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Die Bären von Belitza

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09.04.2004
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Die Bären von Belitza

Die Bären von Belitza

Der Bärenpark von Belitza, liest Maren, ist erweitert worden, zehn Bären leben inzwischen dort. Tsveta und Izaura sollen so bald wie möglich auch dahin überführt werden. Das kostet natürlich viel Geld, Spenden sind dringend erwünscht. Jens, hört Maren, schließt die Wohnungstür auf. Sie dreht sich nach dem Flur um, nickt kurz und wendet sich wieder dem Bildschirm zu.
„Bist du im Internet?“
Maren nickt heftig, der hellblonde Pony fällt ihr über die Augen, sie wirft den Kopf zurück. Tzveta hat vierzehn, Izaura sechzehn Jahre lang als Tanzbärin gedient. Beide sind unterernährt, haben Verwachsungen und eiternde Wunden an Nase und Lefzen, von den Ringen, an denen sie herumgeführt werden. Izaura verbringt ihre Nächte in einem windigen dunklen Verschlag, Tzveta wird jeden Abend in einer Erdgrube angekettet.
„Ich esse noch schnell eine Kleinigkeit, dann machen wir uns fertig,“ ruft Jens aus der Küche. Maren klickt sich auf die nächste Seite. Tanzbären, erfährt sie, werden sehr jung schon zu einer fröhlichen Musik über glühende Metallplatten gejagt. Verzweifelt springen sie hin und her, weil das Eisen ihre empfindlichen Fußsohlen verbrennt. Sie versuchen, auf diese Weise den grässlichen Schmerzen zu entgehen.
Jens hat das Radio eingeschaltet, sucht einen Sender, stoppt bei Jonny Cash, Ring of Fire. Die mit Hilfe von Eisen und Feuer trainierten Bären springen später genau so zur Musik, auch wenn kein glühendes Metall mehr unter ihren Füßen ist, auf jedem Marktplatz führen sie ihr frühes Trauma vor. Die Menschen finden das lustig, lachend führen sie ihre Kinder herbei, klatschen in die Hände. Der Bärenführer lebt davon, ganze Großfamilien leben über zwanzig Jahre lang von einem Bären.
„Machst du dich fertig? Was liest du denn da?“
Jens nähert sich von hinten und legt ihr die linke Hand auf Schulter. „Wieder mal Tierseiten?“ Sie sitzt ganz still, bewegt nur unmerklich die linke Schulter. „Sauer?“ Die Hand gleitet ab. Sie schüttelt den Kopf. Jens atmet laut aus, dann greift er ihr Kinn mit der Hand und dreht ihr Gesicht zu sich hoch. „Komm, mach aus, um acht fängt es an. Sag mal - weinst du?“
Sie dreht ihr Gesicht zum Bildschirm zurück und schluckt. Zu spät, zwei Tränen tropfen auf die Tastatur.
Jens wendet sich ab, öffnet den Kleiderschrank und kramt darin herum.
„Das kann ja heiter werden heute Abend. Ich dusche mich schnell, vielleicht erzählst du mir ja danach, was los ist.“

Erst als der Bildschirmschoner sich einschaltet und die Fische über den Monitor zu gleiten beginnen, greift Maren zur Maus. Da sind sie wieder: Tsveta und Izaura, ihr struppiges braunes Fell, ihre vernarbten Pfoten, ihre langen empfindlichen Schnauzen, die ekelhaften Ringe dort, wo sie den Schmerz am deutlichsten fühlen müssen. Man zerrt sie herum, sie sind gefügig, denn jedes Aufbegehren bedeutet größere Qual. Sie tanzen von früh bis spät, nachts geht es ab in die Erdhöhle. Diese Nacht wird es regnen, der staubige Pelz wird nass, Tzveta zittert in der Grube, Izaura liegt in ihrem Verschlag auf der Seite, der Wind pfeift durch die Ritzen. Sie kann sich nicht umdrehen, weil die Kette zu kurz ist. Ihre Pfoten zucken auch im Schlaf. Morgen tanzen sie wieder. Die Menschen finden das lustig, werfen Münzen in den Hut, die Kinder klatschen den Takt mit. Ganze Familien leben davon, damit sie leben können, müssen die Bären hungern, müssen die Bären tanzen. Das Radio spielt einen anderen Western-Song, Maren fröstelt. In ihrem Kopf wird es eng. Sie hat jetzt das Spendenformular vor sich, gibt ihre Daten ein. Hundert Euro spendet sie, das ist ein Klacks, Izaura wird davon nicht satt werden, Tsveta wird davon ihren Ring nicht los. Sie schickt es ab, sitzt weiter da.
Jens hat unter der Dusche ein bisschen gute Laune aufgetankt.
„Bist du heute pünktlich rausgekommen? Bei uns in der Abteilung wird es jetzt immer später, die Umstellung, du weißt ja. Wir treffen uns mit Holly und Bernd vor dem Eingang. Sie wollen dann nach dem Film in dieses neue spanische Lokal. Gegen Mitternacht wird da Flamenco vorgeführt. Aber wir müssen ja nicht mitgehen, wenn dir heute nicht danach ist. Vielleicht ist dir ja nach was anderem heute.“ Er nähert sich wieder von hinten, drückt seine Nase in ihr Haar. Sie riecht sein Rasierwasser.
„Komm, sags mir, warum du geweint hast.“
„Die Bären“, flüstert sie. „Diese Tanzbären...“
„Ja, lustig, lustig! Tanzbären! Mensch, du bist doch kein Kind mehr! Hab ich jetzt eine Frau hier sitzen oder -“
Schon ist die gute Laune aufgebraucht.
„Warum machst du dich nicht fertig? Soll ich etwa allein gehen?“
Sie nickt. Das ist das einzige, was sie sich im Moment vorstellen kann.
„Und dafür hat man jetzt eine Frau, dass man allein gehen muss. Was soll ich denn Bernd dann sagen - Mensch, nick doch nicht immer so bescheuert wie eine – eine – Holzpuppe!“
Sie streicht sich mit einer Hand über die Stirn, weil es sich in ihrem Kopf gerade noch ein wenig mehr zusammenzieht. Es hilft nichts. Das Tor schließt sich automatisch. Ganz langsam bewegen sich die beiden Schiebetüren aufeinander zu. Sie sind aus Metall, es ist kalt, es schmerzt nicht.
„Weißt du was? Dir ist nicht zu helfen!“
Das Tor ist jetzt ganz zu und versperrt ihr die Sicht. Kein Ton dringt durch. Solange das Tor zu ist, gehen auch ihre Lippen nicht mehr auf. Während Jens in der Wohnung hin- und hergeht, das Radio ausschaltet und mit dem Schlüsselbund klappert, sitzt sie mit hängenden Armen vor dem Computer. Jetzt kommen die Fische wieder, ihr virtuelles Aquarium, sie taucht ein. Sie kennt sie alle, wartet auf den Rochen, wartet auf den Hai.
„Dann tschüss!“ In der Ferne klappt die Wohnungstür zu.

