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Die Befreiung
Welche ist wohl die schlimmste Form eines Gefängnisses?
Das klassische zweckdienliche Einzimmerapartment mit eingeschränktem Blick auf den urinverseuchten Steinboden? Oder der psychische Kerker, in den wir Tag für Tag unser Gewissen verbannen?
Nun, ich denke, das liegt im Auge des Betrachters.
Der ersten Form des Kerkers widmen wir die meiste Aufmerksamkeit. Wir sehen ihn mit unseren Augen, können ihn mit unsren Finger berühren.
Die zweite Form jedoch, ist meiner Meinung nach, die abscheulichere, grausamere und beängstigendere Variante, die uns unser Leben bietet.
Ich möchte nicht sagen, beide Versionen hätten keine Gemeinsamkeiten. Allzu oft folgt der Ersten die Zweite auf Schritt und Tritt.
Schließlich müssen wir unser Gewissen, die Stimme der Vernunft wie man so sagt, in den gedämpften Kerker schließen, um eine Tat zu begehen, die uns in die erste Form des Gefängnisses bringt.
Doch während wir in einem materiellen Verließ eingeschlossen sind und es für unseren Körper keinen Ausweg aus der derzeitigen Situation gibt, tastet sich unser Gewissen leise, aufmerksam und vorsichtig versteht sich, an seine Gitterstäbe heran.
Es sucht sich das eine Eisenglied, welches bereits durch die langjährige Existenz des Kerkers verschlissen und beschädigt ist und wagt sich an die Aufgabe heran, sich zu befreien.
Wenn es Glück hat und sein Gefängniswärter gerade vor dem Fernseher, der Tag für Tag nur dasselbe, routinierte Programm zeigt, eingeschlafen ist, wird es entkommen.
Es ist nicht einfach für den kleinen Kerl, sich den Weg durch die winzige, defekte Stelle zu bahnen, doch mit viel Geduld, die er sich im Laufe der einsamen Jahre angeeignet hat, wird es ihm gelingen, in seinen eigentlichen Wohnort zurückzukehren.
Der Wohnung in unserem Gehirn.
Ab jetzt kann es uns wieder mit guten Ratschlägen zur Seite stehen. Ob wir diese Hilfe gerne annehmen, müssen wir selbst entscheiden.
Manchmal jedoch, bleibt uns nur dieser eine Gesprächspartner und nach und nach, werden seine Worte wohlklingender und seine Versprechen glaubhafter. Das Gewissen wechselt von Feind zu Freund.
Doch in den vielen Jahrzehnten, die es in dem von uns gebauten Verließ verbracht hat, wurde es verbittert.
Die vielen Worte, die unzähligen verschwendeten Ideen, die wir ignorierten, trieben jeglichen Optimismus aus seinem Sein und Denken.
Warum sollte es uns weiterhin dienen?
Warum weiterhin versuchen, uns von folgenschweren Taten abzuhalten?
Nun? Welchen Grund hat es?
Ich denke, es gibt keinen.
Nichtsdestotrotz geben die meisten Gewissen ihr Bestes, beachten ihre Isolation wenn möglich nicht und geben weiterhin ihren Gebietern Ratschläge, während der freigelassene Eigennutzen ihren Platz einnimmt.
Doch unseres, von dem diese Geschichte hier handelt, ist anders.
Der Hass auf den, dem dieser Körper gehört, ist von der Minute an, in der das Klicken des Schlosses ertönte, bis zum Augenblick des Ausbruchs, unendlich gewachsen.
Und nun plant es seine Rache.
Da wir in unserer Geschichte nun zwei vollkommen verschiedenen Protagonisten folgen, geben wir dem Gewissen, der Leichtigkeit halber, einen Namen.
Nennen wir es Morris.
Bill Hansclows Laune stieg von Tag zu Tag. Sein Leben wurde besser, erfüllter. Nun, vielleicht konnte man es auch ertragreicher nennen.
Seine neue Frau schlief in dem Ehebett, dass er sich vor ein paar Monaten noch mit seiner Exfrau geteilt hatte. Das Haus, das er bewohnte, hatte er ebenfalls von ihr. Ja, ja, Scheidung war schon etwas Wundervolles.
Gegen fünf Uhr morgen erwachte Bill, er benötigte nicht viel Schlaf, die ersten Sonnenstrahlen des Juli-Tages durchbrachen den Vorhang und kitzelten sanft seine Haut. Vögel zwitscherten, sangen ihre Sommer-Hymnen.
Noch immer etwas schläfrig wälzte er sich aus dem Bett, er versuchte, dabei seine Frau wenn möglich nicht zu wecken, und ging ins Wohnzimmer.
Im Vorbeigehen holte er sich ein gekühltes Wasser aus der Minibar, ließ sich anschließend auf seine Couch fallen und zappte durch alle Fernsehprogramme.
Bill wurde von einem Pochen geweckt, er war wohl vor dem Fernseher eingedöst, das sich anfühlte, als würde ein tollwütiger Hund im Zehn-Sekunden-Takt all seine Tötungswut an Bills Gehirnwänden ablassen.
Als er sich aufsetzte, entstanden, im wahrsten Sinne des Wortes, kleine Sterne vor seinen Augen. Die Lichtflecken tanzten und zuckten.
Er schloss seine Augen fest, zählte bis fünf, wie er es bei einem Kater immer tat, und öffnete sie wieder. Die Sterne, sowie der Köter, waren wieder verschwunden. Vielleicht war er heute doch zu früh aufgestanden.
Bald war es soweit. Das Labyrinth war vorbereitet. Bill würde tagelange, wahrscheinlich sogar Jahre, ohne fremde Hilfe, darin herumirren. Doch Morris genügte es, wenn er ihn nur ein oder zwei Tage dort einsperren konnte. Er hatte bereits alles geplant, das Unterfangen würde nicht viel Zeit in Anspruch nehmen.
