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Die Augen von einem verraten nichts
Mein Vater brachte mir die schnelle Linke bei. Ich erinnere mich, wie er frühmorgens in der gekachelten Waschküche im Keller vor mir stand. Es war nicht viel Platz, die Wäscheleinen hatte er abgehängt, Flaschenkisten und Arbeitsschuhe an die Seite gestellt. Er beugte sich zu mir und hielt zwei Holzlöffel in die Luft. Dann ließ er einen los. War ich zu langsam, den fallenden Löffel mit meiner linken Hand zu greifen, bekam ich eine sanfte Ohrfeige.
„Die Augen von einem verraten nichts“, sagte er ruhig. „Schau deinem Gegner aufs Schlüsselbein. Da siehst du, wenn er zuckt, noch bevor er selbst weiß, was er tut.“
Ich wäre lieber zum Fußballspielen auf den Bolzplatz, wie die anderen Jungs aus unserem Block, aber mein Vater meldete mich beim Boxen an. Er fuhr mit mir zum ersten Training, lehnte an der Wand und sah beim Warmmachen zu. Als ihm jemand anbot, sich auf die Bank bei den Spinden zu setzen, winkte er ab. Wir machten Technikübungen, Partnerarbeit an den Pads, gingen an den Sandsack. Adam, ein kantiger Pole mit kurzen Haaren, der das Training leitete, klopfte mir auf die Schulter, weil ich mich nicht schlecht anstellte, wie er meinte.
Auf der Rückfahrt durfte ich das Radio aufdrehen. Die Fenster waren heruntergelassen und ich streckte meine Hand in den kühlen Fahrtwind.
Zwei oder drei Mal kam mein Vater mit. Er sah mir beim Aufwärmen zu, beim Technikteil, beim ersten Sparring, an die Wand gelehnt, die Arme verschränkt. Dann ging ich alleine - vier Mal in der Woche. Wenn ich herauskam, verschwitzt, die Sporttasche über meiner Schulter, stand er schon auf dem Parkplatz und wartete. Er nickte mir zu, ich legte meine Tasche auf den Rücksitz des alten Passats und stieg ein. Manchmal fuhr er mir durch die Haare.
Er war ein großer, hagerer Mann, immer gut rasiert, die kurzen Haare zur Seite gekämmt. Wenn ich an ihn denke, sehe ich ihn niemals grinsen. Ich sehe ihn mit seinen hellblauen Augen in unserer kleinen Küche sitzen, sehe, wie er einen Schluck Kaffee nimmt, ihn im Mund behält, lange, dann erst schluckt, so, dass das Schlucken was Besonderes ist. Seine Arme voller Sommersprossen. Dünn, aber stark wie ein Bär mit Venen, die hervorstanden, wenn er auf Arbeit schwere Dinge trug, als ob es nichts wäre.
Mein erster Kampf war nach anderthalb Minuten vorbei. Ich erinnere mich an das Gefühl, das ich beim Einatmen hatte, als ich durch die Seile in den Ring stieg. Mein Körper war so aufgeheizt, dass sich die Luft merkwürdig kühl anfühlte und in der Nase kitzelte. Ich hörte kaum, was der Ringrichter zu uns sagte, während er die Handschuhe kontrollierte und den Mundschutz sehen wollte. Als es losging, merkte ich, dass ich der Bessere war. Meine Schläge trafen hart und ich bewegte mich schnell. Mein Gegner hatte Angst im Blick. Am Ende stand er nur noch in der Doppeldeckung und nahm meine Haken, bis seine Ecke das Handtuch warf. Ich begriff nicht, was los war. Erst als Adam mir ein Zeichen gab, verstand ich. Die älteren Jungs klopften mir auf die Schulter oder schlugen mit mir ein, als ich aus dem Ring stieg und ich fühlte mich in diesem Moment ganz groß.
Mein Vater wartete vor der Halle. Als ich herauskam, streckte er seine Hand aus. Ich gab ihm die Medaille, die sie mir im Ring um den Hals gehängt hatten und er wog sie zwischen seinen Fingern.
