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Die Detektivin braucht Urlaub
Zwei Jahre waren vergangen, und der Fall immer noch nicht gelöst. Ungereimtheiten reihten sich aneinander, die Zahl der Verdächtigen hatte zugenommen, auch das vermeintliche Opfer hatte zeitweise auf dieser Liste gestanden.
"So geht das nicht," beschwerte sich die Anwältin des Opfers. "Sie war damals sechs oder sieben. Siebenjährige Kinder sind wohl kaum juristisch belastbar."
"Falschaussagen, falsche Beschuldigungen, da kommt vielleicht einiges zusammen," beharrte die Auftraggeberin, "auch wenn es strafrechtlich nicht relevant ist. Ich will die Wahrheit und nichts als die volle Wahrheit! Auch wenn sie unbarmherzig ist."
Die Wahrheit, dachte die Detektivin, ist so schwer zu fassen, das wird Jahre brauchen. Sie sagte aber nichts. Sie hatte Angst, die Auftraggeberin mit dieser Wahrheit zu verschrecken und damit zu verlieren.
"Ich brauche mehr Material!" rief sie also stattdessen. "Mit dem, was ich habe, kann ich nicht arbeiten. Das ist alles zu schwammig. Was ist mit den Akten?"
"Jaaaaa, die Akten...." Die Auftraggeberin sah aus dem Fenster.
"Kümmern Sie sich endlich darum?" hakte die Detektivin nach. "Das können nur Sie beantragen. Ich brauche Sie, wenn wir hier weiterkommen wollen."
"Grade habe ich keine Zeit. Vielleicht später." sagte die Auftraggeberin und sah weiter aus dem Fenster. Die Anwältin war schon längst gegangen. Sie hatte wohl noch einen anderen Termin.
"Ohne Akten keine Fakten." witzelte die Detektivin, aber sie sah, dass sie für heute nichts mehr ausrichten konnte. Die Auftraggeberin schien auf einmal seltsam desinteressiert zu sein. Ich sehe in dem Fall nicht durch, dachte die Detektivin, ich verstehe auch meine eigene Rolle nicht. Ist die Wahrheit nun erwünscht oder zweitrangig? Und wofür wird sie benötigt? Bin ich nur zur Gewissensberuhigung da? Um zu suggerieren, das überhaupt etwas geschieht?
"Wir müssen besser zusammenarbeiten," drängte sie die Auftraggeberin.
"Ich habe jetzt keine Zeit mehr," wiederholte diese mechanisch, stand auf und verließ das kleine Büro.
Na toll, dachte die Detektivin. Wofür mache ich diesen Mist überhaupt? Am besten ich drehe Däumchen und stelle weiter Rechnungen aus. Mir kann's ja egal sein.
Aber es war ihr nicht egal. Sie mochte ihre Arbeit, sie interessierte sich wirklich für den Fall. Sie fand das, was sie tat, sinnvoll. Sie wusste, dass es unumgänglich war, zuweilen auf der Stelle zu treten. Dass es Zeiten gab in denen einfach nichts passierte. Aber sie hatte das Gefühl, hingehalten zu werden. Die Beweggründe der Auftraggeberin waren höchst nebulös, das vermeintliche Opfer schwieg sich meist aus und lieferte nur zuweilen recht unklare Aussagen. Zum vermeintlichen Täter war ihr der Kontakt verboten. Sie hatte über Umwege herausgefunden, dass er ein ziemliches Arschloch sei, aber das hieß ja in diesem speziellen Fall noch nichts. Jemand konnte ein Arschloch sein und trotzdem in einer bestimmten Sache unschuldig.
Die Detektivin sah nun ihrerseits aus dem Fenster. Der Anblick war nicht unbedingt aufbauend. Regenwolken jagten einander und entleerten ihren Inhalt auf die bereits völlig durchnässte Stadt. Sie mochte die Dynamik dieses Herbstwetters, aber ein paar Strahlen Sonne wären zur Abwechslung nicht verkehrt gewesen. Ein paar Schwalben jagten noch durch das Grau. Solange es noch Schwalben gibt, ist es noch Sommer, dachte die Detektivin zusammenhangslos. Solange noch Sommer ist, kann noch etwas passieren.
Ich sollte einmal Urlaub machen, dachte sie weiter. Regen und Wind sind am Meer viel schöner. Mit diesem Fall wird es ohnehin nichts mehr, er ist verdorben wie eine Südfrucht vom Discounter. Außen noch grün, aber innen schon vergammelt. Aber ich fühle mich an ihn gebunden. Es ist mein Fall. Ich will ihn lösen. So funktionierte das bisher in meiner Welt.