Zick zack, bim bam und Morris hätte Bill überrumpelt. Bill Hansclow war ein einfältiger Mann. Sein Glaube war unausgeprägt und sein Gedankengang reichte nicht weiter als bis zum nächsten Frühstück. Beinah lächerlich, dass ein genialer Kopf wie Morris jemanden wie Bill zugeteilt worden war.
Nun, daran konnte er nichts ändern. Aber er konnte aus dieser Situation das Beste machen.
Und das würde Morris tun. Bei Gott, das würde er tun.
Als Bill in die Küche ging, fielen die Schmerzen erneut über ihn her. Diesmal anhaltender. Der Hund wurde vom Terrier zum tollwütigen Pitbull.
Er presste beide Handballen gegen seine Schläfen, drückte und drückte, doch der Schmerz wurde schlimmer.
Bill brach auf den weiß gekachelten Küchenboden zusammen und zuckte unter den quälenden Schmerzen.
„Bill, mein Freund.“ hörte er eine Stimme in sein linkes Ohr flüstern. Er öffnete die Augen, konnte jedoch nichts erkennen, außer tiefer Schwärze, die ihn wie ein Mantel umgab.
„Wir werden jetzt tauschen. Nur ein bisschen, vielleicht ein, zwei Tage. Länger will ich dich gar nicht belästigen, hast du mir auch nie mehr Aufmerksamkeit gewidmet.“ Die fremde Stimme lachte gellend. Sie wurde immer leiser, während sie sprach. Wurde zu einem Flüstern und auch die Dunkelheit verkroch sich langsam in das nächste Mauseloch und Bill konnte wieder sehen.
Er lag noch immer auf den Boden, doch nicht in seiner Küche. Der Raum bestand aus riesigen aufeinander gereihten Steinen, die Bill tatsächlich ein bisschen an die alten Schlösser in Schwarz-Weiß-Filmen erinnerten. Wasser rannte von den Wänden und tropfte klatschend auf den Boden.
Ächzend richtete er sich auf. Eigentlich war es kein Raum, indem er sich befand, sondern ein langer Flur. Er war mindestens vier Meter hoch und erstreckte sich soweit, dass seine scheinbare Endlosigkeit von der Dunkelheit verschluckt wurde.
Hin und wieder hingen von der Decke einfache Glühbirnen an Kabeln herab, die jedoch nicht sehr viel Licht spendeten und so nur kleine Passagen des Ganges erhellten.
Es war kalt und Bill bemerkte die heiße Spur, die sein Blut gebildet hatte, als es von seinem Hinterkopf floss.
Vorsichtig, auf einen weiteren Schwindelanfall gefasst, stand Bill auf. Er versuchte, etwas zu erkennen, blickte mit zusammen gekniffenen Augen durch die Dunkelheit und sah, aus einem nicht allzu weit entfernten Raum, einen Lichtschimmer dringen.
Langsam bewegte sich Bill darauf zu.
Dort lag sie, tief schlummernd unter der Decke, das dünne Laken bedeckte ihren zarten Körper wie ein Leichentuch. Ihre weiße Haut schimmerte in der Düsternis des Schlafzimmers.
Morris schloss die Tür hinter sich. Nun wurde der Raum nur noch durch den kleinen Lichtstrahl erhellt, der durch die Schlitze des Vorhanges drang.
Dornröschen, ihren richtigen Namen kannte Morris nicht, drehte sich um, grunzte und schlief weiter. Morris hielt die Bohrmaschine in der rechten Hand. Zum ersten Mal in seinem Leben fühlte er das Gewicht, das seinen Arm nach unten zog. Die Wärme des Zimmers streichelte seine Wangen. Er atmete tief ein.
Der Geruch von Bills Frau war atemberaubend. Eine Mischung aus Schweiß und Lavendel. Eine angenehme Gänsehaut lief über Morris’ Rücken.
Wäre er nicht zum ersten Mal in unserer Welt gewesen, hätte er dies alles nicht wahrgenommen. Doch seine Geruchs- und Geschmacksnerven wurden durch jeden kleinen Duft gereizt. Seine Empfindungsstränge wurden überschwemmt und er ließ vor lauter Neugier den Bohrer fallen, der scheppernd auf dem Boden aufschlug.
Langsam richtete sich Dornröschen auf und als sie ihren Mann erkannte, schenkte sie Morris ein liebliches Lächeln. Das Bettlaken rutschte von ihren Schultern und gab ihre weißen Brüste frei.
Morris starrte sie an und für eine kurze Zeit, vergaß er seinen eigentlichen Aufenthaltsgrund.
Bill konnte nicht glauben, welches Bild ihm sich auf dem kleinen Bildschirm, der inmitten eines kleinen, dreckigen Raumes aufgestellt war, bot. Er sah, wie seine Frau, die Frau die er so liebte, von irgendeinem Kerl vergewaltigt wurde, der ihn gerade hinterrücks überfallen, niedergeschlagen und hierher verschleppt hatte.
„Nein.“ flüsterte er beinahe geräuschlos. „Nein!“ Ein Mann, der auf einer durchgesessenen, modrigen Couch saß, drehte sich in Bills Richtung, Chipskrümel klebten an seinen Lippen wie ein ansteckender Ausschlag, und starrte den Eindringling an.
„Wer zum Teufel bist du?“ Feuchte Brösel flogen Bill entgegen. „Hey, Arschgeige?!“
Bill weinte. Tränen und Rotz flossen in gleichen Mengen über sein Gesicht. Er ignorierte die penetrante Fragerei des Mannes.
„Bist du taub, oder was?“ setzte ihm der weiter zu. Er wollte einfach nicht seine Klappe halten.
„Morris?“ Bei diesem Wort zuckte Bill unwillkürlich zusammen. Er wendete den Blick von dem grausigen Bild des Fernsehers ab und starrte auf den Mann. Er war ein hagerer, großer Kerl. Ein Spitzbart zwirbelte sich von seinem Kinn. Seine Augenbrauen waren buschig und bildeten einen starken Kontrast zu seiner Glatze. Er trug einen grauen Overall, der teilweise mit Essensresten und anderen Substanzen, deren Ursprung sich Bill nicht einmal erahnen wollte, bedeckt war.
