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Die Bücherflut (Neue Version)
'Leider ist ein interner Fehler aufgetreten und wir können Ihre Bestellung nicht weiter bearbeiten. Wir bedauern die Unannehmlichkeit.' Schade, dachte ich, dieses Buch mit dem schönen Titel 'Ich schlafe immer gleich ein' hätte ich mir gerne für meinen bevorstehenden Urlaub gekauft. Aber es war schon spät und mir fielen die Augen bald zu. Ich würde es morgen noch einmal mit der Bestellung versuchen.
In den nächsten beiden Tagen war ich aber mit Arbeit eingedeckt. Ich bin in einem Finanzamt beschäftigt und mein Vorgesetzter meinte, wenn ich schon Urlaub machen müsse, dann solle ich wenigstens vorarbeiten, um den Kollegen nicht meine Arbeit aufzubürden. Innerlich war ich nahe dran, ihm an die Gurgel zu springen. Aber ich blieb ganz cool, ruhig und höflich und erlaubte mir zum Ausgleich wieder einmal, davon zu träumen, aus diesem Beruf auszusteigen und etwas ganz anderes anzufangen.
Endlich kam das Wochenende, ich hatte meine Arbeiten erledigt und konnte meinen Urlaub schon Freitag mittag beginnen. Ich setzte mich an den Wohnzimmertisch, schlug das Buch auf, das ich gestern begonnen hatte, und genoß beim Lesen einen Cappuccino.
Durch das Fenster sah ich das Paketauto der Post vor unserem Haus halten. 'Vielleicht ein Katalog', dachte ich, aber der Fahrer lud zwei riesengroße Pakete aus und schleppte sie auf seiner Karre zu unserem Haus. Was sollte das sein, wir hatten keine großen Sachen bestellt. Mißtrauisch öffnete ich die Haustür und sah ihn abwartend an. Aber er strahlte mich an und sagte:
"Zwei Pakete für Sie, Herr Muhrmann."
"Für mich? Ich habe aber nichts bestellt. Was ist denn das?"
"So schwer wie die Pakte sind, würde ich sagen, Bücher. Absender ist BOGE, der Internet-Buchgroßhandel"
"Da wollte ich vor drei Tagen ein Buch bestellen, aber das hat nicht funktioniert. Ich erwarte also keine Lieferung und schon gar nicht zwei riesige Pakete?"
Er sah mich ein wenig traurig an. "Soll ich die Pakete wieder mitnehmen oder wollen Sie sich den Inhalt erst einmal anschauen?"
Das wollte ich ihm nun nicht antun, die Pakte wieder zurückzuschleppen und ein wenig neugierig war ich auch. Also nahm die Pakete an und der Paketbote stellte sie mir in die Diele. Tragen konnte ich sie wirklich nicht, also öffnete ich das erste. Jedenfalls stand auf dem Paket groß 'Paket 1' und 'Hier oben'. Als ich den Deckel hochklappte, sah ich einen Lieferschein. Danach enthielten die beiden Pakete die 100 meistverkauften Bücher des Monats einschließlich des Romans 'Ich schlafe immer gleich ein' und dann auch noch jedes Buch in zwei Exemplaren. Eine Rechnung konnte ich nicht finden. Ich kann gar nicht sagen wie ich mich fühlte. Einerseits, als ob Weihnachten wäre, andererseits war ich sehr erschrocken. Irgendjemand hatte doch diese Bücher bestellt und der wartete bestimmt auf die Lieferung. Ich beschloß also, mir die Bücher gar nicht erst anzuschauen, denn dann würde ich sie wohl nicht mehr hergeben, sondern den Irrtum sofort aufzuklären. Dazu nahm ich den Lieferschein und rief bei dem aufgedruckten Absender an.
"Boge GmbH, guten Tag, mein Name ist Beerbaum, was kann ich für Sie tun?" Eine angenehme Telefonstimme hatte die Dame, aber ich war immer noch durcheinander und antwortete recht flapsig:
"Muhrmann. Sie können mich von 200 Büchern befreien."
