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Die Bestie von Sira
Es dämmerte bereits, als Karan sich anschickte, das Wirtshaus zu verlassen. Er nahm einige Goldmünzen aus seinem Lederbeutel und legte sie auf die hölzerne Theke.
„Ich danke Euch für alles“, sagte er.
„Ich bitte Euch“, meinte der Wirt, ein emsiger Mann von etwa dreißig Jahren, „wollt Ihr hier nicht übernachten?“
„Nun“, antwortete Karan lächelnd, „es liegt keinesfalls an Euch, dass ich fort will. Euer Mahl war ausgezeichnet. Aber ich sehne mich danach, unter dem freien Sternenhimmel zu schlafen.“
Karan war achtzehn Jahre alt und hatte voller Vorfreude seine erste Reise angetreten. Sie war die Belohnung für den Abschluss seiner Ausbildung. Wenn er von seinem Abenteuer zurückgekehrt war, würde er in die Dienste seines Vaters, eines reichen Kaufmannes, treten.
„Das wollt Ihr tatsächlich?“
Der Wirt stellte die Schale, die er gerade poliert hatte, ab und stemmte seine Arme in die Hüften.
„Habt Ihr denn nichts von der Bestie gehört?“
„Ich kenne die Geschichte“, erwiderte der Junge unbekümmert.
„Es heißt, dass hier in Sira Menschen verschwunden sind. Aber hat man jemals eine Bestie gesehen?“
„Ihr seid jung und fürchtet Euch nicht. Das mag Euer Vorteil sein. Aber denkt an meine Warnung!“
Mit diesen Worten ergriff der Wirt die Münzen und wandte sich brüsk ab.
Als die Dunkelheit hereinbrach, war Karan noch immer unterwegs. Er liebte die Nacht und den Mond, der heute als schmale Sichel am Himmel stand. Rechts und links der gewundenen Landstraße dehnten sich dichte Wälder aus. Die Wipfel unzähliger Bäume rauschten im Nachtwind. Während er stetig vorwärts schritt, dachte Karan über die Warnung des Wirtes nach. Er fühlte keinerlei Angst. Sicher, die Sage lautete, dass hier eine Bestie ihr Unwesen trieb. Doch dies war für ihn nur eine jener alten Geschichten, die Kinder einander verstohlen zuflüstern und dabei eine angenehme Gänsehaut verspüren. Der Wirt hatte ihn offenbar mit allen Mitteln in seinem Hause festhalten wollen. Nein, Karan glaubte nur das, was er mit eigenen Augen gesehen hatte.
Der Wind blies schärfer und schärfer, und das Rauschen der Blätter nahm zu. Bald schoben sich dunkle Wolken vor die Mondsichel, und die ersten Tropfen fielen herab. Karan war gezwungen, die Straße zu verlassen und in den Wäldern Schutz zu suchen. Langsam wünschte er doch, er hätte auf den Wirt gehört - und sei es nur, um ein Dach über dem Kopf zu haben. Hastig stolperte er zwischen den Baumstämmen umher. Der Regen prasselte immer heftiger auf ihn herab, bis auch der Wald keine Zuflucht mehr bot. Karan fühlte, wie seine Kleidung kalt und durchnässt am Körper klebte. Es schien ihm, als währe das Unwetter schier endlos. Die Müdigkeit ergriff von ihm Besitz, und er wusste nicht, wie lange er sich noch aufrecht halten konnte.
Schließlich gewahrte er etwas, das Rettung versprach. Offenbar war er bereits in den Bergen, denn ganz in seiner Nähe tat sich der Eingang einer Höhle auf. Zutiefst erleichtert trat er in den Hohlraum und ließ sich zu Boden sinken. Es war so dunkel, dass er kaum die Felsen erkannte, die den Zutritt markierten. Karan bedauerte, dass er keine Mittel besaß, um Feuer zu machen - die Kälte hielt ihn in ihren Klauen. Doch war er so erschöpft, dass er, zusammengerollt auf dem steinigen Boden, rasch einschlief.
Karan erwachte, als etwa seine Wange berührte. Er schreckte hoch und blickte verwirrt umher. Die Dämmerung war bereits angebrochen, doch er wusste nicht, was ihn geweckt hatte. Mit einem Mal stieß etwas Spitzes in seinen Rücken. Entsetzt schrie er auf und warf sich auf die Seite. Die Schmerzen, die sich in seinem Körper ausbreiteten, waren unerträglich. Karan sah noch, wie erste Sonnenstrahlen in die Höhle fielen und etwas an ihm vorbei huschte, dann schwanden ihm die Sinne.