„Was?“ Bills Gedanken überschlugen sich.
„Nein, nein, du bist nicht Morris. Aber wenn du ihm nicht verdammt ähnlich siehst, will ich nicht komplett kahlköpfig sein!“ Der Mann lachte über seinen eigenen Witz. „Nein, Mann, wer bist du und von wo, verdammt, kommst du her?“
„Ich...“ Bill brachte kein weiteres Wort hervor. Seine Stimmbänder verknoteten sich und sein Blick wurde wieder von dem schrecklichen Fernsehbild angezogen.
Plötzlich stürmte der Glatzköpfige an ihm vorbei, Bill wurde beinah von den Füßen gerissen.
„Das gibt’s nicht.“ Er durchleuchtete den Raum mit einer riesigen Taschenlampe, die er scheinbar aus dem Nichts hergezaubert hatte.
„Morris, du alter Dreckskerl, wo bist du?“ Der Hässliche schlug mit den Fäusten gegen die morschen Gitterstäbe, das große Vorhängeschloss klirrte immer wieder laut.
Vorsichtig stand Morris auf und bückte sich nach der Bohrmaschine. Er war vollkommen nackt. Dornröschen, der Name passte nach Morris Ansicht immer besser, schlief schon wieder. Es war halb sieben Uhr morgens und die Sonne stieg weiter. Bald würde es vollkommen hell sein.
Morris fasste nach seinem Kissen und drückte es auf ihr schönes Gesicht. Sie fing an, sich zu regen, versuchte den Gegenstand auf ihrem Kopf zu entfernen. Doch Morris drückte fester zu. Er stieg auf die nachgiebige Matratze und klemmte das Kopfkissen mit seinen Knien fest. Dann setzte er die Spitze des Bohrers auf das Kissen. Unter ihm zuckte und schrie Bills Frau wie wild.
Das Geräusch, das ertönte, als Morris den Knopf umlegte, war ohrenbetäubend laut in der Stille des Schlafzimmers. Mit einem schrillen Pfeifen drang die Bohrmaschine durch das Kopfkissen. Federn flogen durch die Luft und Morris konnte die Gedämpften Schreie des Dornröschens kaum noch hören.
Schlagartig stieß der Bohrer auf Widerstand und ihr Schrei wurde schriller und lauter und verstummte schließlich komplett.
Der hagere Kerl ging immer wieder in dem kleinen Zimmer auf und ab, während perverse Flüche über seine Lippen drangen. Er schwenkte die Taschenlampe bei jedem Schritt, so dass auf dem nassen Boden ein gelber Lichtkegel auf und ab sprang.
Drei der Wände in dem Raum waren aus demselben Stein, der auch die Mauern des Flures bildete. Jemand hatte Wandteppiche daran aufgehängt, die das Hallen in dem kalten Zimmer ersticken sollten. Jedoch wiesen sie bereits an einigen Stellen faulige Löcher auf.
Die vierte Wand war ein Gitter, hinter dem ein Raum lag, der einem Gefängnis gleich sah. Eine Pritsche, die mit einem blauen Laken bedeckt war, eine Toilette, ein Waschbecken, eine kleine Nachttischlampe, die wohl eher dem Zweck als der Behaglichkeit diente, ein paar Bücher und einige andere Utensilien stapelten sich in dem dunklen Raum. Doch dieser Kerker war für Bill belanglos.
„Hey!“ Bill konnte nicht laut rufen, denn seine Stimmbänder gehorchten ihm kaum. Vielleicht hatte er aber auch vor dem Geräusch seiner eigenen krächzenden Stimme Angst, wenn sie von den Wänden widerhallte.
„Nein, nein, das hätte nicht passieren dürfen. Wenn er das erfährt, man wird mich umbringen“ Der Mann flüsterte, Bill konnte seine Worte nur erraten.
„Hey, Sie da!“ Diesmal war seine Stimme kräftiger. Der Hagere drehte sich um und riss die Augen auf, als würde er sich erst jetzt Bills Anwesenheit bewusst werden.
„Du!“ Er schrie, zeigte mit einer knochigen Hand auf Bill Hansclow.
„Du hast ihn raus gelassen!“ Fluchend schleuderte er die Taschenlampe beiseite und ging auf Bill los.
Vollkommen schockiert riss der dürre Mann Bill mit Leichtigkeit um und drückte ihn auf den harten Boden. Eisige Nässe durchtränkte seine Kleidung, während der Mann Bill eine schallende Ohrfeige verpasste.
„Du verdammtes Arschloch hast ihn da raus gelassen. Steckst mit Morris unter einer Decke, siehst auch so aus wie er.“
Der Schmerz vertrieb Bills Erstarrung. Er stieß den hageren Kerl beiseite und rappelte sich ächzend auf. Das dreckige Wasser tropfte von seinem Rücken, während salzige Tränen über seine Wangen liefen.
Ungeduldig, fast neugierig, entfernte er das Kissen und der Anblick, der sich ihm bot, erschreckte ihn bis aufs Mark. Morris hatte es geschafft, genau durch eines ihrer eisblauen Augen zu bohren. Augen, für die manche Dichter Lieder gesungen hätten.
Der Augapfel war zerfetzt worden, eine gelbliche, geleeartige Flüssigkeit tropfte, mit Blut vermischt, daraus hervor.
Morris Eingeweide verkrampften sich und sein Bauch quoll über vor lauter kotzfreudigen Schmetterlingen.
Reflexartig drehte er sich zur Seite und ein heißer Strahl Erbrochenes schoss aus seinem Mund. Das Würgen brannte in seiner Kehle und seine Augen fingen an zu tränen, während ihn schmerzhafte Krämpfe immer wieder von neuem beutelten.
