen – Mina hatte sie sicher seit Jahren nicht mehr abgetaut, geschweige denn von den Lebensmittel etwas aufgebraucht.
So ging unsere Entdeckungsreise weiter, durch Zimmer, angefüllt mit Blumentöpfen in den unterschiedlichsten Größen, Formen und Farben, die Pflanzen darin waren alle welk und braun, da keiner sie in den letzten Wochen gegossen hatte.
Mutig erklomm ich im Schlepptau meiner Schwester die Treppe in den ersten Stock. Überall war es staubig und muffig, überall lag nur alter Plunder, und es herrschte eine große Unordnung. In den meisten Zimmern waren zudem die Vorhänge zugezogen, sodass sie noch düsterer und abweisender erschienen. Irgendwie waren zwar alle Räume dicht angefüllt mit alten Dingen, aber alles sah unbenutzt und seit langem unbewohnt aus.
Schließlich kamen wir ins Schlafzimmer. Das Schlafzimmer war ein heller großer Raum mit zwei Fenstern, eines ging nach Süden, das andere nach Westen. Hier waren die Vorhänge aufgezogen, es war hell und freundlich, ja der Raum wurde förmlich von Sonnenlicht geflutet, in dem tausende Staubpartikel zu tanzen schienen. Tanzen? Ja tatsächlich, in diesem einen Raum war Leben.
Die rechte Betthälfte war deutlich als Minas Hälfte zu erkennen, ihr Nachthemd lag über der Decke und ein paar Taschentücher auf dem alten Nachttisch. Sogar ein aufgeschlagenes Buch in alter deutscher Schrift gab es da, und einen altmodischen Wecker, der aber stehen geblieben war. Es war erst drei Wochen her, seit Mina das alles zurückgelassen hatte.
Und – seltsam - auf der linken Betthälfte lagen Ernsts Sachen, ein Nachthemd auf dem ungemachten Bett, zwei Paar geflickte Hosen und ein Hemd auf dem Stuhl daneben. Irgendwie schien es, als hätte er dieses Zimmer nie wirklich verlassen, als hätte er hier weitergelebt, obwohl er schon lange tot war. Waren es wirklich acht Jahre her, seit er von hier weggegangen war?
An den Wänden hingen Fotografien von Menschen, die alle längstens tot waren, alte Aufnahmen mit einem leichten Gelbstich, ich kannte niemanden darauf.
An einer Wand stand ein wunderschöner alter Waschtisch mit Waschschüssel und Wasserkrug – er war zur Hälfte mit Wasser gefüllt. Daneben lag ein Stück trockener Seife. Hilde nahm sie in die Hand und schnupperte daran. „Hmm“ machte sie schwärmerisch, „riech mal daran! Das duftet nach Rosen.“ Sie hielt mir die Seife unter die Nase. Sie roch, wenn auch nur schwach, nach aufgeblühten Rosen. War das Minas Lieblingsduft gewesen?
Hinter der Waschschüssel stand ein Hochzeitsfoto. Ich nahm es und ging zum Fenster, um es genauer betrachten zu können. Erst erkannte ich die Brautleute nicht, schließlich ahnte ich aber, dass das Mina und Ernst sein mussten, jung und verliebt – das war nicht zu übersehen, so wie sie sich anschauten. Wie hübsch Mina darauf aussah. Mit kindlicher Ehrfurcht achtete ich darauf, das Foto wieder genau so hinzustellen, wie es gestanden hatte.
Als ich mich zum Bett umdrehte, saß Hilde auf der Bettkante, hatte Minas Buch in der Hand und las.
„Was machst du da?“ fragte ich sie voller Furcht, denn ich fühlte mich gar nicht mehr wohl in meiner Haut. Wir stöberten in der Privatsphäre eines Menschen, den wir verachtet hatten, und fanden einen Menschen, den wir nicht kannten. Und wir forschten immer weiter. Da fiel etwas aus dem Buch heraus und auf den Boden. Ich hob es auf. Es war ein Foto von Ernst mit einer aufgeklebten gepressten Rose.
„Leg es sofort zurück“, sagte ich beschämt zu Hilde, die gebannt auf das Foto in meiner Hand starrte. „Und dann lass uns gehen. Bitte!“
Hilde tat wie geheißen – soweit ich weiß, hatte sie vorher nie auf mich gehört. Sie stand vom Bett auf und strich die Stelle glatt, auf der sie gesessen war. Dann schlichen wir uns aus dem Schlafzimmer, die Treppe hinunter und aus dem Haus.
Ich habe das Haus danach nie wieder betreten. Und jedes Mal, wenn von Mina die Rede war, dachte ich an dieses Bild von Ernst mit der gepresste Rose und an die hübsche junge Mina auf dem Hochzeitsbild.

