Die Diebin und der lächelnde Mann
Wie an den meisten Tagen saß Marie in der Fußgängerzone und bettelte. Die junge Frau, achtzehnjährig, trug zwar eine dicke Daunenjacke gegen die spätwinterliche Kälte, die aber trotzdem nach einiger Zeit Zugang zu ihrem Körper fand und Marie frösteln ließ. Sie hatte ihren Platz bei einer Drogerie, hockte neben dem Eingang, durch den ständig Menschen gingen auf einer alten Wolldecke und jedes Mal wenn die Tür sich öffnete, bekam sie einen Schwall warme Luft aus dem Inneren des Ladens zu spüren. Die dunklen Haare verbarg sie unter einer Wollmütze, ihre klammen Hände waren trocken aber man hatte ihr Handschuhe verboten, denn das Bild ihrer offensichtlichen Hilfsbedürftigkeit musste für die Passanten glaubwürdig erscheinen, damit diese Münzen in ihre Schale warfen. Deshalb war ihre Jacke auch alt und etwas schmutzig, weswegen Marie sie nicht gerne trug, aber ihr Cousin verstand keinen Spaß und wurde notfalls auch handgreiflich, wenn sie sich seinen Anordnungen widersetzte, auch wenn er nicht wirklich brutal wurde. Heute war ein schlechter Tag. Die Leute schienen kaum auf sie zu achten, liefen geschäftig an ihr vorbei und lebten ihren ordentlichen deutschen Alltag, der für sie manchmal etwas Unheimliches hatte, so wenig chaotisch und wohlgeordnet lief alles seinen Gang. Aber vielleicht hatten die Menschen es einfach satt, einem armen Mädchen von irgendwoher aus der Welt Geld zu geben das womöglich gar so arm war wie es tat und das stimmte natürlich auch, denn Marie hungerte nicht sondern verdiente Geld für ihre arbeitslosen Eltern zuhause in dem osteuropäischen Land.
Manchmal kam ein schon nicht mehr ganz junger Mann vorbei. In den zwei Wochen, die Marie jetzt hier saß, war er ihr schon mehrmals aufgefallen. Auch heute Nachmittag schlenderte er an der Drogerie vorbei und sie hatte ihn schon wahrgenommen, wie er sich aus der anonymen Masse an Passanten herauskristallisierte. Der Mann musste so Mitte Dreißig sein und eigentlich war nichts Besonderes an ihm, weder an seinem Aussehen noch an seiner Kleidung, aber er war der einzige Mensch gewesen, der sie unter all den vielen einmal angelächelt hatte. Auch jetzt ging er langsam an ihrem Platz vorbei und Marie war gespannt, ob er sie wieder wahrnehmen würde. Tatsächlich drehte er sich zu ihr um, als er schon fast vorbeigelaufen war und ohne anzuhalten lächelte er ihr freundlich zu, ganz kurz und dann war er auch schon in der Menge verschwunden. Aber Geld hatte der Mann heute nicht in ihre Schale getan.
Um sechs Uhr verließ sie ihren Platz, rollte die Decke zusammen und ließ die wenigen Münzen in ihrer Jacke verschwinden. Sie ging gemächlich zum Parkplatz hinter der Einkaufsmeile, wo ihr Cousin auf sie wartete. Zufrieden würde er nicht mit den mageren Einkünften sein, dass wusste sie, aber Marie war das egal; Angst hatte sie vor dem Burschen nicht. Da stand schon der Wagen und sie öffnete die Tür, schmiss die Decke auf den Rücksitz, schwang sich auf den Beifahrersitz und übergab dem jungen Mann das Geld.
Der sah es an und seufzte: ”Ist nicht gerade viel Mädchen.”
“Die Leute sind halt geizig”, erwiderte sie und schaute ihn gelassen an.
“Morgen gehst Du mit Dina zum Bahnhof” sagte er und startete das Auto.
Marie stöhnte. Leute am Eingang des Zuges zu beklauen war nicht der Hit, sie fand das unanständig und im Gegensatz zum Betteln, wo die Leute freiwillig gaben, fühlte sie sich dabei wie eine Kriminelle. Aber sie sagte nichts. Ihr Cousin war nun mal der Boss.
