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Die Beerdigung

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19.01.2005
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Die Beerdigung

Die Beerdigung

Es war schon gegen Mittag, als M. die Augen öffnete, gegen das grelle Licht der Sonne blinzelte, die durch das Fenster direkt auf sein Bett schien, und er den ersten Gedanken des Tages daran verschwendete, dass er heute seinen Vater beerdigen würde. Für einen kurzen Moment überlegte M, ob er nicht einfach eine Krankheit vorschieben sollte, aber heute würde seine Mutter es nicht gelten lassen.
Unwillig richtete er sich auf, zog sich an und schlurfte zur Tür.
"Auch schon wach?", frotzelte sein Onkel, der ihm mit einer Kaffeekanne in der Hand aus der Küche am anderen Ende des Flurs entgegenkam und an ihm vorbei im Wohnzimmer verschwand, wo sich schon der Rest der schwarz gekleideten Verwandschaft, allesamt mütterlicherseits, zusammen gefunden hatte, mit gedämpften Stimmen über unwichtiges redete und an den Kaffeetassen nippte.
M. schaute kurz herein und grüßte. Sie sahen ihn an; manch einer grüßte mit einem Kopfnicken zurück; manch einer mit einem mitleidigen Lächeln; seine Tante griff schnell zum Kaffee; die Großmutter stand auf und nahm ihn in die Arm. Lasst mich doch einfach in Ruhe, dachte er, entwand sich ihr und ging ins Badezimmer.
Die Beerdigung war auf fünfzehn Uhr angesetzt. Die Verwandschaft seines Vaters würden sie erst auf dem Friedhof treffen. Man verstand sich nicht besonders gut miteinander. Um vierzehn Uhr verteilten sie sich auf die Wagen; seine Schwester und Mutter fuhren mit den Großeltern und er wurde dem Auto des Onkels zugeteilt, der ihm noch die Tür aufhielt und M. ein aufmunterndes Lächeln schenkte, als er einstieg.
Es war ein, von den Umständen abgesehen, malerischer Sommertag, in dessen Hitze er zu anderen Zeiten mit seinen Freunden im Schwimmbad herumgetollt und die Mädchen aus seiner Klasse geärgert hätte. Keine Wolke war am Himmel zu sehen und der Asphalt der Autobahn schien in der Ferne wie ein endloser Ozean, aus dem nur hier und da ein Wagen auftauchte, an ihnen vorüber schwamm und im Rückspiegel wieder im Flimmern und Flirren der aufgeheizten Straße verschwand.
M. schaute aus dem Fenster, ließ Häuser und Bäume an sich vorbei fliegen, ohne wirklich Notiz von ihnen zu nehmen. Am liebsten wäre er nicht da gewesen, nirgends, nie gewesen.