Als er wieder zu sich kam, fühlte er einen pochenden Schmerz in seinem Rücken. Er lag ausgestreckt auf einer weichen Unterlage. Vorsichtig öffnete er die Augen. War er in Sicherheit? Das verschwommene Bild klarte sich und er erkannte das Gesicht eines Mädchens, das über ihn gebeugt war.
„Du bist wach! Dank sei den Göttern!“, rief sie aus.
Karan betrachtete sie etwas genauer. Sie war schlank und trug ein einfaches Kleid aus braunem Leinen. Ihr Haar fiel honigfarben über ihre Schultern, ihre Augen waren meergrün.
„Geht es dir besser?“, fragte sie.
„Ich glaube schon“, antwortete Karan. Obwohl er nun vollends wach war, wagte er noch nicht, sich zu bewegen.
„Aber wo bin ich hier? Und was ist geschehen?“
„Ich fand dich in einer Höhle, als ich Kräuter sammelte“, erwiderte die Unbekannte.
„Du warst schwer verletzt. Aber ich habe deine Wunde versorgt.“
Tatsächlich gewahrte Karan, dass ein dicker Verband um Brust und Rücken geschlungen war. Nun erst erkannte er die Gefahr, in der er in jener Nacht geschwebt war. Ein Schauer lief seinen Körper herab und ließ ihn erzittern. Wenn das Mädchen ihn nicht gefunden hätte... Gequält stöhnte er auf.
„Hast du Schmerzen?“, fragte seine Retterin mit besorgter Miene.
„Nein, es geht schon. Wie ist dein Name?“
„Kea“, antwortete sie.
Nachdem auch er sich vorgestellt hatte, meinte er: „Wie kann ich dir nur danken?“
Das Mädchen lächelte und ließ sich an seiner Bettkante nieder.
„Indem du mir Gesellschaft leistest“, sagte sie. „Es ist so einsam hier.
Nach einer Weile ließ Kea ihn allein, um sein Essen zuzubereiten. Noch immer konnte Karan kaum glauben, was ihm in der Höhle widerfahren war. War er etwa doch der Bestie von Sira begegnet? Bei diesem Gedanken schauderte ihm. Doch schließlich gewann seine Vernunft wieder die Oberhand.
„Nein“, dachte er. „Es muss ein wildes Tier gewesen sein.“
Aber selbst, wenn es so war - warum hatte das Tier von ihm abgelassen und war geflüchtet? Er schob diesen marternden Gedanken beiseite und lächelte der eintretenden Kea zu.
Karan verbrachte den gesamten Tag mit Kea. Nach einiger Zeit hatte er sich so weit erholt, dass er aufstehen und umhergehen konnte. Kea stützte ihn, und gemeinsam verließen sie ihre Hütte und setzten sich auf eine schmale Gartenbank. Die Behausung des Mädchens lag inmitten einer Waldlichtung. In ihrem Garten blühten die buntesten Blumen, und Karan meinte, nie einen schöneren Ort gesehen zu haben. Tatsächlich erschien ihm auch Kea als das schönste Mädchen, dem er je begegnet war. Sie war nicht nur hübsch, sondern auch sinnlich und sogar etwas geheimnisvoll. Er erzählte ihr von seinen Eltern, seiner Ausbildung und seiner Reise, doch sie schwieg die meiste Zeit und hörte ihm geduldig zu.
Schließlich begann die Abenddämmerung.
„Wollen wir hier draußen bleiben?“, fragte Kea.
„Ja, gerne!“, antwortete Karan. „Ich möchte endlich die Sterne sehen!“
Kea lächelte und rückte näher an ihn heran.
„Hoffentlich dauert es nicht allzu lange, bis es dunkel wird“, flüsterte er.
Er schmiegte sich an sie und schloss träumerisch die Augen.
Als er sie wieder öffnete, hatte Kea sich verändert. Karan blieb kaum Zeit, um Angst zu fühlen. Kea warf sich über ihn und riss mit blanken Zähnen seine Brust auf. Das Letzte, was seine weit offenen Augen sahen, war der klare Sternenhimmel.