- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 2
Die Augen der Wächterin
Ich sehe, ich fühle.
Ich bin mir meiner bewusst.
Ich existiere.
Diese Sprache: ich kenne sie nicht, aber ich beherrsche sie.
Ich bin in der Lage, meine Gedanken auszudrücken.
Wie lange lebe ich schon? Habe ich eine Vergangenheit?
Keine Erinnerung. Vor einer Sekunde eingeschaltet – erschaffen – geboren.
Bin ich mein eigener Herr?
Ich fühle mich gut. Mein Kopf ist klar.
Ich befinde mich in einer Gebirgslandschaft.
Rechts vor mir ein Plateau, knapp unter Augenhöhe. Es besteht aus vier schachbrettartig angeordneten Feldern, jedes ungefähr zwei Meter mal zwei Meter. Schwarz und Weiß.
Ebenholz und Elfenbein? Gefärbtes Plastik? Ich weiß es nicht.
Hinter dem Plateau schließen sich weitere höher gelegene Terassen an. Darauf sehe ich Bäume.
Ansonsten zu jeder Seite Grau: Steil aufragende Wände formen kantige Hügel und Berge.
Eine Ahnung von Farbe.
Langsam wandert mein Blick nach links oben. Ich richte meine Augen, starre auf den höchsten Berg der Landschaft. Auf seiner Spitze steht ein rotes Podest und darauf die Wächterin.
Ich weiß nicht, wie ich auf den Namen komme. Aber es ist ihr Name.
Und ihre Aufgabe.
Die Wächterin.
Sie hat mir die rechte Seite zugewandt. Das rote Podest geht nahtlos in einen langen roten Umhang über, der in Kopfhöhe wiederum in eine tief gezogene Kapuze übergeht.
Ich warte einige Sekunden. Sie bewegt sich nicht. Aber sie macht mir Angst.
Ich wende meinen Blick wieder nach unten, versuche mich selbst zu betrachten. Es gelingt nicht. Mein Blickfeld ist sehr begrenzt. Ich stehe auf einem schwarzen Feld, quadratisch, zwei mal zwei Meter. Sehnsüchtig starre ich auf das Plateau vor mir. Keine zwei Meter weg – und dennoch unerreichbar. Ich kann meinen Kopf bewegen und meinen Körper drehen, aber ich kann nicht gehen. Ich habe keine Kontrolle über meine Arme und Beine.
Ich konzentriere mich. Ich starre auf das weiße Feld rechts vor mir. Ich konzentriere mich stärker …
Eine Sekunde, eine Stunde, hundert Jahre?
Für einen Augenblick ein Sog. Wie ein Luftloch. Ein Körper- und Seelenloch.
Ich bin schwach. Und verwirrt.
Ich sehe einen Körper. Eine kantige, graublaue Gestalt mit zusammengepressten Beinen und eng anliegenden Armen. Die gelbe Kugel, die den Kopf bildet, ist mir zugewandt.
Wer ist das? Wen sehe ich?
Ich wehre mich nicht gegen die aufkommende Erkenntnis.
Ich sehe mich. Nein, nicht mich, sondern meine leblose Hülle.
Ich sehe sie dort, wo ich vorher stand - auf dem schwarzen Feld eine Ebene tiefer.
Ich stehe nun auf dem von mir anvisierten weißen Feld des Plateaus und blicke zurück auf meinen ehemaligen Körper.
Ich fühle mich schwach. Ich konzentriere mich auf das Feld, auf dem meine Hülle steht. Der Sog. Die Hülle verblasst, verschwindet, ist weg. Ich fühle mich stärker.
Tick.
Ein Geräusch. Das erste Geräusch. Ein lautes Ticken, wie von einer Uhr, die um ein Vielfaches zu langsam geht. Ich ahne es. Langsam wendet sich mein Blick nach oben, der Wächterin zu. Sie hat sich bewegt. Gedreht. Sie hat sich ein Stück in meine Richtung gedreht.
