Die Daheimgebliebenen (1)
Die Daheimgebliebenen (1): Männer und Technik
Endlich Urlaub. Am Freitag sah es bei Gabi und Holger Hempel tatsächlich aus wie bei Hempels. Und das nicht nur unterm Sofa. Holger hatte eine regelrechte Spur hinterlassen in der kleinen Zwei-Zimmer-Dachgeschosswohnung. Gleich neben dem Eingang hatte der Versicherungskaufmann seine wildlederne Aktenmappe "abgelegt". Rechtwinklig lehnte sich der linke (noch zugeknotete) Halbschuh an.
Die Spuren der Grundsteinlegung waren dem einst penibel polierten Budapester mit den 530.000 feinen Noppen klar anzusehen. Aber was sollte es: Schließlich war dieser Schaller ein guter Kunde. Immerhin tausend Quadratmeter Grundstück, 140 Quadratmeter Wohnfläche, die Provisionen der fälligen Versicherungen hatten in Holgers Kopf die Zahlen tanzen und die Budapester-Noppen Noppen sein lassen. Ein Stück weiter, neben dem Schuhschrank, blitzte die Krawatte mit den gelben Punkten unter der Wochenendzeitung hervor. Und da, hinter dem Telefonschränkchen, kam auch der zweite Schuh zum Vorschein. In ihm steckte - wer weiß, warum das schnurlose Telefon.
Obwohl das Ding fast bis in die Zehenspitzen des 250-Mark-Schuhs gerutscht war, verfehlte sein Klingeln seine Wirkung nicht: Holger und Gabi standen senkrecht im Bett. "Ich dachte, Du hättest das Teil zum Schweigen gebracht", knurrte Holger aus dem Kopfkissen, in das er sich nach dem ersten Schrecken vergraben hatte, "Schließlich haben wir Urlaub!" Gabi, mit dem linken Fuß nach dem großen Fellhausschuh tastend, verdrehte die Augen: "Und wer hätte Dich dann abgeholt gestern abend? Grundsteinhagelvoll, wie Du warst? Ohne Geld für ein Taxi?"
Als sie nach mehreren Stationen - leere Telefonhalterung; Sofa, Küchentisch - endlich das Telefon im Schuh geortet hatte, verstummte es. Typisch: Alle wach, alles umsonst.
Inzwischen hatte sich Holger aus dem Bett gequält. Auf einem Strumpfsocken schlich er, den schweren Kopf heftig kratzend, auf den Flur. "Jetzt bin ich ja hier. Und das Ding schalten wir jetzt ab!" Gabi drückte ihm das violettfarbene Gerät, das inzwischen auch noch lauthals piepsend um Akkuladung bettelte, in die Hand.
Holger kam dabei fast aus dem Gleichgewicht, zumal er mit dem unbestrumpften Fuß in die Schlaufe der immer noch verknoteten Krawatte geraten war. Er bückte sich, so weit es sein scheinbar übergroßer Schädel zuließ, und fingerte hinter dem Telefonschrank nach dem Anschlusskabel. Er zog entschlossen, was die cremefarbene Buchse so beeindruckte, dass sie dem Stecker mitsamt Putz folgte. "Scheiße", brachte Holger heraus und pustete sich den feinen, weißen Staub von der Hand.
"Was ist denn jetzt schon wieder?", kam die Antwort aus der Küche, wo Gabi - inzwischen in einen goldgelben Morgenmantel gehüllt und mit wild hochgesteckten Haaren die stotternde Kaffeemaschine in Gang gesetzt hatte. "Ach, nichts!", zischte ihr bestäubter Gatte zurück. Mit einem tarnenden Hüsteln hatte er die Buchse wieder in die Wand gedrückt.
Beim kurzen Blick hinter das Schränkchen hatte er festgestellt, dass es sich um den Faxstecker gehandelt hatte. Umständlich brachte er seine zweite, noch saubere Hand in Stellung und zog den Stecker erfolgreich aus der Dose. Diesmal ohne größere Baubeschädigungen.
Dann nestelte er nach dem Telefonanschluss. Diesmal ließ sich der Stecker ganz leicht ziehen. So leicht, dass seine Hand auf der einen halben Zentimeter herausragenden Rückwandschraube des Telefonschränkchens landete. "Aaaah!", hörte Gabi aus dem Flur, ignorierte es aber. Schließlich schreien Männer schon bei der kleinsten Schramme, als würde ihnen der Arm ohne Betäubung und mit brachialer Gewalt abgetrennt.
Stattdessen antwortete sie, mit zwei Kaffeebechern und einer Butterdose in Richtung Wohnzimmer jonglierend: "Lässt Du den Internet-Anschluss drin? Ich will nachher noch beim August-Versand dieses Shirt mit dem tollen Aufdruck bestellen. Dieses Rote, weißt Du? Mit dem Spruch auf dem Arm".
Erstens wusste Holger nicht, und zweitens stellte sich der just unter Einsatz des eigenen Lebens herausgezogene Stecker als der für den Internet-Zugang heraus. "Is gut", zischte er durch die Wange, während er seine rechte Hand schmerzlindernd abschleckte. Der dritte Versuch musste hinhauen. Er tastete noch ein bisschen weiter nach links, ergriff den nächsten Stecker und zog. Geschafft.
In dem Moment guckte Gabi um die Ecke. Die Augen, brauen weit hochgezogen, fragte sie "Was machst Du da überhaupt?" "Ich denke, wir wollen Ruhe im Urlaub? Ich will keine Faxe, keine Anrufe, nichts", antwortete Holger, der inzwischen mit der einen Hand die andere, und mit der anderen seinen schweren Kopf hielt.
"Mann, Schatz!", grinste sie und wedelte vor seinen Augen mit dem Hauptstecker der ISDN-Sammeldose, "Ist doch alles schon paletti. Komm frühstücken!"