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Die Beichte
Reifen quietschten, dann verstummten die Sirenen.
Fritz zwängte seinen Körper in den Beichtstuhl, setzte sich ächzend und legte die Pistole auf seinen Schoß.
„Was ... was soll das alles?“ Die Stimme des Mannes nebenan bebte.
Fritz wischte sich mit einem Taschentuch Schweiß von der Stirn, ließ es neben seine Füße fallen und drehte schwerfällig den Kopf zur Seite. Sein Nebenmann war durch das engmaschige Gitter kaum zu erkennen, war nur ein flirrender Schemen, Schnaufen und hölzernes Knarren.
„Wonach sieht’s denn aus“, fragte Fritz und hustete.
Die Luft im Beichtstuhl war muffig und abgestanden, schien direkt aus dem wurmstichigen Holz zu quellen, das sich im Laufe der Jahrhunderte mit Sünden vollgesogen hatte, ausgespuckt von zitternden Büßern, hoffend auf Vergebung.
Fritz schob den schweren Samtvorhang beiseite, streckte den Kopf hinaus in die kühle Kirchenluft. Er hoffte nicht auf Vergebung, nur darauf, irgendwie hier raus zu kommen, der Verhaftung zu entgehen.
Draußen knallten Autotüren, Stimmen riefen durcheinander.
Fritz ließ seinen Blick durch die leere Kirche schweifen. Schweigende Bankreihen, vom Altar bis zur schweren Flügeltür. Bunte Glasfenster leuchteten im Licht der frühen Abendstunden, trübe Farblachen umspülten schmucklose Säulen, die die hohe Decke stützten. Links über ihm, an der Wand des schmalen Seitenschiffs, hing ein romanisches Kreuz – Christus im Königsgewand, das dornengekrönte Haupt leicht erhoben, das hohlwangige, rissige Gesicht erstarrt zu einem hölzernen Ausdruck stillen Triumphs.
„Bitte … bitte lassen Sie mich gehen.”
„Tut mir Leid, das kann ich nicht“, sagte Fritz und ließ den Vorhang zurückfallen.
„Wieso? Was ... was soll ...“
„Ich brauche Sie. Wegen der Polizei.“
„Die Po... Po...“, setzte der Mann stotternd an, schnaufte, räusperte sich, atmete tief durch und fuhr fort: „Polizei? Aber ... aber das ist doch alles sinnlos. Damit kommen Sie nicht durch.“
„Möglich.“ Vielleicht hatte der Mann Recht, vielleicht war es sinnlos, aber was hatte er zu verlieren?
„Warum fliehen Sie nicht einfach. Ich meine, bevor die ... Polizei kommt.“
„Zu spät.“
Sie waren hier, vor der Tür, hatten ihn bis zur Kirche verfolgt. Anwohner mussten den Streit gehört und vor dem ersten Schuss die Polizei gerufen haben, denn als Fritz die Treppe des alten Wohnhauses heruntergestürmt war, hatten in der Ferne bereits die Sirenen geheult. Er war geflohen, die Polizei irgendwo hinter ihm, war durch die Straßen gerannt, hatte sich an Menschen vorbei und durch den Verkehr geschlängelt, während der scharfe Klang der Sirenen durch den Lärm der Stadt geglitten war, hatte die Kirche erreicht, war gegen die Tür gestolpert und in das Gebäude gestürmt.
Jetzt hockte er hier, versteckte sich im Beichtstuhl wie ein Kind im Wandschrank.
„Noch sind sie nicht hier drin, meine ich. Ich verrate Sie nicht. Ehrlich. Ich ... ich verspreche es ...“
„Wo soll ich denn jetzt noch hin?“
„Aber ...“
„Nein, verdammt“, zischte Fritz und schlug mit der Faust gegen das Gitter. Der Schemen dahinter zuckte und stieß einen leisen Schrei aus.
„Keine Sorge, ich tu’ dir nichts.“ Fritz hob beschwichtigend die Hände, obwohl er wusste, dass der Mann es nicht sehen konnte. „Wenn du ruhig bleibst, bleib ich auch ruhig. In Ordnung?“
Fritz beugte sich nach vorne, schob seinen Kopf aus dem Beichtstuhl und lauschte. Aufgeregtes Stimmengewirr vor der Tür. Vermutlich standen die Kirchgänger, die Fritz mit gezogener Pistole hinaus gescheucht hatte, bleichgesichtig vor den Polizisten, stammelten gestikulierend etwas von einem Irren mit Waffe und einer verängstigten Geisel.
Elende Schwätzer.
Fritz lehnte sich zurück und klopfte mit den Fingerknöcheln gegen das Gitter.
„Wie heißt du“, fragte er.
„K... Klaus.“
„Weißt du, warum sie hinter mir her sind?“
„Nein. Woher ...“
„Mord“, sagte Fritz leise, hatte jedoch das Gefühl, geschrieen zu haben. „Mord“, wiederholte er fast flüsternd, dann schwieg er, während das Wort in der bleiernen Stille hing.