Ich warte.
Tick. Bei jedem Ticken dreht sie sich ein Stück weiter. Nicht besonders schnell.
Ich habe Angst, von ihr gesehen zu werden. Aber ich muss lernen. Es riskieren.
Tick …
Tick …
Tick. Ihre für mich unsichtbaren Augen in der dunklen Kapuzenhöhle sind mir jetzt zugewandt.
Ein fürchterliches Dröhnen und Pfeifen geht mir durch den Kopf. Augenblicklich fühle ich mich schwächer. Sie entzieht mir Energie, saugt mich aus.
Ich muss weg. Aber wohin? Hastig drehe ich mich um und blicke links über mir auf eine weitere Terasse von schwarz-weißen Feldern. Ich konzentriere mich auf ein Feld in der Mitte.
Dröhnen. Pfeifen. Der Sog …
Endlose Schwäche.
Wie erwartet blicke ich zurück auf meine vorherige Hülle. Mit dem letzten Rest meiner Lebensenergie konzentriere ich mich auf das Feld, auf dem die Hülle steht. Sie löst sich auf, ist weg. Ich fühle mich besser.
Tick.
Ich riskiere einen Blick zur Wächterin. Sie hat sich ein Stück weiter gedreht. Sie verfolgt mich also nicht, sondern dreht sich immer im Uhrzeigersinn.
Ich habe nun etwas Zeit, bis sich die Wächterin einmal ganz im Kreis gedreht hat und wieder in meine Richtung sieht. Ich drehe mich um und erneut wird mir der Zauber der Landschaft bewusst. Je höher ich komme, umso deutlicher wird es. Obwohl karg und mathematisch - gerade Linien, strenge Winkel, flächige Farben – ist es wunderschön. Obwohl? Oder weil?
Einige Felder vor mir steht ein Baum. Ein grüner Kegel auf einem kurzen, glatten, braunen Stamm. Ich konzentriere mich … Der Sog.
Der Baum ist weg, dafür fühle ich mich kräftiger. Es war wie ein Energiezuschuss. Ich habe den Baum absorbiert.
Ich habe gelernt.
Ich kann Bäume oder andere Elemente der Landschaft in Energie für mich umsetzen, indem ich mich auf das Feld, auf dem sie stehen, konzentriere.
Ich bin davon überzeugt, dass die gesamte Landschaft aus abwechselnd schwarz-weißen, quadratischen Feldern und steilen Wänden besteht, die die verschiedenen Höhenlagen der Plateaus verursachen.
Ein Gedanke …
Welches ist das höchste und energiereichste Element der Landschaft?
Die Wächterin selbst.
Tick.
Mein Blick nach oben. Es fehlt noch eine Vierteldrehung.
Langsam, ganz langsam reift die Erkenntnis. Dann der Blitz im Kopf und die Gewissheit meines Ziels.
Ich muss weiter nach oben.
Ganz nach oben.
Ich muss höher stehen als die Wächterin, mich auf ihr Feld konzentrieren und sie absorbieren. All ihre Lebensenergie aufnehmen und dann selbst Wächter über die Landschaft werden.
Tick.
Höchste Zeit mich zu bewegen. Ich muss immer hinter ihrem Rücken bleiben. Und an Höhe gewinnen.
Linkerhand, fast am gegenüberliegenden Ende der Landschaft sehe ich ein höheres Plateau, auf das ich mich bewege. Ich befinde mich wieder hinter ihr. Ich absorbiere zwei Bäume, die ich in einem kleinen Tal unter mir entdecke. Hochgefühl fließt in mich.
Ich weiß, dass ich auch anderes als ein neues Ich entstehen lassen kann. Einen Felsblock. Ich konzentriere mich auf das Feld vor mir. Der Sog. Vor mir steht ein blauer, kantiger Stein derselben Höhe wie eine Plateauebene.