 

Hallo Lieschen,

eine sanfte, nachdenklich stimmende, schön formulierte Geschichte! Du schaffst es wunderbar mit deinem einfachen und doch anschaulichen Stil die leicht naive Sicht einer Dreizehnjährigen deutlich zu machen. Auch diese etwas engstirnige Dorfatmosphäre kommt gut rüber.
Womit ich nicht klarkomme, ist der Schluss. Erst dachte ich, die Kinder sollen begreifen, dass auch die böse, biestige Mina ein Herz hatte. Aber dann lässt du sie auf einmal Angst bekommen und aus dem verbotenen Haus fliehen und es nie wieder betreten. Damit wird die Entdeckung des „lebendigen“ Schlafzimmers wieder überlagert, und ich weiß nicht mehr genau, was die Aussage der Geschichte sein soll.
Ich würde darum die Angst weglassen, die Entdeckungen im Schlafzimmer noch ein wenig mehr betonen und die Kinder eher nachdenklich weggehen lassen.

Noch paar Einzelheiten:


Ich hatte immer große Angst vor der alten Mina, unserer Nachbarin, die stets so grimmig schaute und nie lachte, die ihren Mann, den armen Ernst, immer beschimpft und geschlagen hat, und die ich nicht einmal bei seinem Tod hab weinen sehen.

Toller Einstieg.


Der hat doch sicher wegen ihr so viel getrunken, glaubte ich jedenfalls damals felsenfest in meiner kindlich pubertären Weisheit.

Jedenfalls = Füllwort. Auch so wirkt die Stelle etwas unbeholfen, denn es ist fast zuviel des Guten. Du machst schon so mit Stil und Blickwinkel deutlich, dass hier mit „pubertärer Weisheit“ erzählt wird, da hast du es gar nicht nötig, das noch mal rauszustellen.
"Der hat doch sicher wegen ihr so viel getrunken, glaubte ich damals felsenfest." reicht völlig, finde ich!


... also hat diese meine Eltern gefragt, ob sie nicht in Minas Abwesenheit ein bisschen nach allem schauen könnten � besonders nach den Hühnern. Damals war ja noch nicht klar, dass Mina nie mehr heim kommen würde.

Bisschen unbeholfen, das angeflickte „damals war ja noch nicht klar ...“ Lieber den ganzen Absatz z.B. mit „Anfangs war noch nicht klar, ob Mina noch einmal heim kommen würde“ einleiten, dann mit der Bitte der Nichte weitermachen.

... bis zum völlig von Spinnenwaben überzuckerten Heuboden.

Toll formuliert!


Der Mief und die abgestandene Luft schlugen uns wie eine Drohung aus einem alten Geisterschloss entgegen.

Auch toll!


Vermutlich war sie ein geiziger Mensch � die Bezeichnung �sparsam� wäre mir damals nicht in den Sinn gekommen.

Auch hier das Erklärende lieber weglassen. Ein „Bestimmt war sie sehr geizig“, macht es deutlich genug. Am Schluss soll ja klar werden, dass die Mina vielleicht doch anders war.


Überall stapelte sich Geschirr, schmutziges, sauberes, wild durcheinander .
Das fand ich ein bisschen unlogisch: Auch, wenn die Nichte wenig Zeit hat, hat sie doch sicher einmal das Haus durchgesehen, um zu sehen, ob etwas dringendes ansteht (z.B. Waschmaschinenhahn zudrehen) und grob aufgeräumt, denke ich mir.


Tanzen? Ja tatsächlich, in diesem einen Raum war Leben.

Sehr lebendig.


Mit einem Mal sah ich die alte Mina in einem völlig anderen Licht, plötzlich wurde sie in meinem Kopf zu einem menschlichen Wesen mit echten Gefühlen und Sehnsüchten.

