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Die Beschönigung der Passivität
Tief in seinen Sessel versunken, den Klängen Radioheads lauschend in völliger Entspannung, sich der Vollkommenheit für einen Moment nahe wähnend, genoß er eben noch den schönen Tag, auf dessen Existenz er wegen der heruntergelassenen Rolladen keine Wetten hätte abschließen wollen. Während er sich mechanisch eine Marlboro ansteckte, sah er sich das Foto von Janine an, das er mit dem Feuerzeug beleuchtete. Sein Herz und seine Lunge brannten. Ein Gefühl von auswegloser Einsamkeit überkam ihn. Das mit Janine war vorbei und es war nicht die erste Liebe, die ihn verließ. Er ließ sein bisheriges Leben - bis zum Alter von 23 Jahren - im Schnelldurchlauf Revue passieren und verstand es sich dabei hauptsächlich die negativen Erlebnisse in bemerkenswerter Detailtreue vor Augen zu führen. Wenn das bisher Geschehene eine Tendenz für alles zukünftige sein sollte, -dachte er- dann bestand kein Grund in grenzenlosen Optimismus zu verfallen. Es war Zeit über die Zukunft nachzudenken. Im Gefühl ironischer Bitterkeit stellte er halb amüsiert, halb verzweifet die vorhergegangene These in Frage und verwarf dieses Unternehmen sogleich wieder, als er an M&P dachte. Manchmal empfand er Mitleid, seltener eine gesunde Portion Hass. Er wußte, dass er das Potenzial an Liebe und Dankbarkeit, das vielleicht möglich war, nicht immer ausgeschöpft hatte. Eine Entschuldigung für dieses Versäumnis hatte er selbstverständlich parat, obwohl er diese Eigenschaft an Menschen eigentlich auf den Tod nicht ausstehen konnte. Häufig war sein Vater früher betrunken nach hause gekommen, stritt sich dann mit seiner Mutter, die das Abendessen in gegenseitigem Einverständnis für halb 8 bereitet hatte und in der Zwischenzeit dann den Kummer mit Rotwein hinunterzuspülen suchte.
Wie fremd er sich doch an diesen Abenden am Eßtisch vorkam. Das pikierte Schweigen, das besonders durch ihn und seine Schwester forciert wurde, unterbrach der Vater manchmal, indem er unsinnige Fragen, Weisheiten oder Vorwürfe in den Raum warf. Wenn er an die Rolle seiner Mutter in diesem Trauerspiel dachte, wurde er todtraurig. Manchmal glaubte er sich zu wünschen, dass der Vater die Mutter geschlagen hätte, so daß er ihn wenigstens hätte hassen können. Doch während er sich seines Anblicks an diesen sich konstant wiederholenden Sonntagen erinnerte, konnte er nur Mitleid, tiefe Trauer und ein nicht unerheblich starkes Gefühl von Abscheu empfinden. Die Freitage an denen seine Eltern dem Alkohol zum Zwecke des Alkoholkonsums frönten waren nicht weniger exzessiv, doch kamen sie dann wenigstens gemeinsam nach hause und legten sich sobald schlafen.
Er erinnerte sich genau daran, wie sein Vater dann am darauffolgenden Tag im Bademantel am Frühstückstisch saß, den dezenten Geruch süßen Alkohols und manifestierter Fäulnis der Wohnungsluft beimischte und Fragen stellte, deren Antwort er am Abend schon wieder vergessen haben sollte.
Am Montag gingen beide wieder mit ruhigem Gewissen der Aufgabe nach, den Schülern Vorbild zu sein und -lediglich bei den eigenen Kindern längst lächerlich gewordene- Autorität an den Tag zu legen.
Nein, so hatte er niemals werden wollen. Die zahlreichen Sonntage an denen er sich ungemein langweilte, draußen graues, trübes Endzeitwetter herrschte und dies zwangsläufig dazu führte, dass er depressiven Gedankengängen nachging, in denen er immer Gefahr lief den Faden zu verlieren.
An diesen Nachmittagen hörte er nachdenkliche Musik, die ihn selten fröhlicher stimmte und mußte an seine Mutter denken, die eine Etage tiefer in der Küche beschäftigt war und ein Glas nach dem anderen trank, immer die Hoffnung im Hinterkopf, dass ihr Ehemann pünktlich nach Hause kommt. Mit einem Anflug von Verwunderung stellte er immer wieder fest, dass die Abende an denen sein Vater völlig betrunken nach Hause kam, seltener geworden sein mußten oder war das nur die natürliche einem jeden Menschen gegebene Eigenschaft zur Verklärung der Vergangenheit. Was er wußte, war, dass seine Mutter sonntags abends immernoch betrunken war und Konversation mit ihr in diesem Stadium nicht nachhaltig zur Belustigung beitrug. Sein Vater mußte Auslöser dieser Abhängigkeit gewesen sein. Wie sehr er sich manchmal im stillen kämmerlein wünschte, dass seine Mutter einen Mann kennengelernt hätte, mit dem sie noch immer glücklich gewesen wäre. Wie sehr es ihn berührt an ihre traurigen, glasigen Augen zu denken, die alles das aussprechen, was Mund verschweigt, doch Seele nicht verneinen kann.
Mit Janine hatte er mal über all das geredet, sie war die einzige mit der er sich darüber austauschen konnte. Sie hatte ihn zweifelsohne schwer enttäuscht, doch als Seelentrösterin wirkte sie häufig Wunder, so daß er sich immer in freundlicher Gesinnung an sie erinnerte.
Nein - er wollte alles anders machen als seine Eltern, er hörte auch den unvermeidlichen Vergleich mit dem Vater immer mit Unbehagen. Er hatte keine Ehe gewollt, die nach 5 Jahren ausgedient hat, er hatte nie Kinder gewollt, sondern sich selbst immer gerne als Junggeselle vorgestellt, der gelegentlich eine leidenschaftliche Affaire mit einer interessanten Frau hat.
Zu diesem Zeitpunkt konnte er noch nicht wissen, dass er einige Wochen später starke Gefühle, einer bisher nur befreundeten Frau gegenüber entwickeln würde, mit der er sich dieses Leben in einer kinderreichen und auf Dauer glücklichen Beziehung und Ehe vorstellen kann. Doch das waren Zukunftswünsche von denen er nocht nichts wußte. Für den Moment, hatte es Priorität mit seiner Mutter zu reden. Endlich mal Klartext, ohne ausweichende Antworten und den mit Ironie geschwängerten Versuch die Situation schön zu reden. Nein, das Verdrängen war die größte Gefahr, denn seine schlimmste Vorstellung war es zweifelsohne, dass seine Mutter stirbt und er sich nie zu diesem Gespräch hätte durchriingen können. Das konnte ihn immer wieder zu Tränen rühren.
Simon stand nun mit einem von Vitalität gekennzeichneten Schwung auf, riß die Rolladen hoch, streckte sich und sein bestimmter Blick war dem wunderschönen, blauen Himmel, der Sonne und der Zukunft zugewandt, während Eddie Vedder dröhnend "Im still alive" durch die Stereoanlage deklarierte.