Sie rief einen Freund an und klagte ihm ihr Leid.
"So hat es noch nie funktioniert," sagte der Freund. "So funktioniert das mit der Wahrheit in diesem Falle nicht. Du konzentrierst dich zu sehr auf äußerliches. Aber in diesem Fall liegt die Wahrheit tiefer verborgen. Es wird harte Arbeit sein, sie da heraus zu locken."
"Das weiß ich selber." gab die Detektivin zu.
"Und was willst du überhaupt mit den Akten?" fuhr der Freund fort, ohne von ihrem Einwand Notiz zu nehmen. "Glaubst du etwa, dass das, was darin steht, dann auch genauso stimmt?"
"Nein, natürlich nicht," verteidigte sich die Detektivin. "Aber sie geben immerhin Anhaltspunkte. Es sind Aussagen aus der Zeit! Die Beteiligten haben dort Zeugnis abgelegt." Sie fühlte sich der Naivität bezichtigt. Missgelaunt legte sie auf, fast ohne sich zu verabschieden. Der Freund hatte viel über Psychologie gelesen, deswegen mutmaßte sie, dass er sich irgendwie auskannte. Aber sie hielt auch dieses Wissen für schwammig. Mehr als das, sie fühlte sich verraten. Anscheinend nahm niemand ihre Arbeit für voll.
"Ja, ich bin für das Rationale! Aber auch ich habe Gefühle!" rief sie stumm. Sie starrte die Wand an, runzelte die Stirn und grollte.
Kurzentschlossen griff sie wieder zum Telefon. Diesmal rief sie die Auftraggeberin an.
"Ich mach' Urlaub!" rief sie.
"Was?" fragte die Auftraggeberin konsterniert.
"Bis auf weiteres liegt der Fall auf Eis." bekräftigte die Detektivin. "Zumindest was mich angeht."
"Aber das können Sie nicht machen!" Die Auftraggeberin schien entsetzt. "Sie müssen doch zusehen, dass das Opfer in Therapie kommt."
Die Detektivin erinnerte sich, ein paar dementspechende Telefonate getätigt zu haben, obwohl sie diese Aufgabe nicht eigentlich als die ihre ansah. Therapie war ihr egal. Sie rollte mit den Augen. Sollte sich doch die Auftraggeberin, das mutmaßliche Opfer, die Anwältin, der Freund oder sonstwer darum kümmern. Um diesen Therapieplatz. "Das ist nicht Teil meines Auftrags." sagte sie brüsk.
"Aber irgendwie muss es doch weitergehen....", jammerte die Auftraggeberin. "Bitte machen Sie noch zwei Wochen lang weiter!"
"Vielleicht brauchen Sie eine Therapie." sagte die Detektivin bissig.
"Ich komme perfekt klar." sagte die Auftraggeberin und legte auf.
Die Detektivin hieb mit der Faust auf den Tisch, so dass der kalt gewordene Kaffee in der Tasse kurz Wellen schlug. Ich bin nicht die richtige, dachte sie. Irgend jemand anderes müsste den Fall übernehmen. Jemand mit mehr Abstand. Aber wer? Es wird sich niemand darum kümmern.
Sie grübelte und sah aus dem Fenster.
Sie malte eine Palme und eine Hängematte auf einen Zettel mit Gesprächsnotizen. Weil es nur eine Palme war, hing das zweite Ende der Hängematte in der Luft.
Ich werde wahnsinnig, dachte sie. Dann brauchen wir alle einen Therapieplatz. Sie wusste, dass der Freund schon einen hatte. Was war mit der Anwältin? Sie wusste es nicht. Vielleicht kann ich mit der Anwältin mal einen Kaffee trinken gehen, dachte sie. Die ist nett, ich mag sie. Aber das mit dem Kaffee geht nicht, denn ich muss unvoreingenommen bleiben.
Dann gehe ich halt alleine Kaffee trinken, beschloss sie.
Sie stand auf, zog ihren Trenchcoat an, griff nach ihrem Hut und verließ das Büro. Hinter ihr klingelte das Telefon in dem leeren Raum, aber die Tür war bereits abgeschlossen und der Entschluss für den Nachmittag gefasst.
Die Detektivin kannte ein Café, in dem es guten Kaffee und interessante Zeitschriften gab. Das hatte sie immerhin schon herausgefunden. Sie lächelte vor sich hin. Vielleicht reichte das erstmal für den Rest des Tages. Sie zog ihren Hut tiefer ins Gesicht und trat vor die Tür. Ihr Weg durch den Regen war nicht weit. Das Café lag direkt um's Eck.