Bisschen zu deutlich für meinen Geschmack. Dass sich die Sichtweise der Prot ändert, sollte mehr aus der Beschreibung hervorgehen. Darum die Stelle im Schlafzimmer lieber noch mehr betonen und dafür andere Sachen straffen.


Plötzlich knarrte irgendwo eine Diele, vielleicht kam das Geräusch vom Dachboden über uns, vielleicht aber auch aus einem angrenzenden Raum, ich weiß es nicht, wollte es auch damals gar nicht wissen, ich wollte nur noch weg, raus aus diesem Haus, das wir ohne Erlaubnis betreten und durchforstet hatten.

Warum? Wie gesagt, mit diesem Abschnitt komme ich nicht klar. Geht es um Angst oder um Einsicht?


So aber finde ich es eine gut formulierte und sorgfältig angelegte Geschichte.

Viele Grüße
Pischa

 

Hallo Lieschen,
auch ich finde du hast eine gute Geschichte über Vorurteile geschrieben. Erwachsene merken oft nicht, dass sie mit ihren hinter vorgehaltener Hand verbreiteten Meinungen, Ängste in Kinder schürren. Auch ich kann mich an so eine Frau aus meiner Kindheit erinnern, leider war es mir nicht vergönnt jemals hinter deren Fassade zu blicken, und ob du es glaubst oder nicht, noch heute nach mehr als 30 Jahren beschleicht mich ein eigenartiges Gefühl, wenn ich an dem Haus vorbei gehe, in dem sie einst wohnte.
Aber wie bereits Pischa geschrieben hat kann auch ich das Ende nicht so ganz nachvollziehen, gerade haben die Kinder entdeckt, dass in dieser "dunklen Person", Leben und Liebe steckte und dann laufen sie fort. Sicher war es etwas Verbotenes was sie taten, denn sie waren ja ungebeten in das Haus gegangen, das ist schon klar, aber es zerstört irgendwie den schönen Sinneswandel des Mädchens, um den, so glaubte ich jedenfalls es in der Geschichte ja ging.

Trotzdem hat deine Geschichte mich gut unterhalten.

Lieben Gruß
Angela

 

Hallo Pischa, hallo Angela

Vielen Dank für Euer Feedback und Eure Hinweise, ich freue mich sehr darüber. :D

Ich muss gestehen, dass ich mit dem Schluss selbst so meine Probleme habe. Das Thema sollte eigentlich schon sein, dass nicht das Äussere (Sorry für Doppel-S, tippe eben auf einer Schweizer Tastatur) und das Gerede das wirkliche Wesen eines Menschen preisgeben, und dass die Kinder, besonders das erzählnde Ich, im Schlafzimmer eine ganz andere Mina kennenlernen.
Ich hatte zuerst einen ganz anderen Schluss ausgearbeitet, diesen aber wieder verworfen, weil er so "erwachsen" geklungen hat.

Ich werde die Geschichte noch einmal überarbeiten.
Kann ich hier eigentlich die Geschichte als bearbeitete Version wieder veröffentlichen und auch so kenntlich machen? (Bin noch neu hier!) :confused:

Viele Grüsse
Lieschen

 

Hallo Lieschen,

du hast dein Problem inzwischen gelöst, wie ich sehe. Ich bin auch neu hier, aber so weit ich es durchblickt habe, werden die Geschichten hier nur editiert und keine zweite oder dritte Version neu eingestellt. Ich schätze, sonst verliert man hier in diesem Riesenforum komplett den Überblick!

Jedenfalls hat mir die überarbeitete Version sehr gut gefallen (Hast ja auch meine Tipps beherzigt ... ;) ;)

Das Ende ist jetzt rund. Etwas Beschämung in die Erkenntnis und den leichten Grusel zu mischen fand ich eine gute Idee. Deine Beschreibungen in dem Schlafzimmer sind gefühlvoll, ohne in Kitsch abzugleiten.

Wirklich schöne Geschichte! :thumbsup:

Viele Grüße
Pischa

 

Hallo Lieschen,
gut gemacht, so gefällt mir deine Geschichte nochmal so gut.

Liebe Grüße
Angela

 

Hallo Pischa, hallo Angela

Vielen Dank für Euer Lob! :D
Das spornt an zum Weitermachen.

Ich muss sagen, jetzt gefällt mir die Geschichte auch viel besser, und ich bin auch zufrieden mit dem Schluss.

Viele Grüsse
Elisabeth

 

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