Es dauerte einige Sekunden, bis sie antworten konnte:
"Es tut mir leid, ich habe Sie nicht ganz verstanden. Wir verkaufen Bücher. Können Sie mir erklären, worum es geht?"
"Sie haben mir 200 Bücher zugesandt, die ich nicht bestellt habe und ich möchte sie gerne wieder loswerden."
"Geben Sie mir doch bitte die Lieferscheinnummer."
Ich sagte der netten Dame die Lieferscheinnummer durch und sah dabei auf dem Lieferschein, das dort als Empfänger angegeben war: 'Buchhandlung Muhrmann' und dann meine Adresse. Jetzt begann ich zu staunen. Wie kam diese Firma darauf, mir kleinem Finanzbeamten eine Buchhandlung anzudichten? Ich hatte das Gefühl, die Sache ginge ein wenig über meinen Verstand hinaus. Sollte das doch ein unerwartetes Weihnachtsgeschenk sein? Quatsch, wir hatten gar nicht Weihnachten.
Dann meldete sich die Stimme wieder, sie klang immer noch freundlich, aber schon etwas, ich würde sagen verbindlicher:
"Ich habe hier ihre Bestellung auf dem Computer, 100 verschiedene Bücher, von jedem Buch zwei Exemplare, ausgewählt nach unserer Verkaufshitliste gegen Vorkasse. Ihre Zahlung ist vorgestern eingegangen und wir haben die Bücher umgehend an die angegebene Adresse versandt. Was möchten Sie jetzt reklamieren?"
Die Antwort kam mir unerwartet. Wieso waren die Bücher bezahlt. Die Gedanken rasten nur so durch meinen Kopf, aber ich bemühte mich, sachlich zu antworten: "Also ich versuche es zu erklären, obwohl ich es selber nicht verstehe. Eine Buchhandlung Muhrmann, die ich nicht kenne, hat 200 Bücher bestellt und bezahlt. Diese Bücher sind aber bei mir zu Hause in Kremsberg im Fichtenweg 6 angeliefert worden und ich möchte sie gerne an den Besteller loswerden."
"Wir können Ihnen da nicht weiterhelfen. Die Bücher sind bezahlt und wir haben die Bücher an die Adresse ausgeliefert, die uns genannt wurde. Ich denke, das Problem, das Sie jetzt haben, weil die Bücher in Ihrer Privatwohnung angekommen sind, sollten Sie mit Ihrer Angestellten klären, die diese Bestellung aufgegeben hat. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag."
Und legte auf. Und ich saß da mit 200 Büchern, die ich nicht bestellt hatte, und langsam beginnenden Magenschmerzen. Irgendjemand, den ich nicht kannte, würde doch bald sehr ärgerlich werden. Immerhin hatte die Buchhandlung die Bücher bezahlt und wartete auf ihre Lieferung.
'Gerate jetzt nicht in Panik. Kühlen Kopf bewahren', sagte ich mir, nahm das Telefonbuch und suchte die Buchhandlung Muhrmann in Kremsberg. Natürlich vergeblich. In unserem Vorort gab es keine Buchhandlung. Und den Namen Muhrmann gab es auch nur einmal, nämlich hier Also setzte ich mich an den Computer und suchte auf der Telefon-CD bundesweit die Buchhandlung Muhrmann, aber ich fand keinen einzigen Eintrag. Ich fing an zu schwitzen. Was sollte ich jetzt tun?
"Was ist das denn?" Meine Frau war aus dem Garten gekommen und starrte auf die Pakete.
"Ich weiß es nicht, was soll ich machen?" stöhnte ich und erzählte ihr, was ich bisher erlebt hatte.
"Auf jeden Fall werden wir die Bücher aus der Diele ins Wohnzimmer schaffen," schlug meine Frau vor. "Hier stören sie nur, man kommt ja kaum an die Haustür."
