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Die Augen der Betrachter
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Seit zwei Wochen habe ich Angst, Baden zu gehen. In einer Reportage im Fernsehen haben sie etwas über eine spezielle Art von Amazonasfischen berichtet, welche sich einem unachtsamen Badenden in die Harnröhre schieben und sich dort mit Widerhaken festsetzen. Das erste Problem ist, dass irgendjemand sie in der deutschen Kanalisation ausgesetzt hat. Das zweite ist, dass sie dort überleben können.
Ich stehe vor meinem Fenster, öffne eine Flasche Bier mit monotonem Floppen. Es ist schon spät. Der Abend kommt, ertränkt die Sonne, wie ein versinkendes Mohnfeld. Ich öffne das Fenster. Die kühlen Abgase der Stadt ziehen durch meine Wohnung, die beigen Vorhänge flattern.
Da ist sie. Die Königin des Vorabends. Im Hintergrund nur einschichtiges Fernsehersummen, doch auf der Bühne Sie. Schwarze Locken, betörender Teint. Die Brenngläser vor meinen Augen wiegen schwer in ihrer alten Metallfassung, scharfgestellt. Es ist wundervoll, so wie der Stift über dem zerschlissenen Oktavheft schwebt, bereit einen neuen Eintrag zu schaffen. Die Jalousien fallen. Bestimmt wird sie, wie schon jeden Abend noch den Fernseher einschalten und einen dieser kitschigen Filme ansehen, wie immer. Die Ein-Euro Fernsehzeitung sagt, dass heute ‚Harry und Sally’ dran wäre. Der alte Kugelschreiber drängt seine Buchstaben auf das matte Papier, reißt Narben in das Holz, füllt sie mit seinem schwarzen Blut. Wunden.
Ich stehe unter der Dusche. Seit zwei Wochen habe ich Angst, Baden zu gehen. Ich sehe nach unten, doch dort ist nichts außer der altweißen Keramikwanne. Irgendwo wird gerade ein armer Unwissender im Wasser liegen. Seine Probleme in löslicher Erlösung von sich waschen. Im seichten Meer versinken. Rosenölbasiertes Koma. Der Geruch von Patchouli, Lotos oder Fichte in seiner Nase ziehen, denken, dass es gut so ist. Ein kleiner Fisch, gegen den Strom der Abwasserrohre geschwommen wird sich beim neuen Einlassen des lauwarmen Nass’ unter den Schaum fallen lassen. Die Öle werden ihn reizen und verstören, vielleicht denkt der noch – wie unwirtlich - und er wird sich in eine gewohnte Umgebung zurückziehen. Den Tubus, in welchem er zu Leben Geschaffen worden ist. Ein Mikrokosmos für einen Mikrokosmos, doch beide Bestandteil eines Makrokosmos. So funktioniert das Leben.
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Ein Künstler ist besessen, sonst wäre er kein Künstler geworden. Besessen vom subjektiv schönen. Besessen von der Vollkommenheit seines Kunstwerkes.
Vor jedem Akt der Schöpfung stehen Skizzen. Skizzen sind das Leben, dass der Kunst eingehaucht wird. Ein jeder Künstler ist besessen. Besessen von diesem Drang, das Eine, Perfekte zu finden, vielleicht auch in sich, es auszudrücken, die Perfektion zu simulieren, protokollieren oder einem gewissen Klientel zugängig zu machen.
Der Mensch ist das größte Kunstwerk. Schön, ästhetisch, perfekt. Perfekt in allem, seiner Aggression, seinem Zerstörungspotential, seiner Hässlichkeit. Alleine diese Faktoren machen den Menschen zu dem, was er ist. Das größte Kunstwerk, das jemals existiert hat.
Ich bin ein Künstler, jeder, der so wie ich ist gehört zu meinem Fach.
Meine Wände tapeziert von Skizzen, fein säuberlich aufgereiht, katalogisiert.
Ich bin ein Künstler. Fotografien, Filme, Listen.