Es auszusprechen, zu benennen, ließ ihn erst begreifen, was er getan hatte. Die Wut, das Geschrei, die Schüsse, die Angst, das Blut, die Panik, das alles ordnete sich in seiner Erinnerung, floss zusammen und erstarrte zu einem Begriff – Mord.
„Ich ... ich habe ihn einfach erschossen. Einfach ...“
Abgeknallt. Ein Schuss in den Bauch, Gebrüll, ein Schuss in den Teppich, Gewimmer, ein letzter, mit geschlossen Augen, irgendwohin, abrupte Stille, dann war er geflohen.
„Ich hatte keine ... Wahl. Er hat mich erpresst. Verdammt, was sollte ich denn tun?“
„Warum erzählen Sie mir das ... das alles?“ Klaus’ Stimme zitterte schwach durch das Gitter, blieb fast an den Maschen hängen.
„Das hier ist doch ein Beichtstuhl, oder etwa nicht?“ Fritz zuckte mit den Schultern.
Draußen fiepte ein Megaphon. „Eins, zwei. Eins, zwei“, rauschte und quietschte es blechern. Nach einer kurzen Pause wieder: „Eins, zwei. Eins, zwei“. Diesmal deutlicher.
„Kommen Sie mit erhobenen Händen raus“, forderte die verstärkte Stimme.
„Wie im Film, oder?“ Fritz versuchte, zu lachen, doch es klang mehr wie ein Husten, ging in Würgen über. Er beugte sich leicht zur Seite, spuckte Magensäure auf den Holzboden, atmete tief ein und versuchte, die Übelkeit zu unterdrücken.
„Er wollte Geld, verdammt. Mehr, als ich bezahlen konnte.“ Fritz wischte sich mit dem Handrücken über seinen Mund. „Was hätte ich denn tun sollen? Ich wollte ihm doch nur ... drohen, ihm das Video abnehmen, aber ...“
„Kommen sie ra...“ Die Stimme wurde von einem kurzen Fiepen übertönt. „Scheiß...“, fluchte jemand, dann bemerkte er anscheinend, dass das Megaphon noch eingeschaltet war.
„Ich stand kurz vor einer Beförderung, war auf das höhere Gehalt angewiesen. Die Gläubiger saßen mir im Nacken. Verdammt, ich konnte doch noch nicht mal meine Schulden zurück zahlen.“
Fritz lehnte den Kopf gegen die Rückwand, spürte Holzschnitzereien, die in seine Haut drückten.
Sirenen flüsterten in der Ferne, wurden rasch lauter.
„Hörst du mir überhaupt zu?“
„Was?“ Klaus räusperte sich. „Ja ... ja, natürlich“, fügte er hastig hinzu.
„Er war mein ... Mitarbeiter, verdammt. Und außerdem wollte er es doch auch.“
Die Sirenen erreichten die Kirche und erstarben.
Natürlich hatte er es auch gewollt. Er war es doch gewesen, der angefangen hatte. Seine Blicke, seine Andeutungen, die Worte, die er während der Arbeit in sein Ohr geflüstert hatte.
Er war es doch gewesen, der ihn am Ärmel ins Hinterzimmer gezogen hatte und, später, sich hatte ziehen lassen. Und dann hatte er eines Tages mit der Videokassette gewedelt.
„Wir schicken jemanden herein. Er will sich nur mit Ihnen unterhalten.“
Fritz schob den Vorhang vorsichtig beiseite und lugte hinaus.
Die Klinke wurde herunter gedrückt, die Tür quietschte, dann spülte ein schmaler Streifen Tageslicht einen Schatten auf die Steinfliesen.
„Ich bin unbewaffnet“, rief eine Stimme durch den Türspalt.
Der dazugehörige Kopf schob sich langsam herein und zog wenig später den ganzen Körper hinter sich her, die Schulter voran. Der Polizist schloss die Tür hinter seinem Rücken und hob die Hände.
„Ich will nur reden“, sagte er und stakste durch den Mittelgang, setzte langsam einen Fuß vor den anderen, so, als würde er durch dickflüssiges Gelee waten.
„Stehen bleiben“, rief Fritz.
Der Mann erstarrte.
„Hinsetzen.“
„In Ordnung“. Der Polizist nickte, ließ sich langsam auf eine der Bänke sinken und legte seine Hände auf die hölzerne Rückenlehne vor ihm.
„Mach jetzt keine Dummheiten, Klaus. Tu’ nur, was ich dir sage, klar“, flüsterte Fritz.