"So, da wären wir", sagte sein Onkel, als sie auf den Parkplatz am Friedhof bogen. Sie waren die Letzten und der Rest der Trauergäste mütterlicherseits wartete schon auf dem Gehsteig. Auf die Verwandschaft seines Vaters würden sie erst hinter den mächtigen, gusseisernen Toren der Friedhofsmauer treffen.
Beide Familienzweige würden nicht viel miteinander reden, das wusste er. Sie konnten sich nicht ausstehen und Ms Onkel hatte ihm vor Jahren erzählt, dass die Eltern des Vaters strikt gegen die Hochzeit gewesen wären.
"Sie meinten, er könnte etwas viel besseres als Marion haben", hatte er gesagt und noch leise hinzugefügt: "Vielleicht hatten sie sogar Recht."
Gerade einmal neunzehn Jahre, das Abitur mit Bestnoten bestanden, die Mutter Universitätsdozentin, der Vater bei der Kriminalpolizei, die nähere Verwandschaft eine Ansammlung von Wissenschaftlern, Journalisten, Politikern und nur wenigen schwarzen Schafen, und dieser junge Mann mit all seinen exzellenten Zukunftsaussichten, Ms Vater, verliebte sich ausgerechnet in ein pummeliges, ungebildetes Landei aus einer über dreihundert Jahren währenden Dynastie von Landeiern, bekam mit ihr ein Kind und heiratete sie schließlich gegen die Warnungen seiner Eltern.
Sie wurde Postzustellerin, er verpflichtete sich für zwölf Jahre bei der Bundeswehr, wo er bis zum Hauptmanns-Rang brachte. Gleich nach der Hochzeit zogen sie aufs Land, zeugten M und verbrachten die restliche Zeit ihrer Ehe damit, sich zu streiten oder aus dem Weg zu gehen. Nun stand seine Beerdigung an.
Die Friedhofsluft schien vom Sommer wenig beeindruckt. Unter den vielen Bäumen, die die Grabstellen des weitläufigen Areals umsäumten, war es kühl und ließ sie ihre bis dahin in den Händen gehaltenen Jacken wieder anziehen. Noch kühler, fast frostig wurden sie von den schon auf dem Platz vor der Kirche wartenden Trauergästen empfangen, besonders seine Mutter. Mehr als einen kurzen Handschlag mochte ihr niemand aus der Verwandschaft ihres Mannes gönnen.
Nur M und seiner Schwester mochten sie leiden. Die Beiden wurden herumgereicht, in die Arme genommen, mit aufmunternd gedachten Worten versehen; wenn ihr Hilfe braucht, was immer es ist, dann meldet euch; und mit einem mitleidigen Lächeln in die Arme des Nächsten gegeben und überall konnte man den Vorwurf an seine Mutter spüren: "Was hast du den Kindern nur angetan?"
"Nichts hat sie getan", dachte die andere Seite, nur sein Onkel nicht, der stattdessen den Arm von M ergriff und ihn aus der Gesellschaft zog, um sich weitab der Kirche unter einen Baum zu stellen, eine Zigarette anzuzünden, zu warten, der ersten ein zweite und eine dritte Zigarette folgen zu lassen und einfach nur zu schweigen.
Endlich erschien der Priester, ein junger Mann um die Dreißig mit dicker Hornbrille und einem berufsmäßig ernstem Ausdruck im Gesicht, dass der Onkel sich zu einem jovialen "Guck dir den mal an!" hinreißen ließ, und bat die Gäste in die Kirche. Unwillig schlurften die Beiden hinter den Anderen her und setzten sich jeder auf seinen zugewiesenen Platz auf einer der aufgereihten Holzbänke, die Verwandten der Mutter vorn, die des Vaters hinten, M mitsamt Mutter, Schwester und Großeltern in der ersten Reihe direkt vor dem Tischchen mit der Urne und einem von Trauerflor umrankten Bild des Vaters. Dahinter stand leicht erhöht ein schäbiges Rednerpult aus seltsam grauen Holz, an das der Priester trat und nach einem prüfenden Blick in die Runde, ob auch jeder an der rechten Stelle sitze, die Zeremonie begann: "Liebe Trauergemeinde, wir haben uns heute hier versammelt, um Abschied zu nehmen von einem geliebten Menschen, von einem Menschen...", dem er nie begegnet war, denn nur wenig von dem, was er über den Verstorbenen zu berichten wusste, passte zu den Erinnerungen, die M von seinem Vater besaß.
Ein Schöngeist, ein versierter Handwerker und Computer-Fachmann, ein liebender Vater und Ehemann sollte er gewesen sein. Wann?, fragte sich M. Er war doch so gut wie nie zu Hause.
Die Liebe zwischen den Eltern musste rasch wieder verflogen sein. Später, als seine Mutter sich schon über Jahre in psychologische Behandlung befand, fand M beim Herumschnüffeln in ihren Sachen einige von der Mutter handbeschriebene Blätter, in denen er nachlesen konnte, dass er ein Unfall gewesen sei, dass seine Vater auf eine Abtreibung drängte und es im Streit darüber beinahe zur Scheidung gekommen wäre.
Soweit M sich erinnern konnte, hatte sich sein Vater mit Vorliebe auf dem Armeestützpunkt verkrochen, sofern er nicht gerade zu einem Manöver im Ausland unterwegs gewesen war. Und war er doch einmal zu Hause gewesen, dann hatte jeder nach seiner Pfeife tanzen müssen und meist hatte er sich in derart gereizter Stimmung befunden, dass die Kinder ihm sowieso, wo möglich, aus dem Weg gegangen waren. Und abends hatte er sich nur zu oft im Wohnzimmer eingeschlossen, die Kopfhörer aufgesetzt und Stunden lang Musik hörend und eine Zigarette nach der anderen rauchend einfach nur da gesessen, dabei vielleicht nachgedacht, vielleicht darüber, dass er doch besser auf seine Eltern gehört hätte. Das war Ms Vater gewesen.