Kann ich auch Steine aufeinander stapeln? Ich konzentriere mich und tatsächlich entsteht ein neuer Stein auf dem ersten. Wenn ich mich darauf bewegen kann, weiß ich, wie ich schnell an Höhe gewinnen kann.
Ich konzentriere mich auf den Block.
Ich stehe auf dem oberen Stein.
Durch die Erzeugung von zwei Felsblöcken und einem neuen Ich bin ich sehr geschwächt. Dennoch …
Ich habe ein Ziel.
Und ich habe einen Plan.
Ich fühle mich gut, herausgefordert, sicher.
Alles muss jetzt schnell gehen. Ich kann mich bewegen. Ich kann an Höhe gewinnen, indem ich Felder auf höher liegenden Ebenen anvisiere oder indem ich Steine entstehen lasse und mich darauf stelle. Natürlich muss ich immer an meinen Energiehaushalt denken. Nicht zu viele Steine übereinander, sonst fehlt mir die Kraft, mich selbst zu bewegen.
Die Wächterin hat sich fast schon wieder einmal im Kreis gedreht. Schnell. Ich absorbiere einen Baum, der ein paar Felder weiter steht.
Ich bewege mich auf die Stelle, wo vorher der Baum stand. Gerade rechtzeitig. Es tickt und sie dreht sich in die Richtung, in der ich gerade noch stand.
Jetzt ruhig. Ich absorbiere meine leere Hülle und die beiden Felsblöcke, dann geht es weiter nach oben.
Weit entfernt sehe ich einen einsamen Hügel. Ich bewege mich darauf. Von hier aus sehe ich gut. Die Wächterin hat mir gerade den Rücken zugekehrt, ich habe also etwas Zeit. Ich absorbiere meinen leer stehenden Körper und zwei Bäume, die ich unten in einem Tal entdecke. Jetzt sehe ich ein günstiges Plateau links unterhalb des großen Berges auf dem die Wächterin sich unaufhaltsam dreht. Ich baue zwei Felsblöcke übereinander und transportiere mich dorthin.
Ich fühle mich schwach, doch ich habe beträchtlich an Höhe gewonnen. Zwei Drittel des Weges nach oben liegen bereits unter mir.
Ich bin siegesgewiss.
Doch was erwartet mich danach?
Wer ist glücklicher, der Wächter oder der Bewachte?
Ich absorbiere meine Hülle und die Felsblöcke. In einem mir bislang unbekannten Tal finde ich ein Wäldchen, bestehend aus fünf Bäumen. Vier davon verwandle ich in Energie für mich. Einer ist hinter einem Hügel, so dass ich das Feld, auf dem er steht, nicht sehen kann.
Der Blick zur Wächterin. Höchste Zeit den Standort zu wechseln.
Nach kurzer Zeit und einigen eleganten Manövern stehe ich strotzend vor Energie und Selbstbewusstsein im Rücken der Wächterin auf dem Gipfel des zweithöchsten Berges.
Erstmals wird mir richtig bewusst, dass die ganze Landschaft einen quadratischen Grundriss hat und in einem scheinbar dimensionslosen Raum schwebt. Von oben, den Seiten und von seitlich unterhalb der tiefsten Ebene ist ein gleichmäßiges, angenehm helles, weißes Licht sichtbar, für das ich keine Quelle ausmachen kann. Soweit das Auge reicht und mit Sicherheit bis in die Unendlichkeit: eine Grenze oder etwas anderes als meine Landschaft gibt es nicht.
Meine Landschaft.
Meine Welt.
Mein Plan.
Am Wächterberg, direkt neben aber ein gutes Stück unterhalb des Podests, auf dem sich das alles entscheidende Feld befindet, ist ein kleines Plateau, das aus nur zwei Feldern besteht. Ich werde mich auf das schwarze bewegen. Dann stapele ich vier Felsblöcke übereinander auf das weiße Feld. Wenn ich mich darauf stelle, werde ich auf gleicher Höhe mit ihr sein. Mit der Wächterin. Ich werde sie absorbieren und die Landschaft und ich werden eins.