„Hören Sie.“ Der Polizist machte eine kurze Pause und sprach dann ruhig weiter: „Seien Sie doch vernünftig. Lassen Sie die Geisel gehen. Bitte, machen Sie nicht alles schlimmer, als es ohnehin schon ist.“
„Sie ... Sie sollten auf ihn hören“, stammelte Klaus. „Ich werde Ihnen vergeben, wenn Sie mich freilassen. Ich werde für Sie beten und ... und sie sollten das Gleiche tun.“
„Ich bete nicht mehr.“
„Aber ...“
„Gebete sind Selbstgespräche mit gefalteten Händen.“
„Haben ... haben Sie keine Angst vor der ...“ Er stockte. Fritz sah, wie sich sein Kopf näher an das Gitter schob. „Hölle“, fuhr er flüsternd fort.
„Glaubst du etwa daran?“
„Natürlich. Sie ... Sie etwa nicht?“
„Es gibt nur eine Hölle. Und die ist hier.“ Er tippte sich gegen die Schläfe. „Im Kopf. Die Hölle, von der du redest, gibt es genauso wenig, wie es Gott gibt.“
Ein scharfer Atemlaut zischte von nebenan herüber, dann folgte Klaus’ vor zerbrechlicher Empörung bebende Stimme: „Der Herr möge Ihnen vergeben.“
„Ich muss mir selber vergeben.“ Fritz trommelte mit dem Pistolenlauf auf seinem Knie. „Und das wird schwer genug.“
„Warum stellen Sie sich nicht einfach und ...“
„Damit die mich festnehmen und für den Rest meines Lebens in den Knast stecken? Was würde das ändern?“
„Na ja, Sie ...“
„Das hat doch keinen Zweck. Das Gebäude ist umstellt. Lassen Sie die Geisel gehen“, sagte der Polizist im bemühten Plauderton. Es klang, als würde er von einem Textblatt ablesen.
„In Ordnung.“ Er konnte es nicht mehr länger herauszögern. „Ich gebe auf.“
Fritz senkte den Kopf, atmete tief ein, dann presste er den Pistolenlauf gegen das Gitter und legte seinen Finger auf den Abzug.
„Raus hier“, befahl er.
Der Beichtstuhl ächzte und knackte, als Klaus aufstand und verstummte dann zögernd.
„Na los.“
Fritz blickte durch einen schmalen Spalt zwischen Vorhang und Holzverkleidung hinaus, beobachtete, wie Klaus aus dem Beichtstuhl schlurfte, fast über den Saum des Talars stolperte, der auf dem Boden schleifte. Unsicher ging er auf den Polizisten zu, griff seitlich an seinen Hals, fingerte am Kragen herum. Als Klaus die vorderste Bankreihe fast erreicht hatte, sprang der Polizist auf.
„Zugriff“, brüllte er.
Die Tür wurde aufgestoßen, Polizisten stürmten herein, rannten durch den Mittelgang, die Pistolen neben ihren Köpfen. Zwei Männer verschanzten sich hinter Kirchenbänken und ihren Waffen, der Rest lief weiter.
Fritz lehnte sich zurück und schloss die Augen. Sein Herz füllte hämmernd die Dunkelheit. Er leckte den salzigen Geschmack von seiner Unterlippe und senkte die Waffe.
Hastige Schritte hallten durch die Kirche, kamen näher.
„Hände hinter den Kopf“, rief jemand.
„Aber ...“, sagte Klaus, dann schrie er.
Fritz ließ die Pistole fallen, schob den Vorhang beiseite und stieg aus dem Beichtstuhl.
„Sind Sie verletzt?“ Ein Polizist eilte auf ihn zu. Sein rotes Gesicht quoll unter der Mütze hervor, zerfloss schwitzend.
„Nein .... nein, alles in Ordnung.“
„Kommen Sie.“
Fritz folgte dem sanften Zug an seinem Ärmel, passierte Klaus, der stammelnd auf dem Boden kniete, die Arme hinter dem Rücken, ein Polizist handschellenklimpernd neben ihm, wurde durch den Mittelgang zur Tür geführt.
„Warten Sie bitte kurz draußen, ja? Man wird sich gleich um Sie kümmern.“ Der Polizist klopfte ihm auf die Schulter, fuhr herum und eilte zurück zu seinen Kollegen.
Fritz legte seine Hand auf die Klinke. Rötliches Abendlicht wehte ihm kühl entgegen, als er langsam die Holztür aufdrückte und auf die Straße blickte.
Vier Polizeiwagen, ein Beamter mit ausgebreiteten Armen vor einer Gruppe Gaffer, ein anderer auf dem Beifahrersitz seines Fahrzeugs, die Beine herausgestreckt, ein Funkgerät in der Hand.
Fritz quetschte sich durch den Türspalt auf den Gehweg, schlenderte an der Kirche vorbei, bog in eine Nebenstraße ein, dann lief er, ignorierte das Reißen der Jeans, die schmerzenden Füße in zu engen Schuhen, rannte, während er das platzende Hemd vor seiner Brust zusammenhielt.
Als die Sirenen wieder zu Heulen begannen, hörte er sie kaum noch.