„Gegen so jemand ist das nichts wert“, sagte er.
Er gab sie mir zurück. Auf der Rückfahrt fuhr ich das Band entlang, strich über die Gravur und die Maserung. Zuhause legte ich sie in meine Schreibtischschublade.
Ich war oft der erste im Gym. Bevor ich mich warmmachte, bandagierte ich meine Hände. Ich begann mit dem Daumen, stabilisierte das Handgelenk, indem ich den Stoff mehrmals darum wickelte, zog nach, ging über den kleinen Finger, zog nach, Ringfinger, Mittel- und Zeigefinger. Zurück über den Daumen. Es gibt unterschiedliche Methoden, wie man die Hände wickelt, aber wenn man es einmal auf eine bestimmte Art und Weise gelernt hat, bleibt man dabei.
Zum Warmmachen sprang ich Seil - fünf mal drei Minuten. In den letzten Runden wechselte ich zwischen normalem Tempo und Sprints. Danach dehnte ich mich, begann bei den Beinen, ging über die Hüfte, die Arme und Schultern bis zu Hals und Kopf, drehte meine Fußknöchel und Handgelenke, um sie zu lockern. Beim Schattenboxen variierte ich explosive Kraft oder Tempo, machte einzelne harte Schläge oder arbeitete durchgehend mit niedriger Intensität. Ab und an nahm ich kleine Gewichte dazu. Danach waren meine Bewegungen doppelt so schnell und ich wusste, die nächsten Tage würden meine Schultern schmerzen, aber für einen Moment fühlte ich mich wie Roy Jones Jr.
Gelbe Linien auf den Matten am Boden halfen die Schritte, Abstände und die richtige Winkelarbeit zu überprüfen.
„Er zwingt dich in die Ecke“, rief Adam, während wir uns wie einsame Tänzer durch die Halle bewegten. „Was tust du? Er kontert deinen Jab – Was machst du?“ Ich suchte im Kopf nach Antworten, während ich die Linien im Blick behielt und meine Schritte so sorgsam setzte, als wäre ich ein Eisläufer auf einem gefrorenen See.
Adam hielt nichts von den Kommunisten, aber auf den sowjetischen Boxstil schwor er. Technik und Taktik - selten Sparring. Wo war das Blut, wunderte ich mich. Wo die aufgeheizte Atmosphäre, die ich aus den Filmen kannte?
Ich machte viele Kämpfe in den Jahren. Vergleichskämpfe, Qualifikationsboxen, Einzel- und Ligaturniere. Später Bezirks- und Landesmeisterschaften. Ich war gut, gewann oft nach Punkten. Medaillen und Pokale meiner Siege standen auf dem Schrank im Wohnzimmer. Mein Vater strich ab und an mit einem feuchten Tuch darüber.
Als die ersten Niederlagen kamen, sagte Adam, dass das normal sei. Es wurden mehr. Zwei verlorene Kämpfe hintereinander. Irgendwann drei. Adam meinte, dass jeder echte Kämpfer mal ein solches Tief hatte. Etwas schwang zwischen den Zeilen mit, als er mir nach dem Training auf die Schulter klopfte. Meinen letzten Kampf hatte ich gewonnen, aber es war knapp gewesen und es hatte sich nicht nach einem Sieg angefühlt. Adam nahm mich aus den Planungen für die wichtigen Turniere heraus. Als ich ihn darauf ansprach, sagte er, dass ich mir ein bisschen Zeit nehmen solle, um wieder reinzukommen. Er meinte es gut, aber er sah mir nicht in die Augen und im Training stand er fast nur noch bei den anderen Kämpfern, um ihnen die Pratzen zu halten.
