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Die bronzene Schnalle
Meine Freundin Amélie Bannejou ist für viele Typen ein willkommener Blickfang: schlank, elegant, athletisch. Weiche Rundungen da, wo man(n) sie erwartet, ein sehr hübsches Gesicht, ein offenes, tiefes Lächeln, das den ertappten Beobachter erröten lässt. Ihre schwarzen Locken trägt sie zum Pferdeschwanz gebunden oder offen, wenn beispielsweise in einer Abendeinladung die offenen, wehenden Haare ihrem Auftreten noch eine imposante Note geben sollen. Ihre Haut ist schwarz und makellos glatt. Wenn ihr Freund Sylvio sie berührt und streichelt, beneiden ihn alle anwesenden Gaffer.
Amélie ist aber auch eine der Frauen, die ihren Lebenskampf in dieser Monsterstadt Paris austragen müssen. Immer unter Zeitdruck, eingetaucht in dieser leblos-lebendigen Menschenmasse der Innenstadt, geht sie artig ihrem Büro-Job als Buchhalterin nach.
Zu ihrem Lebensritual gehört es, einmal im Monat mit ihrer Mutter und ihrer Schwester Lisa durch die Einkaufsstrassen und Boutiquen zu bummeln und Dinge zu entdecken, die man sonst nie kennengelernt hätte. Manchmal nervt sie es, einen ganzen Nachmittag dabei zu verschwenden; Zeit, die ihr mit Sylvio oder für die Renovierungsarbeiten ihrer Wohnung fehlt, aber die Familie ist ihr schon wichtig, deshalb akzeptiert sie einmal pro Monat ihre Mutter als Einkaufs-Führerin.
Also, nahe der Metrostation Barbès, in der Rue de la Goutte d‘Or flanieren die Frauen ohne bestimmtes Ziel. Amélies Mutter, eine eher kleine Frau mittleren Alters, hat die zweite Preissenkung des Winterschlussverkaufs noch weiter nach unten verhandeln wollen, aber nicht den Preis für die Schuhe erreicht, den sie sich erhofft hatte. Amélies kleine Schwester, Lisa, hat ihr Gehalt letztes Wochenende bei einem ähnlichen Einkaufstrip investiert und versucht heute, als nicht geldpotente Teilnehmerin ihren Kaufwillen zu zügeln. Und Amélie? Das Traumkaufangebot hat sich heute für sie noch nicht eingestellt; auch nicht schlimm… So ist die Kauflust des Trios an diesem fortgeschrittenen Nachmittags deutlich unter Mittelmass angelangt.
Die Drei halten vor dem Schaufenster eines kleinen Ladens an, den sie noch nicht kennen: Die Auslage besteht aus afrikanischem Schmuck und leicht kitschigen Souvenirs aus eben diesem Kontinent.
Die Boutiquen-Führerin zögert keinen Augenblick und betritt forschen Schrittes diese unbekannte Einkaufsdomäne. Ihre Töchter folgen ihr: was bliebe ihnen auch anderes übrig? Die esoterische Musik Geoffrey Oryemas erfüllt das Ladeninnere. Durch einen Durchgang im hinteren Teil des Ladens, der durch Kordeln verhangen ist, tritt der Ladenbesitzer ihnen entgegen. Ein Franzose afrikanischer Herkunft, die Haare zu kleinen Zöpfen geflochten, die sich auf dem einfachen sauberen, weissen T-Shirt abstützen; seine verblichene Jeans hat ein Loch auf dem rechten Knie. Doch ins Auge fällt der kleine Ring in der Nase. Jetzt erinnert sich Amélie des kleinen Schilds, das sie beim Eintreten überlesen hatte: „Piercing und Zopfflechterei nach traditionsgerechten afrikanischen Methoden.“ Die grossen Augen des Ladenbesitzers mustern eine nach der anderen. Die Mutter Amélies reagiert mit einem Blick voll Missmut, denn für sie gehört die Sichtkontrolle schon zu den Verkaufsverhandlungen. Lisa, in ihrer grossen Naivität, hat natürlich den Ernst der Verhandlungssituation nicht erkannt, und vollführt einen Rundgang durch den Laden, ohne den Ladenbesitzer zu beachten. Amélie wird ebenfalls Opfer der Sichtmusterung und schlägt instinktiv die Augen nieder, ohne dabei verhindern zu können, im Geiste ihrem Blickwidersacher entgegenzuwerfen: „Typ, was willst du überhaupt?“, bevor sie, perfekte Französin, die sie ist, ihm ein freundliches „Bonjour Monsieur“ wünscht.