Maren sitzt. Das Telefon klingelt. Maren geht zum Bett, schiebt beide Zudecken in der hinteren Ecke zusammen und drapiert die Kopfkissen darum herum. Sie fährt den Computer herunter und geht ins Wohnzimmer, sieht sich um. Sie greift alle Kissen von der Couch und von den Sesseln, bringt sie zum Bett. Sie holt die Stuhlkissen aus der Küche, Handtücher und Bademäntel aus dem Bad. Sie baut eine Höhle, holt noch eine Wolldecke und zwei Schlafsäcke vom Schrank, entrollt sie, breitet sie aus. Sie baut eine Bärenhöhle, klopft die Kissen zurecht, drapiert die große schwere Tagesdecke über alles, lässt den Rolladen herunter und löscht das Licht.
Langsam nähert Maren sich der Höhle. Ihre Fußsohlen brennen, die Wunden an den Lefzen schmerzen, ihr Magen ist leer, ihr Fell ist nass, die empfindliche Haut darunter kräuselt sich, Kälte bis in die Knochen. Sie ertastet sich den Eingang, vorsichtig, damit die Konstruktion hält, und schlüpft hinein. Arme, Beine und Kopf angezogen, macht sie sich ganz klein. Mit einer Hand zieht sie die Decken über den Eingang und stopft sie fest. Langsam öffnet sich das Tor. Jetzt ist Ruhe. Jetzt ist sie in Belitza angekommen. Man betupft die vereiterten Stellen, wo der Ring war. Es brennt ein wenig, doch sie atmet freier. Sie atmet ganz langsam, ganz tief. Winterruhe.
Die Abstände zwischen den Herzschlägen verlängern sich. Schon wird ihr Rücken langsam warm, ihre Glieder entspannen sich. Sie schmiegt sich an die weichen Wände ihrer Höhle, zuckt zurück. Der Bärenführer wird kommen, wird an der Kette zerren. Sie befühlt ihre Nase, da ist kein Ring mehr. Nein, der Bärenführer wird selber tanzen heute Nacht. Soll er Flamenco tanzen, sie darf ausruhen in ihrem Versteck. Keiner wird sie stören. Und erst im nächsten Frühling, wenn die Bäume im Park schon grün sind, wird sie aus ihrer Höhle kriechen, wird blinzeln und sich recken und langsam hinuntertraben zum Teich. Dort wird sie lange baden. Die Tropfen, die sie sich aus dem Fell schüttelt, glänzen in der Sonne. Sie findet Äpfel und Möhren und Brot im Gras und macht sich ans Fressen, bis ihr Bauch rund und voll ist.
„Maren“, rufen die Stimmen von oben, „Maren, komm her!“ Sie schaut nicht auf.

 

Hallo Lisa,

Du hast Deine Geschichte gut aufgebaut, man merkt immer mehr, wie sich das Unbehagen zusammenbraut. Natürlich hat man Mitleid mit den Bären, etwas versteckt hast Du auf den Zwiespalt hingewiesen, dass diese Familien die Bären zum Leben brauchen.
Die Protagonistin ist sehr feinfühlig, aber vielleicht sollte sie es auch ihrem Mann gegenüber sein, der offensichtlich schon nicht mehr weiß, wie er seiner Frau helfen soll. Er scheint hin und her gerissen zwischen verständnisvollem Verhalten („Aber wir müssen ja nicht mitgehen, wenn dir heute nicht danach ist.“) und genervtem („Hab ich jetzt eine Frau hier sitzen oder -“). So wird nicht klar, inwieweit der Mann schuld daran ist, wenn sich das „Tor“ schließt. Der letzte Abschnitt zeigt, wie sehr sich das Verhalten der Frau einem pathologischem Zustand nähert. Leider weiß man nichts über die Ursachen ihrer Hypersensibilität, dies hätte die Geschichte nachvollziehbarer gemacht und vielleicht die oben gestellte Frage beantwortet.

Noch eine Kleinigkeit:
„Jens, hört Maren, schließt die Wohnungstür auf. Sie dreht sich nach dem Flur um, nickt kurz und wendet sich wieder dem Bildschirm zu.“ - Maren hört, dass Jens die Wohnungstür aufschließt. Sie dreht sich zum Flur hin um, nickt ...

Ansonsten flüssig geschrieben, mit gut aufgebauten Dialogen.

Tschüß... Woltochinon

 

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