Spätabends lag sie im Bett des Pensionszimmers. Neben ihr schlief ihre Cousine Dina, die ein Jahr älter war bereits tief. Marie dachte an Zuhause, an das Dorf am Fluss und an die Armut der Bewohner. Ihr ewig betrunkener Vater, der vorhandenes Geld rasch in Alkohol verwandelte, ihre demütige Mutter, die das alles still erduldete und die Marie im Frühjahr gebeten hatte, mit dem Cousin nach Deutschland zu fahren nachdem sie die Schule beendet hatte und die zwei jüngeren Geschwister; Marie machte dies hier eigentlich nur den Kleinen zuliebe, damit sie etwas zu essen bekämen. Eigentlich wollte sie eine Ausbildung als Arzthelferin machen, aber ihr Cousin behauptete, sie würde in der Heimat eh keine Stelle finden. Sie versuchte zu schlafen und dachte an diesen seltsamen Mann der lächelte und da musste sie ebenfalls lächeln, hier in diesem tristen Pensionszimmer in dieser fremden Großstadt und dann schlief sie ein.
Der Bahnhof war groß und sehr belebt. Tausende Menschen strömten täglich durch die Halle und eilten hoch zu den Gleisen, wo sie ihre Züge nahmen und ein akustisches Gemisch aus den Schritten und Stimmen der vielen Leute ließ niemals Stille aufkommen und oben auf dem Gleis beschallten die Lautsprecher die Reisenden mit einer Vielzahl von Informationen über ankommende, abfahrende und verspätete Züge.
Marie und Dina warteten, bis ein Zug einfuhr. Dann suchten sie sich ein Opfer aus, verständigten sich durch ein Nicken und bewegten sich wie die Reisenden auf die Tür zu, so als wollten sie ebenfalls einsteigen. Im Gedränge an der Eingangstür, wo manchmal körperliche Berührungen unvermeidlich waren, rempelte Dina die ausgesuchte Person wie aus Versehen an. Dann redete sie in ihrer Muttersprache auf die empörte Person ein, währenddessen Marie mit einem geübten Griff die Geldbörse aus der Hosentasche oder einer Handtasche entwendete und die ahnungslose Person in den Zug stieg.
Den Vormittag über hatten die beiden dreimal erfolgreich diese Aktion durchgeführt. Um halb zwei gingen sie in die Stadt zu einem Pizzastand, wo sie sich eine kleine Mahlzeit gönnten und anschließend ging es zurück zu den Bahngleisen. Der Tag war angenehm mild, wie das Anfang März häufig der Fall ist und die Menschen schöpften Hoffnung auf den Frühling und die Kleidung war nicht mehr so dick. Gerade fuhr wieder ein Regionalzug ein und die wartenden Reisenden bereiteten sich auf den Einstieg vor; ein Mann war darunter, der eine dunkelgrüne Jacke trug und Marie erkannte in ihm den freundlichen Typ aus der Fußgängerzone, der gestern noch an ihr vorbeigegangen war. Sie blickte zu Dina, die den Mann ebenfalls gesehen hatte und ihn offensichtlich als Opfer ins Auge gefasst hatte und Marie überlegte fieberhaft, wie sie das verhindern könnte aber Dina nickte ihr bereits zu und ging mit den zusteigewilligen Reisenden in Richtung Zugtür. Marie folgte ihr und schon passierte es, der Rempler und der Mann schaute zu Dina und entdeckte im nächsten Moment Marie, die jetzt neben ihm stand und die nicht vorhatte, ihren Teil zu der Aktion beizutragen, denn so leicht es ihr fiel, Fremde auszurauben, so wenig war in der Lage, jemanden, der sie in ihrer Person wahrgenommen und als Menschen anerkannt hatte, jetzt hier einfach die Geldbörse zu stehlen.
Der Mann erkannte Marie, überlegte kurz und sagte: “ Ach Hallo.”
“Hallo”, antwortete Marie.
Der Mann überlegte kurz, ehe er sagte: “ Es scheint Ihnen ja besser zu gehen. Das freut mich.”
Marie nickte nur. Einen Moment hatte sie den Eindruck, er wolle noch etwas sagen, dann jedoch schien er es sich anders zu überlegen und verschwand mit den anderen im Zug. Sie beobachtete, in welches Abteil er ging, schaute auf die Fensterfront und erkannte sein Gesicht am Fenster, wo er offenbar einen Platz gefunden hatte. Nach kurzem Zögern hob er die Hand zum Gruß und Marie winkte zaghaft zurück, ehe der Zug sich in Bewegung setze und aus dem Bahnhof rollte.
Dina, die die Szene beobachtet hatte, stellte sich neben Marie und fragte: “Was war das denn?”
“Es ging nicht”, antwortete Marie, “er hat mich nach der Uhrzeit gefragt:”
“Und wem hast gerade zugewinkt?”
“Hab ich doch gar nicht.”
Dina schaute sie ungläubig an, zuckte dann mit den Schultern und ging Richtung Treppen. Marie folgte ihr.