Der Ladenbesitzer hat natürlich mitbekommen, dass Amélies Ton zwischen Höflichkeit und Ironie schwingt.
„Einen schönen Tag, meine Schwester“, geht er darüber kommentarlos hinweg.
Lisa dreht sich brüsk zum Ladenbesitzer um und fängt an zu lachen. Der scharfe Blick ihrer Mutter lässt ihr Lachen augenblicklich ersterben.
„Entschuldigen Sie uns“, mischt sich die Mutter ein.
„Schon gut“, lächelt der Ladenbesitzer undurchsichtig.
Er fügt eine Geste der Grosszügigkeit hinzu, indem er seine Arme zur unbegrenzten Vergebung und immerwährenden Einladung seinen Kundinnen öffnet und wie ein Priester bei der Kommunion einen Moment lang dasteht. Dieser natürliche und himmelweite Unterschied zwischen Meister und unverständigen Lehrlingen bleibt den beiden Mädchen verborgen, die Mühe haben, ihr Lachen zu unterdrücken.
„Was sucht ihr, meine Schwestern?“ sucht der Meister, das Anliegen seiner Schäfchen zu verstehen.
Amélie errät die unausgesprochenen Gedanken ihrer Mutter: „Etwas, was nichts kostet, aber wertvoll ist.“
„Ein Ring, ein Armband, eine Kette?“
„Ja“, sagt die Einkaufs-Führerin, ohne ihre Wahl zu präzisieren.
„Hier haben wir einen sehr alten Ring, Willst du ihn anprobieren, meine Hübsche?“ wendet sich der Ladenbesitzer an Amélie und hält ihr einen fast schwarzen Silberring hin.
Amélie schweift gedanklich wieder ab: „Schon mal an Reinigen gedacht, alter Geschäftemacher?“
„Ein Glücksring, allen seinen Besitzern hat er Glück gebracht“, erklärt der Meister.
„Warum ist es dann zu verkaufen?“ schaltet sich Lisa undiplomatisch ein.
„Der letzte Besitzer war ein Senegalese, der 90 Jahre alt geworden ist, bevor er sich auf die Reise in das Land des ewigen Friedens gemacht hat.“
Lisa unterdrückt erneut eine Lachattacke.
„Und diese Armschnalle?“ fragt geschäftstüchtig die Mutter.
„Wow“, entfährt es Lisa.
Das Bronzearmband besitzt ein schön gearbeitetes Schloss und fein aufgebrachte, blumenähnliche Verzierungen und Darstellungen von afrikanischen Tieren von Giraffen, Elefanten und Löwen auf dem ganzen Umkreis der äusseren Seite der Schnalle.
„Ach, dieses Armband ist nicht sehr teuer…“, sagt der Meister schnell und ungehalten.
„Umso besser“, sagt die Einkaufs-Führerin und holt ihr Portemonnaie aus den Tiefen ihrer Tasche.
„Aber Mutter, vielleicht ist es eine schlechte Kopie oder aus einem minderwertigen Werkstoff gemacht“, mischt sich Amélie ein.
„Nein, nein, weder das eine noch das andere; wo denkst du, wo du hier bist, meine Tochter?“, empört sich der Ladenbesitzer.
„Also, was kostet es, bitte?“, fragt Amélies Mutter.
„150 Francs“, erwidert der Ladenbesitzer trocken.
„Und warum ist also nicht teurer?“, hakt Lisa nach.
„Es ist schon teuer genug; der Herr hat schon einen recht hohen Preis genannt“, versucht ihre Mutter, sie zum Schweigen zu bringen. Mit gespielter Resignation holt sie einen 100FF- und einen 50FF-Schein aus dem Portemonnaie und reicht sie dem Verkäufer.
Der nimmt die beiden Scheine an, ohne eine Miene zu verziehen.
„Also sagen Sie schon, jetzt wo Mama die Schnalle gekauft hat, was ist los mit ihr?“, lässt Lisa nicht locker.
„Sie ist verflucht. Es ist ein Sklavenarmband“, lautet die kurze Erklärung.
„Gottseidank gibt es keine Sklaverei mehr“, macht sich die Mutter darüber lustig.
„Ich hab es euch gesagt“, insistiert der Meister, dessen Stimme jetzt scharf wie eine Messerschneide klingt, und schaut die Mutter an.
Draussen auf der Strasse, greift sich Lisa das Armband:
„Aber es ist super. Darf ich es anprobieren, Mama?“
„Ja, aber Achtung, Der Verschluss ist so schön gearbeitet.“
„Ich auch, Mama“, entflammt sich auch Amélie für den Armschmuck.