Als nach viel zu langer Zeit auch endlich das letzte Würgen aufgehört hatte, richtete er sich vorsichtig auf. Die Wände drehten sich um ihn, führten einen wilden Tanz auf.
Er wischte sich mit seinem Handrücken Rotz und Erbrochenes von Mund und Kinn. Seine Kehle, sein Magen loderten.
Es gab also auch schlechte Dinge am Mensch sein.
Bill fixierte den großen Kerl, der an der gegenüberliegenden Wand lehnte und sich am Kinn kratzte.
„Weshalb hast du ihn frei gelassen?“ fragte der Mann keuchend.
„Wen?“ Bill hatte noch immer keine Ahnung, wovon er sprach.
„Du weißt echt nicht, wen ich meine, hm?“
Bill schüttelte den Kopf.
„Den Gefangen.“ Er deute mit einem schwachen Nicken in Richtung der Gitterstäbe. „Morris.“
„Ich kenne keinen Morris.“ Obwohl ihm der Name tatsächlich bekannt vorkam.
„Wie bis du überhaupt hierher gekommen?“
Bill räusperte sich. „Ich wurde verschleppt.“
„Du wurdest verschleppt?“ Der Mann strich mit den gelben Fingernägeln weiter über seine Haut. „Von wem?“
Bill zuckte die Schultern. Dann wurde ihm der Fernsehapparat bewusst und er zeigte mit der rechten Hand auf den flimmernden Bildschirm.
Morris glaubte, dass hinter der Tür neben Bills Ehebett ein Badezimmer liegen musste. Er meinte, sich wage daran erinnern zu können. Er stieß die Tür auf und tastete nach dem Lichtschalter.
Die Strahlen der Neonröhre brannten in seinen Augen, als sie schlagartig die Dunkelheit vertrieben. Es spiegelte sich von den weiß gekachelten Wänden und dem polierten Marmor.
Doch am meisten wurde Morris von seinem Spiegelbild geblendet. Zum ersten Mal, sah er sich selbst.
Das Spiegelbild von Bill hatte er oft gesehen, früher, als er an den Dingen der Außenwelt noch interessiert war. Sein Wärter stellte den Fernseher nur selten ab.
Doch der Mann, der ihn jetzt anstarrte, wirkte vollkommen anders.
Die Stirn hatte sich geglättet, dadurch waren Bills Falten verschwunden. Sein Haar schien fülliger zu sein und sein Körper wirkte belastungsfähiger. Bills Segelohren waren nun keine mehr, sie hatten genau den richtigen Abstand zum Schädel.
Doch was Morris am Meisten beeindruckte, waren seine Augen. Bills Augen waren braun, beinahe schwarz. Die eines Verräters.
Die Augen jedoch, in die Morris jetzt blickte, waren grün. Es war nicht ein einziger Grünton, sondern die Farbenpracht einer in Blüte stehenden Wiese tummelte sich in seiner Iris. Gelbe Partikel, wie Sterne, funkelten in ihr.
Hätte er nicht noch immer Erbrochenes in Gesicht, Mund und Nase, wäre er eine beeindruckende Gestalt gewesen.
Morris wusch sich am Waschbecken, eine Dusche kannte er nicht, und holte sich frische Kleidung aus Bills Kleiderschrank. Er entschied sich für eine Khakihose und ein kragenloses weißes Baumwollhemd. Jetzt fühlte er sich etwas besser, auch wenn noch immer dieser ekelhafte Gestank an ihm haftete.
Morris versuchte den Blick von Bills durchbohrter Frau fernzuhalten. Einmal diese erniedrigend Sache durchzustehen, war oft genug.
Er verließ das Schlafzimmer und schlenderte durch die Wohnung. In der Küche angelangt, riss ein seltsamer Gegenstand, den Bill immer „Kühlschrank“ genannt hatte, Morris’ Aufmerksamkeit an sich. Er zog langsam an dem Griff und öffnete die Tür.
Bill hatte die Nase voll, das dumme Gerede zerrte tierisch an seinen Nerven.
Mittlerweile hatte er herausgefunden, dass dieser Kerl eine Art Gefängniswärter war. Er hatte die Aufgabe, auf einen gewissen „Morris“ (dieser Name kam Bill unwahrscheinlich bekannt vor, bei jeder Erwähnung durchzuckte ein Blitzstrahl sein Nervensystem) aufzupassen.
Ansonsten konnte Bill nichts von Interesse herausfinden, dieser Mann redete fast ausschließlich wirres Zeug.
Er erwähnte keinen Namen, nichts von anderen Menschen, die irgendwo sein mussten, und klärte Bill auch nicht darüber auf, wo er sich hier befand.
„Ich weiß einfach nicht, wie’s dieser Teufelskerl geschafft hat, hieraus zu kommn. Es ist zum...“ Der Wärter sprach sehr undeutlich und Bill bemerkte, dass ihm ein Schneidezahn fehlte.
„Wo sind wir hier?“ unterbrach ihn Bill.
Der Wärter blickte verwirrt auf, als hätte er den Faden verloren. „Hier? Na, im Kerker.“ Er sagte es mit einer Selbstverständlichkeit, als wäre Bill dumm, es nicht zu wissen.
Bill atmete einmal tief ein. „Welcher Kerker?“
„Nun, DER Kerker. DAS Verließ. Welches sonst?“
Wahrscheinlich würde Bill keine genaue Auskunft bekommen.
„Ach ja, DER Kerker. Können Sie mir sagen, wie ich hier raus komme?“ Er bemühte sich um einen ruhigen Tonfall.
„Hier raus? Klar doch, ist zwar eine Weile her, aber ich glaub, ich kenn den scheiß Weg noch.“ Der Aufseher juckte sich am Kinn und wies Bill hinaus aus dem hässlichen Zimmer.
Eine eisige Kälte und tausend verschiedene Düfte schlugen ihm entgegen.