Ich fand den Vorschlag gut, aber weil die Pakete auch für uns beide zu schwer waren, packten wir sie aus und trugen die Bücher ins Wohnzimmer. Einige kannte ich schon vom Ansehen, aber gelesen hatte ich noch keines und so schaute ich mir die Bilder auf den Vorderseiten an und wenn auf der Rückseite ein Text stand, las ich den gleich. Meiner Frau ging es nicht anders, sie führte zwar noch einige Telefonate, aber irgendwann saßen wir beide auf dem Teppich im Wohnzimmer, hielten in Folie verpackte Bücher in der Hand, um uns lagen Bücher auf dem Teppich verstreut und wir träumten vor uns hin. Was in dem Buch wohl stehen würde, ob das Umschlagbild etwas mit dem Inhalt zu tun hatte, ob das Buch gut zu lesen wäre? Von einigen Büchern hatte ich schon Rezensionen und Ankündigungen gelesen, von manchen Autoren hatte ich schon Bücher gelesen, und ich begann, ohne darüber nachzudenken, die Bücher zu sortieren. Kriminalromane in die Ecke, Liebesromane dorthin, Heitere Geschichten auf den Tisch, Ernste Literatur ans Bücherregal und so weiter.
Das Sortieren ging mir leicht von der Hand. Ich lese sehr viel und habe für meine Bücher im Laufe der Zeit ein eigenes System entwickelt, nach dem ich sie einordne. So kann ich für verschiedene Stimmungslagen schnell das passende Buch finden.
Irgendwann ist mein Frau dann auf dem Teppich eingenickt, ich habe sie geweckt und wir sind ins Bett gegangen. Das Ausräumen der Bücherkisten hatte mich für diesen Abend von meinen Sorgen, was ich mit den Büchern machen solle, befreit.
Aber ich schlief dann sehr schlecht. Ich träumte, ich wäre im Finanzamt, ein Pulk Menschen drang auf mich ein, sie wedelten mit ihren Steuerbescheiden und schrien 'Wir wollen unsere Bücher wiederhaben.'
Samstag morgen klang der Traum noch in mir nach. Ich mochte die Bücher gar nicht anschauen. Ich stellte mir vor, sie würden mich anspringen und fordern, ich solle sie freilassen. Aber ich wollte sie doch gar nicht haben und doch, ganz tief innen wisperte eine Stimme: 'Du willst sie haben'. Dieser Gedanke machte mich ganz trübsinnig, denn mir war klar, dass sich mein Wunsch nicht erfüllen würde und so setzte ich mich mit einer richtigen Leidensmiene an den Frühstückstisch. Meine Frau kam mit dem Kaffe und lächelte mich an. Ich wollte ihre gute Laune nicht verderben, aber ich brachte es nicht fertig, zurückzulächeln. "Es tut mir leid, ich habe schlecht geträumt und die Bücher liegen mir auf dem Magen und auf der Seele."
"Mach doch eine Buchhandlung auf," versuchte sie mich aufzuheitern.
Ich schaute sie entsetzt an. "Wie stellst Du Dir das vor. Die Bücher gehören mir doch nicht. Ich kann doch kein fremdes Eigentum verkaufen." Aber während ich das sagte, merkte ich, daß ich schon halb überzeugt war und das gefiel mir gar nicht.
"Vielleicht hat ja eine gute Fee die Bücher bezahlt." Sie lächelte mich geradezu verschmitzt an.
"Das wäre schön," seufzte ich und stellte mir vor, ich könnte mich mit den Büchern selbständig machen,. eine kleine Buchhandlung eröffnen und endlich meinen Job aufgeben. Ich sah auf die vielen Bücherstapel, die ich sortiert hatte und die mir jetzt gar nicht mehr bedrohlich vorkamen und meinte: "Da müssten wir aber noch einige Regale kaufen."
"Platz haben wir doch noch," entgegnete meine Frau. Sie stand auf, stellte sich hinter mich und strich mir über die Haare. Ich mag das gerne und schnurre dann wie ein Kater. Das ist ein Spiel zwischen uns und sie schaffte es auch diesesmal, meine trübsinnige Stimmung zu vertreiben und dann meinte sie:
"Jetzt haben wir die ganzen Bücher hier und wenn wir eines lesen und sich tatsächlich ein anderer Besitzer melden sollte, können wir das Buch doch notfalls neu kaufen. Du behandelst Deine Bücher doch immer so sorgfältig, die sehen immer noch wie neu gekauft aus, wenn Du sie gelesen hast."