Bevor der Leichenschmaus serviert wurde, zog ihn der Großvater zu einer etwas isoliert stehenden Sitzgruppe im vorderen Raum des zweigeteilten Restaurants, wo sie niemand hören konnte. Sie setzten sich gegenüber, M so, dass sich der Nebenraum und die Mehrzahl der Gäste darin in seinem Blickfeld befanden.
"Hast du dir die Sache überlegt?", fragte der Großvater und M schüttelte zaghaft den Kopf.
"Du kannst bei uns wohnen", sagte hastig sein Großvater, "machst hier deinen Abschluss und dann studierst du. Alles kein Problem."
"Ich weiß nicht", druckste M herum und schaute nach seiner Mutter, die leise weinend an einer Ecke der Tafel saß. "Das ist ja sehr nett von euch, aber ich kann doch nicht einfach..."
"Natürlich kannst du", unterbrach ihn sein Großvater, der Ms Blick bemerkt hatte. "Überleg doch mal! Im Moment bist du deiner Mutter doch nur eine Last und du kannst sie auch besuchen, so oft du willst. Aber du musst doch jetzt auch an deine Zukunft denken. Du willst doch mal etwas werden, oder?"
"Ja... schon... aber..."
"Das ist doch das Beste für euch alle. Und deine Oma kann dir jeden Studienplatz besorgen, den du haben willst. Dir steht alles offen. Du tust doch weder dir noch deiner Mutter einen Gefallen, wenn du jetzt dableibst. Sie hat doch schon genug um die Ohren. Und du, du musst doch auch mal an deine Zukunft denken."
M blickte zu Boden und flüsterte: "Ich weiß."
"Na siehst du", triumphierte mit verständnisvoller Stimme der Großvater und sagte ebenso verständnisvoll: "Sei doch vernünftig! Deine Mutter schafft das nicht, zwei Kinder allein groß zu ziehen. Und am besten kannst du ihr helfen, indem du etwas aus dir machst und nicht weiter zur Last fällst. Wenn du bei ihr bleibst, tust du euch allen keinen Gefallen."
M fühlte sich durch die Situation überfordert. Weder wollte, noch konnte er sich jetzt entscheiden. Im Grunde wollte er, so wie den gesamten Tag und die Tage zuvor, einfach nur woanders, weit weg oder auch nirgends sein und sich nicht mit solchen Sachen beschäftigen, für die er schlicht und einfach zu jung war. Früher hatte sein an den Gehorsam seiner Truppe gewöhnter Vater alles entschieden und die Mutter seine Kleidung gekauft.
Ob er zu Weihnachten lieber ein Computerspiel oder einen Elektronikbaukasten bekommen wollte, von solcher Tragweite waren die Entscheidungen, die er bisher zu treffen gehabt hatte. Und nun kam die Mutter in sein Zimmer, sprach, weil ihr wohl nichts Besseres einfiel: "Jetzt bist du der Mann im Haus", kam der Großvater in sein Zimmer und forderte ihn auf, vernünftig zu sein, kam sonstwer ins sein Zimmer und erwartete, dass er von heute auf morgen erwachsen geworden wäre.
Sein Großvater drängte: "Was ist nun?"
"Ich weiß nicht", entgegnete M, denn er wusste es tatsächlich nicht; er wusste gar nichts und doch musste er dem Großvater eine Antwort geben. M sah wieder hinüber in den Nebenraum, in dem es laut geworden war. Gerade wurde das Essen serviert. Sein Blick schweifte über die Gäste zu seiner Mutter, die einsam in ihrer Ecke saß und immer noch in sich versunken mit hängenden Schultern und gesenktem Kopf die Tränen fließen ließ. Auch bemerkte er die erwartungsvollen Blicke seiner Großmutter, die halb versteckt und im Gespräch mit einer M unbekannten Frau herüber schaute und auf ein Zeichen hoffte, dass M sich endlich entschieden hätte.
"Weißt du", sagte der Großvater, während er aufstand, "überleg es dir noch einmal gründlich. Ist vielleicht nicht der richtige Zeitpunkt dafür. Wir reden nächste Woche noch einmal darüber", und ging zu seinem Sitzplatz. Nach einem kurzen Zögern und dem absurden Gedanken, einfach aus dem Restaurant zu laufen, folgte ihm M.