Morris bekam wieder ein seltsames Gefühl in der Magengrube und rechnete fest damit, den letzten Teil seines Mageninhaltes zu verlieren.
Doch blieb das schmerzende Würgen aus und Morris’ Hand griff plötzlich nach einer großen Wurst, die er gierig bis zur Hälfte verschlang. Der Reihe nach arbeitete er sich durch die verschiedenen Geschmäcker, aß alles von Obst, Gemüse, Pudding, Speiseeis bis zu rohem Fleisch (obwohl der sich nicht erklären konnte, wie Menschen so etwas hinunterwürgen konnten).
Als Morris das Gefühl hatte, keinen Bissen mehr schlucken zu können und haufenweise Essensreste und Abfälle auf den Boden lagen, setzte er seinen Wohnungsrundgang fort.
An dem Großbildfernseher, der wie ein Ungetüm beinah das gesamte Wohnzimmer für sich beanspruchte, war er wenig interessiert. Sein Wächter hatte denselben, auch wenn dieser kleiner war und meist nur einen Kanal empfing.
Er ging durch das Zimmer hindurch hinaus auf die Terrasse. Er hörte das Rauschen vorbeifahrender Fahrzeuge; LKWs, Autos und Motorräder, in deren Lack die Sonne glitzerte.
Ein riesiger gepflegter Garten erstreckte sich vor ihm, das Gras war gleichmäßig gemäht und die Ziersträucher perfekt geschnitten.
Er stand lange Zeit nur da. All diese Dinge nahmen seinen Blick und seine Aufmerksamkeit vollends gefangen. Und dann sah er es, einen funkelnden Gegenstand.
Das Sonnenlicht wurde in den Klingen einer Heckenschere gespiegelt.
Bill und der Wärter hasteten durch die schmalen Gänge. Ihre Füße platschten über den Steinboden, traten teilweise in kleine Pfützen und ihre Krempen füllten sich mit Wasser. Noch immer tropften Tränen von Bills Wangen, dachte er an das schreckliche Bild auf dem Fernseher, als dieser Kerl seine süße Frau gefickt hatte.
„Wohin müssen wir?“ er blieb abrupt stehen und starrte seinen Gefährten an.
„Wohn wir...was?“ Langsam ging dieser Kerl Bill auf die Nerven.
„Ich war schon lange nicht mir hier, verdammt lange. Seit fast dreißig Jahren sitz ich jetzt schon da unten und kümmere mich um Morris.“ Und das nicht sehr gut. dachte Bill.
„Ich bin träger geworden, alt.“ Er kratzte mit seinen Fingernägeln über sein Kinn, als versuchte er Gold unter der Haut freizulegen.
„Früher hab ich mich hier scheißgut ausgekannt. Besser als meine Hosentasche, obwohl ich keine habe, du verstehst. Ich hab auf so nen Kerl aufgepasst, den Namen weiß ich nicht mehr. Er war scheiß aggressiv, und triebhaft. Er war so launisch, dass er jedes Mal, wenn ich in die Nähe seines stinkenden Käfigs kam, durchgedreht is und versucht hat, alles kurz und klein zu schlagn. Und als der Befehl von oben kam, dass er raus soll, hab ich mich versteckt. Der hätte mich zerfleischt und ausgespuckt wie n altes Kaugummi. Mit Morris war alles einfacher, der blieb schön drin sitzn und starrte an die Decke.“ Wieder dieses Schaben am Kinn. „Und dann hat’s mich nicht mehr sonderlich interessiert. War nicht sehr gesprächig, der Junge.“
Sie gingen weiter, diesmal etwas langsamer.
„Stopp. Da geht’s lang.“ Bill konnte gerade noch erkennen, wie der Wärter um eine dunkle Ecke bog und im Schatten verschwand.
Als Morris das erste Mal die schützenden Wände von Bills Wohnung verlassen hatte, war ein schreckliches Gefühl über ihn hereingebrochen.
Der blaue Himmel lag schwer und viel zu nahe über der Erde, die viel befahrene Straße wirkte bedrohlich.
Die Sonne, die für die frühen Morgenstunden unerträglich hell schien, brannte auf seiner Haut. Morris hatte das Gefühl, jeden Augenblick in Flammen aufzugehen. Er stellte sich vor, wie Vögel explodierend vom Himmel fielen während die Fische in Bills Gartenteich im siedenden Wasser kochten. Die Helligkeit schädigte seine Augen und die Hitze seiner Haut.
Als er in eine Straßenbahn stieg, wurde er von stinkenden Männern und überheblichen Frauen eingequetscht. Er fasst nach einer Halterung und seine Hand tappte in einen klebrigen Kaugummi. Viele Ellbogen bohrten sich in seine Rippen, unterdessen ekelhafter Atem in seinen Nacken stieß.
Als er die Bahn endlich verlassen konnte, atmete er die, seiner Meinung nach viel zu frische Luft, freudig ein. Selbst die brennende Sonne, deren Strahlen sich alle einzeln in Morris’ Haut bohrten wie angespitzte Bleistifte, war besser, als die drängende und schubsende Menschenmasse.
Lange war er ziellos durch die riesige Stadt gelaufen. Hochhäuser ragten neben ihm bis in den Himmel, tausend Menschen drängten sich durch die engen Straßen.
Es war schwieriger seinen Plan auszuführen, als Morris erwartet hatte.
Wahllos Menschen zu töten würde nicht funktionieren, er würde zu früh gestoppt werden. Zu viele Leute waren auf den Bürgersteigen. Er musste sich einen passenden Ort suchen. Schließlich musste er Bill dieselbe Strafe aufhalsen, die auch Morris erteilt worden war.
Vollkommen in seine Gedanken versunken, war er die Straßen entlang gewandert, bis zu einem großen Rummelplatz. Selbst von Außerhalb der Einzäunung sah er Riesenräder und andere Geräte, die in bunten Farben leuchteten.
Staunend, aber vorsichtig, ging er durch das Tor und ließ sich von den lauten Stimmen und dem Geruch von Popcorn und Tiermist gefangen nehmen.
