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Die Begonienelegie
An jenem Tag, es war in Hinblick auf die Wetterlage der bisher schönste Freitag der Woche, fiel von der Weltbevölkerung weitgehend unbemerkt eine beachtliche Menge an Meistern vom Himmel. Einer landete irgendwo im australischen Hinterland, ein anderer auf einer einsamen Insel weit draußen im Meer und wieder ein anderer exakt im Zentrum von Herrn Meiers liebevoll umhegtem Drei-mal-sechs-Meter-Blumenbeet, das ein weit weniger liebevoll umhegter Garten umgab. Allein diese Präzisionslandung wies den Meister bereits unzweifelhaft als einen solchen aus, schließlich gelingt den allerwenigsten aus der Nichtexistenz ganz plötzlich in den freien Fall übergehenden Individuen ein solch punktgenauer Beginn ihres erdgebundenen Daseins.
Trotz der beeindruckenden Leistung, deren Zeuge er soeben geworden war, zeigte sich Herr Meier jedoch in keiner Weise begeistert.
„Sie sitzen auf meinen Begonien“, bemerkte er trocken.
„Das tut mir sehr leid“, entgegnete der Meister, machte aber keine Anstalten, sich zu erheben.
„Welche sinistren Absichten verfolgen Sie damit?“
„Überhaupt keine. Es ist nur ein Zufall.“
Herr Meier schüttelte den Kopf. „Ich glaube nicht an Zufälle. Wer sind Sie überhaupt?“
„Ich bin ein Meister“, sagte der Meister.
„Ach! Und worin?“
„Im Dichten“
„So ein Quatsch!“, schimpfte Herr Meier. „Meister im Dichten fallen nicht einfach so mir nichts, dir nichts vom Himmel und landen im Blumenbeet anständiger Leute. Sie stehen jetzt auf, richten ein angemessenes Wort der Entschuldigung an meine Begonien, und dann verlassen Sie umgehend das Grundstück.“
„Soll ich es Ihnen beweisen?“, fragte der Meister unbeirrt, indes er aber zumindest dem ersten Drittel der Aufforderung nachkam und sich erhob, um mit ästhetisch-würdevoller Handbewegung unschöne Erdrückstände von seinem Hosenboden zu entfernen.
„Was beweisen?“, fragte Herr Meier.
„Dass ich ein Meisterdichter bin. Ein Genie.“
„Sie beweisen hier gar nichts!“
„Ich könnte den Beweis in eleganter Weise mit meiner noch ausstehenden Entschuldigung verknüpfen und ein Vergebungsgesuch in Versform zu Gehör bringen “, schlug der Meister vor, bückte sich zu den zerdrückten Begonien herab und begutachtete sie einen Augenblick. „Allein, hier schickte sich wohl eher eine Elegie“, stellte er trübselig fest. „Sie hätten nicht zufällig eine melancholisch gestimmte Leier zur Hand?“
„Im Schuppen vielleicht“, sagte Herr Meier. „Was da alles an unnützem Zeug rumliegt, überrascht mich selbst immer wieder. Aber wo Sie doch ein Genie sind, wieso brauchen Sie solchen Kram? Ich dachte immer, das Genie schafft aus sich selbst heraus.“
„In der Tat, so ist es“, stimmte ihm der Meister zu. „Ich schaffe als Dichter die Seele des Kunstwerks. Seinen Körper hingegen zu formen gebricht mir.“
„Natürlich“, sagte Herr Meier. „Das wäre ja Arbeit.“
„Hätt ich die Worte, die Leier, das lauschende Ohr nicht, so gewönne mein Lied nie Gestalt in der Welt. Es lebte in mir und es stürbe mit mir.“
Herr Meier lachte. „Und so was schimpft sich heutzutage Meister? Aber ich will mal nicht so sein, ich geh Ihnen Ihre Leier suchen. Es ist ja für meine Begonien.“