 

Dies schreib Thomas H. über seine Geschichte

Hallo, das ist meine erste Geschichte hier bei Kurzgeschichten.de und ich hoffe, sie gefällt euch.

Hallo Thomas,

und herzlich willkommen bei uns.
Kommentare dieser Art bitte immer in einem gesonderten Posting unter die Geschichte.

Kommen wir zum wichtigsten.
Grundsätzlich hat mir deine Geschichte gefallen. Die Überforderung durch den Großvater kommt meines Erachtens nur ein bisschen unvermittelt. Vielleicht erwähnst du es zu Beginn schon einmal an der Stelle, an der sich M das erste mal weit fort wünscht. Noch nicht das Ansinnen, sondern nur, dass der Opa eine Antwort erwartet.

Ich könnte mir vorstellen, dass die Sippe des Vaters in ihm auch schon deshalb negative Emotionen weckt, weil er den Vater als streng und unangenehm erlebt hat. Auch das könnte mit in die Geschichte fließen.

Noch einige Details:

ungebildetes Landei aus einer über dreihundert Jahren währenden Dynastie von Landeiern
es muss in diesem Falle "über hundert Jahre alten Dynastie" heißen.
wo er bis zum Hauptmanns-Rang
da fehlt ein "es"
Die Friedhofsluft schien vom Sommer wenig beeindruckt. Unter den vielen Bäumen, die die Grabstellen des weitläufigen Areals umsäumten, war es kühl und ließ sie ihre bis dahin in den Händen gehaltenen Jacken wieder anziehen.
Da hast du irgendwas verdreht. Soi ist es jedenfalls die Friedhofsluft, welche die in den Armen gehaltenen Jacken anzieht. Geh den Satz noch mal durch.
Nur M und seiner Schwester mochten sie leiden.
und seine Schwester (wo ich gerade dabei bin, gib M einen richtigen Namen. Das ist doch kein Zeitungsbericht, in welchem der Prot anonym bleiben muss.)
und einem berufsmäßig ernstem Ausdruck im Gesicht, dass der Onkel sich zu einem jovialen "Guck dir den mal an!" hinreißen ließ
- einem berufsmäßig ernsten Ausdruck (im Dativ wird das m nur einmal gesetzt)
- Gesicht, das (du kannst es durch welches ersetzen, also nur ein s)
in diesem Falle fehlt, wenn du den Satz tatsächlich so belassen willst auch ein "durch" Gesicht, durch das der Onkel sich ...
vor dem Tischchen mit der Urne und einem von Trauerflor umrankten Bild des Vaters
Die Urnenbeisetzung folgt in der Regel ein paar Tage nach der Trauerfeier und findet nur im engsten Kreis statt. Bei der Trauerfeier liegt der Tote unabhängig davon im Sarg, ob er begraben, seebestattet oder verbrannt wird.
Später, als seine Mutter sich schon über Jahre in psychologische Behandlung befand,
psychologischer
dass er ein Unfall gewesen sei, dass seine Vater auf eine Abtreibung drängte und es im Streit darüber beinahe zur Scheidung gekommen wäre.
ich würde das doppelte "dass" hier vermeiden.
dass er ein Unfall gewesen sei, seine Vater auf eine Abtreibung drängte und es im Streit darüber beinahe zur Scheidung gekommen wäre.

Lieben Gruß, sim

 

Danke für die Kritik. Ich hab da irgendwie den falschen Text eingestellt. Normalerweise schreib ich immer nur Buchstaben statt der Namen und denk die mir zum Schluss aus. Hab das hier auch gemacht. Der Prot heißt jetzt Daniel. Nur vergessen. Werde ich mit den Korrekturen dann reinstellen.

 

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