Er kannte diese Dinge aus seiner Kindheit. Nicht dass er sie jemals tatsächlich besucht hätte, nein, doch war Bill oft mit seinen Eltern auf Rummelplätze gegangen, hatte Zuckerwatte gegessen und war bis zur Übelkeit Achterbahn gefahren.
Früher hatte Morris Bills Leben auf dem Fernseher noch verfolgt, später hatte sein Interesse ab- und seine Wut zugenommen.
Bill lehnte an der warmen Wand. Es schien ihm, als wären sie Kilometer weit gelaufen.
Die Wände hatten von Stein zu Gummi gewechselt. Es war verdammt heiß hier und Bills Stirn glänzte feucht.
Der schlaksige Kerl durchsuchte seit einer Ewigkeit einen riesigen Schlüsselring. Wofür er so viele benötigte, war Bill rätselhaft. Große und kleine, bronzene, goldene und silberne Schlüssel klirrten und knirschten aneinander.
„Ich weiß, dass ich das blöde Ding hier irgendwo habe.“ nuschelte der Wärter. Sein Gesicht runzelte sich zusammen.
Auf der roten Tür stand „Zutritt verboten“ in grellen Lettern, die von Zeit zu Zeit die Farben wechselten.
Bills Augen brannten von den vergossenen Tränen, seine Haut war salzig, jedoch kochte sein Inneres vor Wut. Dort draußen war dieser Morris und benutzte seinen Körper. Lebte sein Leben. Tat Dinge, die Bill für immer büßen musste. Zu allem Übel, war er hier eingesperrt, mit diesem Kerl, der seinen eigenen Arsch nicht identifizieren könnte, wenn er vor ihm stehen würde. Und dazu wusste Bill nicht einmal, wo „hier“ eigentlich war.
Morris hatte ihre Plätze vertauscht, das wurde ihm allmählich bewusst. Doch wie zur Hölle er das geschafft hatte, war Bill schleierhaft und momentan hegte er auch kein großes Interesse daran, es herauszufinden. Alles was er wollte, war, von hier zu verschwinden. Und dazu musste er durch diese Tür. Zumindest das wusste er.
Plötzlich öffnete sich das Schloss mit einem lauten Klicken. „Hah! Wusst’ ich’s doch!“ Der Wärter wedelte mit einem goldenen Schlüssel vor Bills Gesicht. Die Tür ging auf und das Knarren der Jahrelang unbenützten Scharniere zerriss die Stille.
Vor ihnen erstreckte sich ein großer Raum, er erinnerte Bill an einen Saal. Trübes fluoreszierendes Licht schimmerte von der Decke. Ihre Quelle konnte man nicht ausmachen.
Und vor ihnen erstreckte sich eine riesige Glaswand. Durch sie konnte er das Innere einer Bar erkennen.
Morris hatte an diesem Tag viele Dinge unternommen.
Noch immer lag ihm der süße Geschmack von Zuckerwatte auf der Zunge und bei dem Gedanken an Bills Frau reagierten sowohl seine Hoden als auch seine Eingeweide gleichermaßen.
Jetzt teile sich Morris die Bar mit neun anderen Männern und zwei Frauen. Die beiden Damen saßen in der Ecke, nuckelten an einem Long Island Ice Tea. Wahrscheinlich versuchten sie damit eleganter zu wirken.
Das Bier, das vor Morris stand, schmeckte ekelhaft. Der malzige Geschmack trocknete seine Zunge. Bei jedem weiteren Schluck verkrampften sich seine Muskeln, als kämpften sie gegen das Gebräu an.
„Also, warum ich meine Alte verlassen hab’“ Der Mann neben ihm rülpste kurz. „es war wie ein Gefängnis. Kennst’ das? Ich mein’ dein Ehering.“ Er schlug kurz auf Morris’ Hand.
„Weißt du, die Ehe is’ wie ein Sarg, und jedes Kind haut einen neuen Nagel in den Deckel.“
„Sehr tiefsinnig.“ hörte Morris sich sagen. Der langhaarige Mann neben ihm plauderte jetzt bereits seit Morris’ die schäbige Bar betreten hatte. Schon lange hörte er nicht mehr zu, sondern nickte nur hin und wieder.
Plötzlich spürte er, wie sich stechende Kopfschmerzen in ihm ausbreiteten. Die Schmerzen liefen über seine Schädeldecke, zu seiner Wirbelsäule und seinen Hüften. Er wusste jetzt, dass ihm nicht mehr viel Zeit blieb und was er bis jetzt getan hatte, war nicht sehr produktiv gewesen. Er war von den vielen Dingen abgelenkt worden. Essen, Trinken, Sex, Übelkeit, all diese Dinge hatten gute Gelegenheiten, Bills Leben zu zerstören, verstreichen lassen. Er musste jetzt handeln.
„Na Junge, willste was anderes?“ fragte der fette Barkeeper, sein Wanst schwabbelte während er ein Glas mit einem Geschirrtuch polierte. Morris hielt das für vergeudete Arbeit, wo hier doch alles vor Dreck, Schmier und Fett nur so triefte. Über die Theke zogen sich tiefe Kratzspuren und das Leder auf den Barhockern war beinah zerfetzt. Beim Durchqueren des Raumes wurde man von einem mahlenden Knirschen begleitet, das die Schuhe auf den von Scherben überfluteten Boden fabrizierten.
Morris blickte auf und dann fingen seine Augen wieder an zu funkeln. Seine vermutlich letzte Chance war gekommen.
„Was vollkommen anderes.“ Er sprang auf und riss die große Heckenschere aus seinem Hosenbund. Als er sie dem Barkeeper entgegenschlug, ließ der sein schmutziges Glas fallen.
Morris freie Hand umklammerte den Kragen des Fetten und zog ihn näher zu sich, während seine Andere eine Klinge der Heckenschere in seinen Mund rammte. Sie stieß gegen seine Schneidezähne und Morris drückte zusammen.