Mit diesen versöhnlichen Worten kramte er einen Schlüsselbund hervor und begab sich zum nahen Gartenschuppen, den Meister dicht auf den Fersen. Als sie dort angekommen waren, kämpfte Herr Meier zunächst eine Weile mit dem verrosteten Schloss, bevor es ihm schließlich gelang, die Tür zu einem schläfrig wirkenden Raum aufzustoßen, der aussah wie ein nach geheimen Ordnungsprinzipien verwaltetes Archiv der unnützen Kleinodien, ein repräsentativer Querschnitt durch alle Flohmärkte, Dachböden und Antiquitätengeschäfte der Welt. Entlang der Wände stapelten sich Pappkartons mit bedeutungsvollen Aufschriften wie „Noch nicht geschriebene Bücher“, „Wunschtraum-Memorabilia“ oder „Was zum einen Ohr rein und zum anderen wieder raus ging“ bis unter die Decke. Daneben und dazwischen und auch sonst überall sah man verstreute Archivgegenstände herumliegen, die sich offenbar keinem solchen Überbegriff zuordnen ließen. Es befanden sich unter diesen Unikaten beispielsweise ein Tischbein, in das jemand ein Liebesgedicht geschnitzt hatte, ein verbeultes Aluminiumschild mit der Aufschrift „Warnung vor dem Munde“, eine alte Offiziersjacke mit einem Tintenfleck auf Höhe des Herzens, ein Spiegel, in dem man sich richtig herum sah – und, von einem hereinfallenden Strahl Nachmittagslicht poetisch illuminiert, eine Leier.
„Ach, da ist sie ja“, sagte Herr Meier, nahm das Instrument in die Hand und reichte es ihm. „Ihr Glück, Herr Meister. Ich hätte jetzt sicher nicht erst die ganzen Kartons danach durchwühlt.“
„Es soll nicht zu Ihrem Nachteil sein“, versprach der Dichter seinem Wohltäter und strich voll Ehrfurcht über die Saiten. Sie gingen zurück zum Blumenbeet und blieben in respektvoller Distanz zu den abgerufenen Begonien davor stehen. Der Meister räusperte sich.
„Nun wohl“, hub er an. Aber es ging nicht weiter.
„Na?“, sagte Herr Meier. „Ist Ihre Muse erkältet?“
„Manchmal dauert es eben ein wenig“, verteidigte sich der Meister. „Der Nachteil dabei, ein Genie zu sein, ist leider, dass man sich nicht aussuchen kann, um wie viel Uhr man eins ist.“
„Tja.“ Herr Meier klopfte ihm mit wohlwollender Herablassung auf die Schulter. „ Hätten Sie mal lieber anständig was gelernt, anstatt einfach so vom Himmel zu fallen.“
„Das Dichten kann man nicht lernen.“
„Wenn man lernen kann, Begonien heranzuziehen, dann kann man alles lernen. Was reimt sich auf ‚Begonien‘?“
„Gar nichts.“
„Und auf ‚Begonienbeet‘?“
„‚Spät‘. Wenn man’s geschickt anstellt.“
„Was braucht ein gutes Gedicht?“
„Wahrheit und Worte.“
„Und welcher Rhythmus passt am besten dazu?“
„Der Schlag Ihres Herzens.“
„Sehen Sie? Schon habe ich gelernt, wie man ein Gedicht macht.“
„Ach ja?“ Der Meister sah ihn beleidigt an. „Dann machen Sie mal eins.“
Herr Meier überlegte eine Weile. Dann kramte er in seinen Taschen, förderte ein zerknittertes Stück Papier und einen stumpfen Bleistift zutage und begann, hastig zu schreiben. Als er fertig war, reichte er den Zettel dem Meister. Der begutachtete ihn stirnrunzelnd und las:
„‚Für Abschiedsworte ist’s zu spät,
mein liebliches Begonienbeet!
So fahr denn hin ganz unbesungen:
Es hätte eh nicht gut geklungen.‘“
Er schüttelte den Kopf. „Das ist keine Elegie.“
„Mag sein. Aber es ist immerhin näher dran als das, was Sie gedichtet haben.“
„Was ich gedichtet habe?“ Des Meisters Antlitz ließ sich zu einem Ausdruck überheblicher Verwirrung herab. „Ich hatte doch noch gar nicht die Ehre?“
„Eben“, sagte Herr Meier triumphierend und nahm ihm die Leier wieder aus der Hand. „Eben.“
Der Meister ließ es geschehen.