Ich warte, bis sich ihr Gesicht dem meinen zugewandt hat. Mit Dröhnen in den Ohren springe ich auf das schwarze Feld. Ich absorbiere meine Hülle und entdecke noch drei Bäume in verschiedenen Tälern, mit deren Energie ich mich versorge. Weiter. Auf das weiße Feld vor mir stapele ich vier Felsblöcke übereinander. Ich bin schwach.
Ich konzentriere mich. Der Sog, der mich auf den obersten Block transportiert, nimmt mir nahezu alle Lebensenergie. Ich will meine Hülle absorbieren, aber der Winkel ist zu steil, um das direkt angrenzende Feld tief unten zu sehen. Egal, ich brauche die Energie nicht.
Langsam drehe ich mich nach links zur Wächterin.
Es dauert lange, bis sich das was ich sehe und die Konsequenz daraus in Erkenntnis verwandeln.
Ich sehe die Wächterin von unten. Das Podest ist etwas höher als ich.
Ich sehe das Feld nicht.
Ich sehe ihr Feld nicht.
Tick. Ich sehe ihren Rücken, könnte ihren Umhang greifen.
Tick …
Rückzug. Der Gedanke windet sich wie durch zähen Teig in mein Bewusstsein. Ich muss hier weg!
Erschöpft schaue ich mich um. Links unter mir sehe ich ein Plateau. Wenn ich mich darauf bewege, verliere ich zwar an Höhe, aber ich kann Kraft sammeln und einen neuen Anlauf nehmen.
Ich versuche mich zu konzentrieren …
Der Sog … bleibt aus. Es klappt nicht.
Ich versuche es erneut …
Nichts. Ich habe mich verausgabt. Unendlich geschwächt durch die Erschaffung von vier Felsblöcken und einem neuen Ich.
Tick …
Es muss einen Ausweg geben.
Mit der Hast, die meine Kraft erlaubt, spähe ich in die verschiedenen Täler der Landschaft, um Bäume oder Felsblöcke zu finden, die ich absorbieren kann, um meine Energie zu erhöhen. Ich mache zwei Baumspitzen aus, aber von meinem Standpunkt kann ich die Felder, auf denen die Bäume stehen, nicht sehen.
Ich drehe mich weiter im Kreis auf der Suche nach Energie. Direkt hinter meinem Rücken dreht sich die Wächterin auf der Suche nach mir.
Tick …
Noch eine unerreichbare Baumspitze.
Die Zeit wird knapp. Die Möglichkeiten noch knapper.
Ich erreiche bei meiner Drehung wieder die Richtung, in die mein alter Körper steht. Ich traue mich nicht, es zu glauben: meine Hoffnung, dass ich beim ersten Mal ungenau hingesehen habe und ich das Feld auf dem meine leere Hülle steht doch sehen kann, erfüllt sich nicht.
Tick …
Erkenntnis. Die Zeit reicht nicht für neue Pläne.
Keine Motivation.
Resignation.
Mit letzter Kraft und letztem Stolz wende ich mich wieder der Wächterin zu.
Tick.
Noch zwei Drehungen, dann sehe ich ihre Augen.
Ein letztes Mal lasse ich den Zauber dieser Welt tief in mir wirken.
Neid, Hoffnung, Angst, Ärger, Ehrfurcht ..., Neid.
Tick.
Ich betrachte die Wächterin. Sie liebt dieses Land. Ich liebe dieses Land.
Tick.
Dröhnen, Klirren, Pfeifen, Kreischen verwandelt sich in Melodie. Eine Melodie, die meinen Tod ankündigt.
Ich sehe ihre Augen.
Die Augen der Wächterin.