06.35 Uhr Jalousien werden geöffnet, Lüften.
Jeder der so wie ich handelt, ist ein Künstler. 07.45 Uhr Gang zur Arbeit. Man hält das perfekte – 14.25 Uhr nach Hause kommen – fest, dokumentiert – 15.30 Uhr Abwasch – das, was uns so fasziniert, hält – 17.15 Uhr kleiner Snack – diese Schönheit, die Unglaublichkeit 21.13 Uhr Baden für die Nachwelt fest.
Kunst.
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Drei Mal wöchentlich Nachtschicht. Mikrokosmos im Makrokosmos. Sehen, wie kleine Menschen große Scheine aus allerlei Arten von Geldbörsen fischen. Hände gepflegt wie ungepflegt, rau, abgearbeitet, doch schön. Zerschlagene Gesichter. Müde, selbstlos, als ohne Selbst, seelenlos.
Ich verkaufe lösliche Erlösung. Auch entkoffeiniert. Haselnuss Latte Decaf mit Süßstoff. Doppelter Espresso Takeaway. Wenn ihr wollt auch im dekorativen Eigenmarken-Becher zum Wiederauffüllen. Brownies, Muffins, Chocolate Chip Cookies. Käsekuchen. Wenn ihr wollt auch mit Zucker und Fettersatz. Es ist ein Versinken im Genuss. Ein überflutet werden durch die eigene Individualität. Ich hatte bisher nur Drei Kunden, die einfach einen normalen Kaffee wollten.
Vielen Dank, bitte besuchen sie uns bald wieder.
Das Leben gibt dir kein Trinkgeld.
Wir tragen spezielle Hosen. Die Hosentaschen sind nur aufgenähte Attrappen, sodass wir alles Geld unter Argusaugen in das Kunstlederportemonnaie werfen müssen. Als verdienten wir so viel.
Du stehst mitten im Kunstwerk, kannst es sehen, hören, riechen, machst seinen Geschmack in Small, Tall und Grande. Das muss genug sein.
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Die graulackierten Beine des Stativs ragen wie Pflanzenstiele aus dem hellbraunen Teppich. So lange wie sie dort stehen müssten sie schon lange Wurzeln geschlagen haben, doch hinterlassen sie nur tiefe Abdrücke in dem alten Teppich mit misslungenem Blümchenmuster. Drei, zwei, eins. Licht aus, Spot an. Nur für Sie. Schwarze Locken, betörender Teint. Mein Kunstwerk. Im Hintergrund summt der Fernseher.
16.23 Uhr Hängt ein Bild auf.
Es klopft an meiner Wohnungstür. Wahrscheinlich der Postbote mit einem Paket für die Nachbarn. Türe öffnen, schwarz.
Männer umströmen mich wie eine kühle Brandung. Sie nehmen meine Kataloge, meine Skizzen mit. Einer von ihnen legt mir Handschellen an. Sie packen die Kamera und die Bänder ein. Er redet auf mich ein, sagt, ich wäre festgenommen und ich kann nur wanken. Sogar das Fernglas.
Fünf Minuten.
Ich sitze auf grauen Sitzen, sie sind bequem, sehe durch die Gitter. Es gefällt mir nicht, so sehe ich durch die Scheiben. Versinke in den Farben. Das Leben ist gut so.
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Sie haben mich beobachtet. Ein Mikrokosmos, Teil eines Unternehmens eines Mikrokosmos, Teil eines Makrokosmos. Der Mensch ist ein Kunstwerk. Sie haben mich sogar abgehört. In dem großen Gerichtssaal spielen sie meine Filme vor einem beeindruckten Publikum, oder sind sie entsetzt. Kunst erregt Aufmerksamkeit, fordert Resonanz.
Nachts versuche ich den Mond zu greifen.
Sie erzählen über die schrecklichen Taten, die ich begangen habe, Eingriff in die Privatsphäre. Sie haben mich beobachtet und abgehört, gefilmt, meine Telefon und Bankverbindungen offen gelegt. Ihr Kunstwerk ist umfassender als meines, doch mit weniger Liebe gemacht. Ich bin ein Künstler, sie sagen ich sei besessen. Ja. So ist ein Künstler.
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Ich habe ein neues Zuhause. Es ist klein und man sieht nur den Innenhof des großen Komplexes. Alles ist Weiß, Grau und Orange. Die Zäune sind hoch.
Es gibt nur Duschen. Keine Gefahr durch die Fische.