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Die Bierdosenrevolution
An einem sonnigen Herbstnachmittag begegnete ich zufällig einem Fremden. Ich ging durch den hiesigen Stadtpark und sah mir links und rechts die Bäume an und versuchte sie zu katalogisieren. Dieser zunächst noch fremde ältere Herr hatte einen modisch gewagten, eher unregelmäßigen Haarstil, sowohl als Zierde seiner Wangen als auch um die mittlere kahle Stelle seines Kopfes herum. Als hätte er sich ein paar Haare herausgerissen. Auch seine Sprache war für mich eher ungewohnt, da er wohl jene Technik benutzte, bei der nicht sonderlich viel Wert auf Beweglichkeit der Zunge gelegt wurde.
Während ich mich gerade wunderte, ob die Löcher in seinem Jogginganzug einen alternativen Lebensstil bekundeten oder nicht, versuchte ich auf seine berechtigte Frage zu antworten: „Was bist du ´n für ´n Heini? Scheiß Schnösel!“
Ich erklärte ihm, dass ich trotz der sichtlichen Unterschiede unseres Erscheinungsbildes, meins hätte man eher als konventionell, na vielleicht auch als feige bezeichnen können, mich sehr freute, jemanden kennen zu lernen, der mich um einige Erfahrungen bereichern konnte.
Scheinbar war meine Kommunikation unangebracht gewesen, denn er antwortete: „Was willst du?“.
Möglicherweise hatte ich mich aber auch nicht auf die völlig verschiedene Kommunikationsebene begeben, die die scheinbar bewusstseinsverlagernden Substanzen, die er, ich schloss es aus den leer aussehenden Bierdosen neben ihm, sich verabreicht hatte, förderten.
Dieser letzte Satz meiner Erzählung dient nur der Veranschaulichung seines Verständnisses. Der Leser wird den berechtigten Vorwurf erheben, diesen Satz hätte man doch auch viel einfacher ausdrücken können, sozusagen genau wie ich es meinem Gesprächspartner hätte erleichtern können. Ich gestehe somit vollkommen meinen Fehler ein, indem ich verdeutliche, dass ich verstanden habe, was ich falsch gemacht hatte.
Nun, also entschuldigte ich mich umgehend für meine egozentrische Vorgehensweise. Dies schien ihn auch zu befrieden und er fing nun an, mir seine Gedanken mitzuteilen, wofür ich ihm auch gleich dankbar war: „Ja, ja schon gut. Weißt du, was an unserer Gesellschaft das Schlimmste ist?“ fragte er mich, wobei ich fand, dass sein lang gezogener, lallender Sprachstil durchaus den Inhalt seiner Rede betonte.
„Bitte, ich bin sehr gespannt, es von ihnen zu hören“ erwiderte ich.
Er musterte mich schräg und sagte dann: „Ach ja, schon gut, ich verstehe, du bist sehr gespannt, hau schon ab.“
Ich verdeutlichte ihm, dass ich an seiner Reaktion ablesen konnte, dass er meine Aussage für eine ironische halten würde, ich aber nie Ironie benutzte. Ich erklärte ihm: „Wissen sie, meine Einstellung zur Kommunikation ist die: Es gibt schon so viele Missverständnisse in dieser Welt ohne Humor, Ironie, Sarkasmus et cetera. Was passiert dann erst, wenn wir all diese Mittel benutzen?“
Nach einem kleinen Augenblick des Schweigens, während sich eine eigentümliche Andeutung eines Lächelns um seine Mundwinkel breit machte, fuhr er fort.
„Du bist schon ein lustiger Vogel“ gestand er ein und ich freute mich, dass unser Gespräch nun etwas aufgelockert wurde, obwohl ich jetzt bedauerlicherweise bemerkte, dass der Mann schon viele seiner Zähne hatte einbüßen müssen.
„Also“, begann er, „das Schlimmste ist, dass die Reichen immer reicher werden und die Armen immer ärmer.
Die ganzen Politiker versprechen einem das Blaue vom Himmel, aber was tun se dann wenn se einmal oben sind? Nischt!“
Ich pflichtete ihm bei, dass die Diskrepanz zwischen Wort und Tat in unserer Gesellschaft tatsächlich ein Problem darstellen würde.
„Und was kann man da noch machen? Nur saufen, alles andere ist scheiße.“
Ich überlegte eine kurze Weile.
„Dieser Mensch hat Recht“ ging es mir wie ein leuchtender Blitz durch den Kopf. Wenn jeder Mensch sich von der Realität, wie wir sie alltäglich erleben, distanzieren würde, würden wir sie zwangsweise umstrukturieren müssen. Das System würde nach und nach verfallen und man müsste eine schmerzhafte Evaluation der Gesamtsituation vornehmen und noch mal ganz von vorne anfangen. Alles würde zusammenbrechen, wie ein Kartenhaus und unser System würde vielleicht endlich gerechter werden.
Alles, was ich dafür tun musste, war, mein bisher eigennütziges, spaßorientiertes Leben zugunsten der Neuordnung zu verändern. Ich würde auf den Genuss des Lebens verzichten, indem ich mich revolutionsorientiert in eine alkoholische Abhängigkeit begeben würde, um einen lebenden Warnhinweis zu geben.
Um mich von der Richtigkeit dieser Idee zu überzeugen fragte ich ihn: „Okay, Bruder, bist du bereit, eine passive Revolution anzuzetteln und bist du bereit für einen Leidensgenossen?“
Er schien vollkommen überrascht zu sein.
„Machst du jetzt Witze… ach nee, du machst ja nie Witze… Willkommen an Bord, Seemann!“
Nun, so lernte ich also den besten Freund meines Lebens kennen. Heute sitzen wir so gut, wie den ganzen Tag auf dieser Parkbank rum, besaufen uns und schimpfen über das Leben. Ich habe in meinen schwarzen Business-Anzug Löcher gefranzt, habe mir auch einen Bart wachsen lassen und habe nur noch einen einzigen Wunsch. Nämlich, dass die Leute, die an uns vorbeigehen, anstatt dieses reservierten beschleunigten Schritts sich uns anschließen würden.
Und ich muss sagen: Mein Leben ist viel geiler geworden.