Eine nach der anderen probiert die Schnalle an.
„Die Schnalle ist wirklich sehr hübsch“, gibt Amélie zu.
Ihr Blick fällt auf ihre Armbanduhr: „Meine Güte, fast sechs Uhr, ich muss noch zur Wäscherei. Darf ich sie ein wenig tragen?“ fragt sie, von der Schönheit der Schnalle eingenommen.
„Ja, du kommst aber heute abend mit Sylvio bei uns abendessen?“ stellt die Mutter zur Bedingung.
„Ja, OK mit Sylvio“, beisst Amélie in den sauren Apfel. Das Abendessen war natürlich nicht geplant, aber ihre Mutter verhandelt immer und überall.
„Also bis heute abend, meine Grosse“, verabschiedet die Mutter ihre ältere Tochter mit zwei Küssen auf die Wangen.
Amélie will die Metro bei Château Rouge nehmen. Sie steigt die abgelaufene Treppe in den Metroschacht hinab.
Am Drehkreuz ist dann dieser Typ hinter ihr und fragt freundlich: „Kann ich mit Ihnen durch die Absperrung gehen, Fräulein?“
Sie dreht sich um.
Ein brünetter Typ, schmales Gesicht, aufmunternd lächelnd, steht hinter ihr. Er sieht nicht schlecht aus, denkt Amélie, aber seine Kleidung ist etwas vernachlässigt, er sollte seine alte Jeans und die ehemals weissen Turnschuhe lieber in den Müll tun.
„Kein Problem“, sagt sie.
Sie entnimmt ihren Fahrschein dem Ausgabeschlitz. Und der Typ geht hinter ihr - und das auf Körperkontakt, sonst funktioniert der Trick nicht - durchs Drehkreuz. Sie macht sich auf den Weg zu ihrer Linie durch die halbdunklen Gänge der Pariser Metro. Es stinkt nach Maschinenöl, Menschenansammlung und stehender Luft. Der Typ vom Drehkreuz ist irgendwo im Menschenstrom hinter ihr verschwunden.
Sie fühlt die kalte Bronze am Handgelenk; sie schaut die Schnalle an, die in der trüben Beleuchtung glänzt. Die Schnalle ist schon sehr schön, das goldene Schimmern setzt sich wunderbar ab gegen die dunkelbraune Farbe ihrer Haut.
Natürlich kommt die Metro nicht sofort.
Amélie verliert sich in ihren Gedanken an den heutigen Abend, sie muss Sylvio noch anrufen wegen der Einladung ihrer Mutter, und sie muss die Wäsche vorher machen… als ein Handgriff an der Schnalle sie sehr hart in die Wirklichkeit zurückholt.
„Und was unternehmen wir heute abend?“ sagt butterweich der brünette Typ von vorhin, schmal lächelnd neben ihr.
„Was soll das?“ entfährt es ihr erschrocken und zugleich verärgert.
Die Hand des Mannes schliesst sich noch stärker um die Schnalle. Das Schloss der Schnalle gibt nach, zerbricht, die Schnalle drückt sich wie eine Zange in den Arm Amélies, der gebrochene Verschluss beisst sich in die weiche Haut.
„Aua“, schreit sie.
„Meine Hübsche, was machen wir denn Aufregendes heute abend zusammen?“
„Weiss nicht“, sagt sie mit Vorsicht.
Sie kann sich nicht bewegen, bei jeder Bewegung drückt sich der gebrochene Verschluss tiefer in die Haut. Warum sieht uns denn keiner? fragt sich Amélie verzweifelt. Ein kurzer Blick um sich herum zeigt ihr, dass das normale Metro-Publikum beim Zeitung- oder Buch-Lesen, Löcher in die Luft-Starren und Nichtsdenken vollauf beschäftigt ist.
„Ich hätte da so einige Ideen, Liebling“, sagt die Zange ihr jetzt nahe am Ohr.
„Kann ich mir vorstellen“, antwortet sie tonlos.
„Was ist los?“
Zwei Wachmänner, einer mit schwarzen Haaren und Schnauzer, der andere mit kahlgeschorenem Schädel, beide an der Leine einen Wachhund, haben sich den Beiden von hinten genähert.
„Was ist los?“, wiederholt der Schnauzer.
„Nichts als ein kleiner Wochendendstreit eines Pärchens, wir streiten uns wieder mal darüber, in welchen Film wir heute Abend gehen sollen“, behauptet die Zange formvollendet.
