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Die Doppelflügeltür
„Ich halt das nicht mehr aus!“. Melanie riss die Tür zum Wohnzimmer auf. Diese Tür, die Ben so liebte, Original-Altbau, Doppelflügel, Massivholz. Extra abfeilen lassen hatte er sie von einem Handwerker, den er online bei myhammer gefunden hatte. Den günstigsten genommen, natürlich, 10 Euro die Stunde, Geizhalz. Aber Hauptsache 1790 Euro für diese scheiß Tür bei Ebay Kleinanzeigen bezahlt.
„Ja, die scheiß Tür, du und deine scheiß Tür!“ entgegnete sie seinem missmutigen Gesicht.
„Du weißt genau, dass ich mir diese Tür… nein, dass ich uns diese Tür was habe kosten lassen. Erstens. Und zweitens: Was ist denn nun schon wieder los?“
„Uns? Wie oft bettel ich dich an, dass wir doch wenigstens mal beim Döner um die Ecke essen gehen, aber das ist dir zu teuer. Die Tür…“, sie brach mitten im Satz ab. Ihr war wieder eingefallen, warum sie so wütend geworden war. „Hast du das nicht gehört?“. Melanie zeigte gen Decke.
„Hä?“
„Na die Musik. Das Dröhnen, den Krach!“
„äh, kann sein?“, fragte er vorsichtig. Wenn Melanie so sauer war, war es besser, sie nicht zu reizen. Nicht, dass sie seine Flügeltür noch einmal so ins Schloss krachte. Erst gestern hatte er es geölt. Außerdem hatte er keinen Bock auf Stress. „Kann ich wenigstens einmal in Ruhe meinen Knausgaard zu Ende lesen?“ Er tippte auf den Einband. „Kämpfen“ stand dort in roten Lettern. 1280 Seiten Gejammere eines alternden Mannes, sie sprach es nicht aus, diesmal nicht.
„Hörst du denn den Krach nicht?“
„Es ist mir egal", entgegnete er.
„Egal? Ich kann mich auf nichts konzentrieren, ich versuche hier eine Doktorarbeit zu schreiben.“ Ben ließ seine grünen Augäpfel, in die Melanie einst hatte versinken wollen, nach oben rollen.
„Ok, was soll ich tun?“, fragte er resigniert.
„Hochgehn und ihm sagen, dass das Ruhestörung ist und wir die Polizei rufen.“
Er lachte. „Das werde ich sicher nicht.“
„Na dann halt ohne Polizei", lenkte Melanie ein.
„Warum gehst du nicht? Es stört doch dich, nicht mich.“
Oh, am liebsten würde sie in dieses Gesicht reinschlagen, dachte Melanie. Bens Grinsen wurde noch breiter. „Manchmal frage ich mich, warum wir eigentlich noch zusammen sind“, flüsterte sie, ihre Wut hatte sich in Tränen aufgelöst. Beängstigend schnell, diese Stimmungswechsel. Nicht, dass Ben das nicht gewohnt wäre. Doch heute schien Melanie besonders aufgebracht. Er wusste, dass er jetzt handeln musste. Er, der Seismograph für ihre Gefühle, seit vier Jahren. Wenn ihre Laune so rasch kippte, könnte bald etwas auf dem Echtholzboden zerschellen. Er stand auf, schaute nur kurz leicht besorgt zur Flügeltür. Mist, sie hatte es gesehn.
„Ahhhhhh“, schrie sie.
„Meine Güte, die Nachbarn“, zischte Ben.
Mit offenem Mund starrte sie ihn an: „Sag mal, hast du überhaupt kapiert, worum es hier geht? Die NACHBARN, die hier so einen Höllenlärm verbreiten, halten mich von meiner Arbeit ab. Bumm, Bumm, Bumm, seit 25 Minuten. Bumm, Bumm, Bumm.“ Sie stampfte mit den Füßen zum Rhythmus ihrer Wut, „Bumm, Bumm, Bumm.“ Ben erhobt sich mit einem Seufzer aus dem salbeigrünen Ohrensessel – Antikmarkt, original 20er-Jahre, restauriert, 940 Euro.
„Ok, was soll ich tun?“, wollte Ben wissen.
„dafür sorgen, dass er ruhig ist", befahl Melanie.
„Na gut, Duchessa.“ Sie lächelte. So hatte er sie am Anfang genannt, als alles noch leicht war, ohne die antike Flügeltür, die Enerviertheit, seinen Geiz, Nora und all das andre zwischen ihnen. Ben marschierte los, verließ die Wohnung, die Stufen im Treppenhaus seufzten unter seinen Schritten.
Als die Wohnungstür ins Schloss geschlagen war, sprintete Melanie los, durch die Flügeltür, ins Schlafzimmer, 5 Minuten, sie hatten es immer wieder geübt. Sie riss den Schrank auf, tippte den Zahlencode ein. Das Kästchen sprang auf. Stopfte alles in ihren Rucksack, das Geld, den Schmuck, die Münzen. Sie zückte ihr Handy und tippte "GO!“ Und Ralf, der so lange den Subwoofer hatte laufen lassen, dass ihm die Ohren schmerzten, tat es. „Hallo Herr von Wensburg“, begrüßte er Ben mit dem breitesten Lächeln. „Äh, meine Frau hat ein Problem mit der Lautstärke von dem Ding da", er zeigte auf den am Boden stehenden schwarzen Kasten, eine riesige Lautsprecherbox, die allein für die Wiedergabe tieffrequenter Schallwellen gebaut wurde. „Oh, entschuldigen Sie, ich schalte es ab, bitte treten sie ein, ich habe gebacken.“
Fünf Minuten später betrat Ben seine Altbauwohnung wieder. Zuerst bemerkte er, dass jemand seine Flügeltür mit roter Farbe beschmiert hatte. Sein Safe war offen und leer. „Melanie?“, rief er leise. „Melanie?“ Ihr Mantel fehlte. Und dann verstand er. Er ging in die Knie. Und weinte. Lachte. Weinte. „Danke“, flüsterte er. Nahm den Knausgard und ließ sich in den salbeigrünen Ohrensessel fallen.