Ihre Hände wanderten langsam tiefer und ich ließ mich einfach fallen und genoß ihre zarten Berührungen. Vor meinem inneren Auge sah ich Regale an den Wänden, angefüllt mit Büchern, nach meinem Spezialsystem geordnet. Ich wollte ihr schon von meinem Plan erzählen, da klingelte es an der Haustür.
Wir gingen beide, meine Frau öffnete und da stand ihre beste Freundin Gabi.
"Hallo Susanne, hallo Peter. Ich habe gehört, Du machst eine Buchhandlung auf. Hast Du auch schon den Roman 'Ich schlafe immer gleich ein'? Den möchte ich gerne haben und dann brauche ich nicht in die Stadt zu fahren."
Mir wurde heiß und kalt. Meine gelöste Stimmung verkroch sich. Was sollte ich machen. Meine Frau hatte brühwarm alles weiter erzählt und jetzt saß ich in der Tinte. Sollte ich meiner Frau die Leviten lesen, ihre Freundin rausschmeißen, leugnen, überhaupt Bücher zu haben - die Gedanken schwirrten nur so durch meinen Kopf und ich hatte das Gefühl, abwechselnd rot und blaß zu werden. Aber mir fiel keine Lösung ein. Also bat ich sie in unser Wohnzimmer und sie steuerte gleich auf den Tisch zu, auf dem ich die heiteren Bücher aufgebaut hatte. Offensichtlich war ihr ein Einband ins Auge gefallen, denn sie griff nach einem Buch und rief:
"Toll, das wollte ich mir auch kaufen. Und das da sieht ja auch gut aus. Und der Titel klingt interessant, wovon handelt das denn?"
Ich konnte tatsächlich Gabi zu jedem Buch das sie interessierte, etwas sagen. Schließlich hatte sie fünf Bücher ausgewählt und meinte: "Die nehme ich."
Ich zitterte, ich weiß nicht, ob vor Angst oder weil sich hier eine ungeahnte Möglichkeit zeigte. Was sollte ich jetzt machen, es war ein Gefühl, als ob ich vom Fünf-Meter-Brett springen müßte. Ich schluckte mehrmals, meine Kehle wr ganz trocken und dann sagte ich: "Verkaufen kann ich sie Dir nicht, Gabi, aber Du kannst sie mieten für drei Euro pro Buch und Woche."
"Das ist ja noch besser, ich habe sowieso kaum noch Platz im Bücherregal," jubelte Gabi. "Dann nehme ich erst einmal diese beiden. Die reichen für das Wochenende."
Ich nahm ihr die Bücher aus der Hand, entfernte die Plastikhülle und holte aus der Schublade zwei Schutzeinbände. Wie meine Frau schon sagte, ich behandele meine Bücher immer pfleglich und sobald ich eines gekauft habe, bekommt es einen Umschlag. Dann öffnete ich die Bücher und stempelte meinen Namen auf die erste Seite. Damit war ich vom Pfad des Rechts abgewichen, schoß mir kurz durch den Kopf, aber mein Gefühl, sagte mir, es sei alles richtig.
Ich legte dann noch eine Karteikarte auf dem Computer an mit Gabis Namen und den beiden Buchtiteln, kassierte die sechs Euro und ließ meine Frau und Gabi zum Klönen im Wohnzimmer zurück.
Jetzt musste ich noch ein Kassenbuch anlegen, die alte Geldkassette heraussuchen und dann konnte es losgehen mit dem neuen Job.
'Rent a book' wurde ein Renner. Nach wenigen Monaten konnte ich meinen Job kündigen. Wer die erste Buchlieferung bezahlt hat? Inzwischen habe ich einen Verdacht, aber ich möchte sie nicht fragen und so erzählen wir neugierigen Kunden die Geschichte von der guten Fee und ihren 200 Büchern.