Der Schnauzer und die Glatze schauen Amélie an. Sie konzentriert sich darauf, ruhig zu bleiben.
„Ich kenne diesen Typ nicht.“ sagt sie fest.
„Haha“, fängt der Drehkreuz-Typ an zu lachen, „das ist ihre normale Nummer, haha, hör auf, Marie, am Schluss werden die Herren denken, dass wir nicht zusammen sind.“
In diesem Moment kommt die Metro.
Die Glatze fixiert Amélie so, als ob er sie durchbohren wolle.
Der Schnauzer wirft dagegen einen interessierten Blick auf die eleganten Rundungen der Schwarzen in ihrer Jeans und unter ihrer Bluse… und sagt dann grinsend zu Amélies Begleitung: „Ja, dann einen schönen Abend!“
Kaum bemerkbar, zieht der Drehkreuztyp Amélie mit dem Zangengriff Schritt für Schritt in den Metro-Waggon und drückt sie mit seiner Hand im Rücken. Sie kann ihm nicht widerstehen. Bei jeder Gegenbewegung drückt sich der gebrochene Verschluss tiefer ins Fleisch.
„Aber“, sie will etwas sagen, schreien, weinen, aber die Zange schliesst sich nur noch fester. "Aua!" Der Drehkreuztyp schiebt sie ganz in den Zug.
Hinter ihr drängen sich andere Leute in den Zug. Da steht sie nun, eingepfercht zwischen Unbeteiligten, während die Zange sie festhält.
Die Glatze und der Schnauzer stehen am Bahnsteig. Die Hunde haben sich auf den Asphalt hingesetzt.
Amélie sieht verzweifelt die Glatze an; sieht er sie denn nicht?
Die Glatze schaut den Schnauzer an.
Die Warnleuchten der Schiebetüren gehen an; die Hupe kündigt die Abfahrt der Metro an.
Die Glatze macht einen Satz nach vorne und zerrt seinen Hund hinter sich in den Zug. Der Schnauzer folgt ihm, bevor sich die Schiebetüren ganz schliessen.
„Muss das sein?“, beschwert sich ein Zeitungsleser über die beiden Hunde, die in der sowieso engen Metro noch zusätzlich Platz wegnehmen.
Die Metro fährt ab.
Die beiden Wachmänner schieben sich zu Amélie und der Zange durch.
„Was ich noch nicht verstanden habe, ist, wie lange spielen Sie dieses Spiel eigentlich?“, wendet sich die Glatze an die Beiden.
„Ach, das kann schon ‘ne Zeitlang dauern“, antwortet die Zange ruhig und wirft dem Schnauzer ein Understatement-Blick zu nach dem Motto: „Junge, hast du dich noch nie mit deiner Freundin gestritten?“
„Aber ich kenn ihn gar nicht“, schreit Amélie und fängt an, hysterisch zu lachen.
Die nächste Metrostation fliegt an den Fenstern vorbei.
Dann hält der Zug.
Tut das weh. Sie fühlt ihre Hand nicht mehr.
Die Türen gehen auf.
Die Zange zieht sie hin zur Tür.
Sie versucht, so gut es geht, zu widerstehen. "Lassen Sie mich los, verdammt noch mal", entfährt es ihr.
„Lass sie los“, sagt die Glatze langsam.
Bevor die zwei Wachmänner reagieren, stürzt der Drehkreuztyp aus der Bahn und taucht in der Masse der Leute unter.
„Machen Sie einen Platz für die Mademoiselle frei“, sagt die Glatze zu einem Löcher-in-die-Luft-Starrer und breitet pathetisch seinen linken Arm aus, um ihr eine Gasse freizugeben.
„Danke“, sagt Amélie schwach.
Das Blut fliesst in die taube Hand zurück.
Der Arm hat unter der Schnalle gelitten, eine Schnittwunde markiert die Stelle des gebrochenen Verschlusses; der Arm zeigt an seinem ganzen Umfang einen tiefen Abdruck der Zange. Blut tropft auf den Waggonboden; Amélie beginnt tonlos zu weinen.
„Tut mir leid“, sagt die Glatze, „das kommt leider viel zu oft vor, dass Frauen in der Metro angemacht werden. Der Grund, warum ich sie mich beunruhigt haben, ist, dass der Typ sie keinen Augenblick lang losgelassen hat. Selbst wenn es ein Spiel gewesen wäre, war das einfach zu viel.“
„Ja gottseidank sind wir vorbeigekommen“, sagt der Schnauzer etwas abwesend, denn er folgt mit seinen Blicken einer kleinen Asiatin, die sich sehr sommerlich angezogen hat.