Ich sollte bei einigen Gala-Kämpfen antreten, um Erfolge einzufahren und mich daran wieder hochzuziehen. In einer Halle in Dorstfeld stand ich einem Gegner gegenüber, der erst zwei Kämpfe gemacht hatte. Er war größer, hatte lange Arme und hielt mich auf Abstand. Wenn ich eine Aktion machte, reagierte er mit schnellen Konterbewegungen. Er wartete, behauptete die Ringmitte und bewegte sich nur so viel, wie er musste. Wir tasteten uns ab, testeten einfache Kombinationen aneinander und bewegten uns noch recht vorsichtig. Trotzdem hatten seine langen Geraden mich schon ein paar Mal erwischt und ich hatte Probleme, in den Kampf zu kommen. In der ersten Pause kniete Adam vor mir. Ich sah die Sorge in seinem Blick.
„Musst ran an ihn, Junge!“, sagte er. „Täusch an, mach zwei, drei schnelle Aktionen, dann gehst du rein. Arbeite am Körper, mach ein paar Dinger und dann löste dich wieder – den kriegst du über Geschwindigkeit, klar?“
In der zweiten Runde hielt ich mich zunächst zurück. Ich bewegte mich kontrolliert, ließ ihn ein paar Jabs machen und wich aus. Dann arbeitete ich mich schnell mit meiner Führhand nach vorne, setzte eine Gerade und einen Haken zum Bauch und einen Uppercut zum Kinn. Ich klammerte, stieß meinen Gegner zurück und wurde ermahnt. Ich hob entschuldigend die Arme, versuchte es aber sofort noch mal. Reingehen, Treffer setzen, klammern - schönes Boxen ist für Verlierer.
Beim nächsten Versuch wurde ich von einer schnellen Geraden getroffen. Ich wich zurück. Wir tänzelten eine Weile umeinander herum. Dann ging er nach vorne, arbeitete sich mit seiner Führhand zu mir, aber ich behielt die Nerven. Seinen dritten Schlag konnte ich blocken und warf auf gut Glück eine Overhand zum Kopf. Ich traf. Er wackelte und ich setze nach, aber der Gong beendete die Runde und gab ihm Zeit zum Ausruhen. In der Ecke nickte Adam mir zu.
„Die letzte Aktion war gut. Aber im Moment ist es eng. Du musst Punkte machen, klar? Lass ihn dich nicht über seine Geraden kontrollieren. Auch wenn du ein oder zwei Dinger fressen musst, geh rein und arbeite am Körper. Beiß dich richtig fest, verstehst du?“
Zu Beginn der dritten Runde traf ich häufiger. Mein Gegner war müde. Er versuchte mich jetzt vor allem auf Abstand zu halten. Ich bewegte mich um ihn herum, ging rein, traf zwei lange Geraden, machte eine Finte und wollte in den Infight, doch er wich mit einer schnellen Bewegung aus, die ich ihm nicht zugetraut hätte und erwischte mich mit seinem linken Haken wie aus dem Nichts. Ein harter, cleaner Schlag, der mich wanken ließ. Ich ging zurück, brauchte ein oder zwei Sekunden, um mich zu fangen, aber stand dann wieder sicher. Ich atmete schwer. Jetzt griff er an, deckte mich mit langen Schlägen ein und drängte mich zum Ringseil zurück. Viele seiner Aktionen konnte ich blocken, aber ich hatte keine Kraft mehr, um ihn auszukontern oder selbst in die Offensive zu gehen. Noch mehr Schläge kamen - schnelle links-rechts-Kombinationen, Haken zu Körper und Kopf. Ich duckte mich, aber er traf mit seiner Linken. Den nächsten Schlag blockte ich, machte eine Ausweichbewegung mit dem Oberkörper und schlug einen Aufwärtshaken ins Nichts. Ich bewegte mich nach vorne. Kopf an Kopf standen wir voreinander, ich nahm Schläge zum Körper, stieß mit meinem Kopf nach ihm – der Ringrichter übersah es. Als es klingelte, war ich völlig am Ende. In meiner Ecke beugte sich Adam zu mir.