Die Heckenschere schnitt sich mit überraschender Leichtigkeit durch die Unterlippe des Barkeepers und trennte einen Teil von ihr ab. Der kleine Fetzen landete auf der schmierigen Theke und hinterließ einige Blutflecken.
Morris wartete auf das mulmige Gefühl, auf das brodelnde Spülwasser in seinem Magen, aber es blieb fern. Zum Glück.
Der Barkeeper starrte auf seine Lippe, die am Tresen klebte wie eine tote Schnecke.
Bill schlug gegen die Scheiben, seine Fäuste fingen an zu bluten. Er schrie und schrie, doch hatte es keinen Einfluss auf Morris handeln.
Während der Fette auf seinen Hautfetzen stierte, holte Morris für einen weiteren Schlag aus.
Doch der Barkeeper hob seine Arme um die Heckenschere abzuwehren und sie trennte die ersten drei Wurstfinger ab, die mit einem leisen Geräusch auf den Boden fielen. Der Dicke fing an zu schreien. Nein, er wimmerte. Es klang wie das Winseln eines Hundes.
Morris hörte nicht auf. Er packte die Schere mit beiden Händen, öffnete die Klingen und zwängte den Hals des Barkeepers zwischen sie.
Morris kniff beiden Augen zusammen, als er die Gummigriffe der Heckenschere zusammendrückte. Er spürte wie sich warmes Blut, das vermutlich nicht sein eigenes war, auf seiner Brust ausbreitete und öffnete die Augen.
Aus der klaffenden Wunde des Wirtes spritzte Blut auf den Tresen, Morris und seinen Stuhlnachbarn, der verdutzt sein Glas umklammerte, bis es in seinen Händen zerbarst.
Morris’ Kopfschmerzen wurden immer stärker. Bill versuchte mit aller Kraft auszubrechen, seinen Körper zurück zu gewinnen. Er hatte nicht mehr viel Zeit.
Bills blutige Fäuste krachten gegen die Glaswand, und langsam schienen seine Anstrengungen Wirkung zu erzielen. Kleine Sprünge entstanden in der Scheibe. Bei jedem Aufschlag wurden sie mit einem leisen Knacksen größer.
Morris riss seinen Kopf in Richtung des Betrunkenen, der neben ihm auf dem Barhocker saß. Der Wirt lag hinter dem Tresen. Sterbend umklammerte er seine Kehle, durch die noch immer Blut floss.
Morris trieb die Heckenschere in den Hals des Betrunkenen tief hinein, immer tiefer und tiefer. Er fiel von seinem Stuhl, machte keine Anstalten sich zu wehren.
Langsam wachten die Barbesucher aus ihrer Starre auf. Viele schrieen durcheinander. Eine der beiden Frauen fiel in Ohnmacht, die andere fächelte sich mit beiden Händen Luft zu, während sie immer wieder „Oh Gott, oh Gott“ nuschelte.
Morris war begeistert, wie einfach es war, die Leute mit Hilfe seiner mittlerweile bewährten Heckenschere zu beseitigen. Die Kraft zwischen den Klingen war unbeschreiblich. Schnipp, schnipp, der Finger ist ab. Schnapp, schnapp, die Kehle ist durchtrennt.
Er bückte sich nach seiner Waffe, die noch immer in dem Hals des zuckenden Besoffenen steckte, und plötzlich warf sich ein Schatten über ihn.
Ohne reagieren zu können, krachte eine Flasche Scotch auf seinen Schädel und Morris verlor das Bewusstsein, während Alkohol sich mit Blut und Schweiß vermischte.
Bill beobachtete alles. Er sah, wie Morris zwei Menschen tötete, nein, nicht einfach tötete, massakrierte!
Bill schrie und schrie, seine Fäuste hämmerten gegen die Glaswand und plötzlich...brach sie. Es regnete Splitter auf Bill und den Wärter, der seit ihrem Eindringen in den Saal dastand wie gelähmt. Ein frischer Wind, gemischt mit Alkohol und Blut, drang in ihre Nasen und dann standen sich Morris und Bill gegenüber.
Morris’ Gedanken überschlugen sich. Zuerst krachte die Flasche auf seinen Schädel und dann brach die Wand, die er zwischen Bill und sich gestellt hatte, mit einem lauten Getöse auseinander.
Wie konnte das geschehen? Er wollte Bill nicht sehen, wollte sich nicht mit ihm messen. Woher hatte er wissen sollen, dass dieser einfältige Mann, der Morris seine Freiheit geraubt hatte, es schaffen würde, bis hier vorzudringen?
Langsam richtete er sich auf, sein Kopf schmerzte und Splitter hatten Wunden in seine Haut geritzt.
Vor ihm stand ein Mann, dessen verschwitztes Haar strähnig an seinem Kopf klebte. Seine Stirn glänzte wie Speck und sein Hemd war gerissen. Morris wusste nicht, das sein eigener Anblick weitaus schlimmer war.
„Na, bist du jetzt glücklich, mich bei meiner Aufgabe unterbrochen zu haben?“ fragte Morris gereizt, während er die Scherben von seiner Kleidung strich. Er bemühte sich um einen ruhigen Tonfall, seine Angst wollte und durfte er nicht preisgeben.
Bill ballte seine blutenden Fäuste und atmete flach. Er antwortete nicht.
„Naja, zu deinem Glück, oder sollte ich sagen Pech, macht es nicht viel aus. Ich glaube, ich bin fertig, habe meine Arbeit vollendet. Und wenn ich so sagen darf, bin ich sehr stolz darauf.“ Morris lächelte Bill an. „Am meisten auf deine Frau.“
Das war zuviel. Bill sprang auf ihn, seine Hände ertasteten die Kehle seines Rivalen und drückten zu. Doch Morris war stärker, denn schließlich war dies seine Welt, und stieß Bill beiseite.