„Wird schon passen, hast gut gekämpft“, sagte er, aber ich wusste es besser. Meine Atmung fuhr herunter und ich schüttelte den Kopf. Von den Schlägen spürte ich nichts - die Schmerzen würden später kommen. Der Ringrichter holte die Ergebnisse der Punktrichter ein. Er winkte uns heran. Wir standen neben ihm in der Ringmitte und ich suchte in den Zuschauerrängen nach meinem Vater. Viel war nicht los, ein paar Männer liefen zwischen Bierbänken umher, lachten oder unterhielten sich. Kinder spielten zwischen den Beinen der Erwachsenen und die Luft in der Halle stand. Mein Vater saß in der dritten Reihe. Der Ringrichter nahm das Mikrofon und verkündete das Ergebnis. Splitdecision, zwei zu eins in den Wertungen gegen mich. Mein Gegner hob seine Arme in die Luft. Ich hörte den Applaus des Publikums und wie der Ringrichter schon den nächsten Kampf ankündigte. Dann sah ich, wie mein Vater aufsprang und etwas schrie. Die Bierbank, auf der er gesessen hatte, fiel beinahe um. Er hob seine Hände, sein Gesicht war verzerrt, er sah aus wie ein anderer Mensch. Ein Mann fasste ihn an der Schulter. Ich sah, wie mein Vater zu ihm herumwirbelte und die Hand wegschlug. Ganz dicht standen sie voreinander. Mein Gegner kam, um mit mir einzuschlagen und ich verlor meinen Vater aus den Augen. Ich gab ihm die Hand und murmelte etwas, während ich zwischen den Zuschauern nach ihm suchte, doch ich konnte ihn nicht mehr entdecken. Ich ging zur gegnerischen Ecke, schüttelte Hände, aber ich hörte kaum, was die Leute dort zu mir sagten, während man mir auf die Schulter klopfte und mir zunickte. Alles fühlte sich an wie in Watte gepackt. Adam kam und führte mich aus dem Ring.
„Knappes Ding“, sagte er. Ist nicht schlimm, Junge.“
Ich bekam kaum mit, wie wir durch die Seile stiegen, die Treppe heruntergingen und an den Tischen der Punktrichter vorbei in Richtung Umkleide liefen. Als ich aus der Dusche kam, sah ich, wie Adam mit einem der anderen Trainer sprach Er sagte etwas, schüttelte den Kopf und zuckte mit den Schultern.
Mein Vater wartete draußen. Sein Gesicht war gerötet, die Fäuste hatte er geballt. Er stand vor unserem Auto und warf jedem, der vorüberging, einen Blick zu, als wolle er ihn totschlagen. Ein paar Leute grinsten, einige drehten sich noch mal um zu ihm, aber ich lachte nicht. Ich hatte ihn noch nie so gesehen. Langsam ging ich zu ihm. Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar, verharrte und sah zum Himmel. Die Sonne brannte herunter und als ich vor ihm stand, sagte er kein Wort. Irgendwann stieg er ins Auto. Ich setzte mich auf den Beifahrersitz. Im Inneren war es kochend heiß, aber ich traute mich nicht, das Fenster herunterzukurbeln. Er startete den Wagen. Wir fuhren umher, vorbei an der Zeche, in der mein Großvater noch Steiger gewesen war, vorbei an meiner Schule und an der Fleischfabrik, in der er und alle meine Onkel arbeiteten und in der ich im September beginnen würde. Ihm stand Schweiß auf der Stirn. Er hatte sein Hemd aufgeknöpft, ich konnte sein Brusthaar sehen. Wir sprachen nicht miteinander.
Wir parkten vor unserer Wohnung am Straßenrand. Er zog die Schlüssel ab und löste den Gurt.
„Sie nehmen es einem“, sagte er leise, bevor wir ausstiegen. „Du kannst dagegen protestieren, kannst schlagen und beißen und schreien und kämpfen, aber am Ende nehmen sie es dir. Und dann halten sie es vor dich und werfen es weg und treten darauf herum. Was dir bleibt, ist ihnen nichts von all dem zu verraten, wenn sie dir in die Augen sehen.“
Er fuhr sich mit der Hand über den Mund und sah mich an. Ich bemerkte ein kurzes Flackern in seinem Blick, in seinen hellblauen Augen, die einen nicht loslassen, wenn sie einen eingefangen haben.