Er stand auf und wollte den Raum mit einem überheblichen Grinsen verlassen, als Bill sich den Schlüsselbund des Wärters schnappte, der in einer Ecke stand und das Ganze stillschweigend beobachtete, und auf Morris losging.
Er packte einen der größten Schlüssel und versuchte ihn mit voller Wucht in Morris’ Rücken zu schlagen. Bill traf und der Dietrich steckte in Morris Rückrat. Mit dem Schlüssel im Rücken wirkte er wie ein zu groß geratenes Aufziehspielzeug.
Morris schrie auf, fluchte all die Wörter aus, die er an diesem Tag gelernt hatte, und packte Bill.
Sie rangen miteinander, einmal Bill stärker, einmal Morris, bis Morris die Geduld verlor, vor Schmerz gepeinigt wie er war, und Bills Schädel gegen die Wand schleuderte. Nicht einmal, sondern öfter knallte er gegen die harte Mauer und hinterließ faustgroße Blutflecken, bis Bill schließlich ohnmächtig wurde und Morris’ Welt für immer verließ.
Bill öffnete seine braunen Augen (sie waren tatsächlich braun) und blickte verwirrt um sich. Neben ihm lag ein blutender Mann, aus dessen Hals der Schaft einer Heckenschere ragte. Das Blut pulsierte und als Bill an sich hinab sah, stellte er fest, dass sein Hemd vollkommen rot war.
Er wollte aufstehen, um sich von dem Sterbenden zu entfernen, rutschte aber auf dem feuchten Boden immer wieder aus.
Sirenen und die Schreie der Barbesucher drangen in seine Ohren.
Eine Frau versuchte dem Mann mit der Schere im Hals wieder Leben einzuhauchen, doch das war so sinnlos, als würde man von einem Sack Kartoffeln verlangen, das Alphabet aufzusagen. Rückwärts am Besten.
Irgendjemand prallte gegen Bills Rücken, riss seine Arme auf den Rücken und drückte ihn wieder zu Boden. Bill spürte, wie sich ein Knie in sein Rückgrat bohrte.
Dann verlor er das Bewusstsein, und dieses Mal, war alles, was ihn dort erwartete, wundervolle einladende Schwärze.
Bill lag in der Finsternis der Nacht, obwohl es hier nie vollkommen dunkel war, auf seinem neuen Bett. Über ihm schnarchte sein „Mitbewohner“. Ein widerlicher Kerl, der täglich einen routinierten Masturbations-Marathon vollführte.
Nachdem man ihn festgenommen hatte, hatte Bill herausgefunden, dass Morris insgesamt vier Menschen getötet hatte, während er Bills Körper missbrauchte. Seine Frau (Tränen stiegen in seine Augen und seine Kehle wurde trocken), einen Achtzehnjährigen Jungen (er wurde hinter einer Schießbude auf dem Rummelplatz gefunden, Kehle durchtrennt, sein Blut befand sich ebenfalls an der Heckenschere und Bills Kleidung), den Barkeeper und einen Alkoholiker, der eine hässliche Frau und zwei noch hässlichere Kinder hinterlassen hatte. All diese Morde wurden Bill in die Schuhe geschoben. Verständlicherweise.
Bill Hansclow drehte sich zur Seite, die unbequeme Pritsche quietschte während sich die Federn in seinen Körper bohrten, und fixierte die einzelne Glühbirne, die vor seiner Zelle hin und her schwenkte.
Es würde eine lange Nacht werden, er fand nicht viel Schlaf dieser Zeit.
Noch immer schmerzte Morris’ Rücken, sein Kopf, seine Hände, sein Nacken, sein ganzer Körper glühte in der einsamen Kälte des Gefängnisses.
Nachdem Bill verschwunden war, hatte ihn der Wärter wieder in den Kerker geworfen. Morris hatte sich nicht gewehrt, hatte er doch jetzt seine Rache gelebt.
Als sich die Gitterstäbe wieder schlossen, saß er, wie früher, auf seinem kargen Bett. Die Wände näherten sich ihm bei jedem Lidschlag. Das Tropfen des Wassers hallte in dem kahlen Raum.
Der Wärter saß vor dem Fernseher, der nun schon seit Stunden einen Gerichtsprozess zeigte. Einen Prozess, der eigentlich Morris gewidmet war.
Morris hatte sich nie wohler gefühlt.
Er lachte laut und durchdringend.
Die Welt der Menschen war zu überfüllt von Gefühlen, Gerüchen und anderen Dingen, die Morris nicht behagten. Sie war gefährlich für seine Seele. Für eine jede Seele.
„Halt die Klappe, ich will das sehen!“ schrie der Wärter ohne dabei den Blick von dem Bildschirm zu wenden. „Ich will diesen Müll sehen!“
Morris hörte auf zu lachen, das Grinsen konnte sich jedoch nicht von seinem Gesicht stehlen.
Er liebte sein karges einsames Zimmer, auch wenn ihm an allem anderen fehlte, war das Alleinsein das einzige, das er besaß. Und Morris besaß es gern.
Er streckte sich auf der Pritsche aus und war zufrieden.
Wahrscheinlich würde er nie mehr die Gelegenheit haben, dieses Gefängnis zu verlassen. Womöglich würde er hier, einsam und allein, sterben.
Und vielleicht war genau das, was er sich wünschte.
Einen letzten Gedankengang jedoch, den ich Ihnen nicht verwehren möchte, bevor ich Sie verlasse.
Wie geht es Ihrem Gewissen?
Besuchen Sie es hin und wieder in dem einsamen Kerker?
Bringen Sie ihm an Feiertagen eine Torte oder ein Fotoalbum der Familie?
Stecken Sie dem Wärter manchmal einen Zehner zu, für eine Extra-Portion Suppe?
Schicken Sie ihrem Gewissen Briefe oder führen Sie freundschaftliche Telefonate? Nein?
Nun, wissen Sie was? Mein Gewissen ist rein.
© Tamira Samir