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Die dunkle Gestalt
Samuel war sieben Jahre alt. Er stieg mitten in der Nacht aus seinem Bett und lief langsamen Schrittes zum Badezimmer. Immer wieder hörte er seinen Namen. Jemand rief seinen Namen. Er kannte diese Stimme nicht. Er hatte sie noch nie vorher gehört. Samuels Mutter schlief tief und fest. Sein Vater war kurz nach seiner Geburt gestorben. Bei einem Autounfall. Vor der Badezimmertür angekommen blieb Samuel kurz stehen. Er hatte Angst und war sich nicht sicher, ob er das richtige tat.
„Samuel.“ Wieder hörte er seinen Namen.
„Komm her kleiner Samuel.“
Die Neugier war stärker als die Angst.
Samuel öffnete langsam die Tür und schaute vorsichtig in das Badezimmer. Es war niemand zu sehen. Nach einem kurzen Moment hörte er wieder seinen Namen. Die Stimme schien aus dem Spiegel zu kommen. Samuel trat in das Badezimmer ein und stellte sich vor den Spiegel.
Tatsächlich, jemand befand sich im Spiegel. Eine große, in dunklem Gewand eingehüllte Gestalt stand ihm nun gegenüber. Die Gestalt hatte kein Gesicht. So schien es jedenfalls. Der Stimme nach zu beurteilen, musste es ein Mann sein.
„Wer bist Du?“ Fragte Samuel.
„Kleiner Samuel, ich bin in Dir.“ Antwortete die Gestalt.
„In mir? Das geht doch gar nicht. Du bist doch viel größer.“ Bemerkte Samuel.
„Das geht, kleiner Samuel. Ich bin nur gekommen, um Dir eines zu sagen.“
„Was?“ Fragte Samuel.
„Erinnere Dich an mich. In einigen Jahren werde ich wieder kommen. Vergiss mich nicht. Du musst immer wissen, dass ich da sein werde. Im wichtigsten Moment Deines Lebens.“
„Ich hole jetzt meine Mutter. Ich versteh Dich nicht.“
„Warte Samuel. Merke Dir gut was ich Dir jetzt sage. Ich höre mit Deinen Ohren. Ich spreche durch Deinen Mund. Ich sehe mit Deinen Augen. Ich fühle durch Dich und ich lebe in Dir. Vergiss das nicht.“
Die Gestalt verschwand. Samuel stand noch eine Weile im Badezimmer und schaute in den Spiegel. Dann ging er zu seiner Mutter ins Bett und legte sich zu ihr. Er schlief sofort ein und konnte sich am nächsten Tag an nichts mehr erinnern.
18 Jahre später.
Mike und Bradley standen fassungslos vor dem Grab und weinten. Einer ihrer besten Freunde war aus dem Leben gerissen worden. Einfach so. Mitten auf einer Party.
Niemand konnte sich den Tod des jungen Mannes erklären. Nicht einmal Ärzte. Er fiel einfach um und starb. Einige der Partygäste wollten beobachtet haben, wie er plötzlich aufstand und versuchte etwas zu sagen, er bekam jedoch keinen Ton heraus. Er soll auf die Fragen und Reaktionen der anderen nicht reagiert haben. Als wäre er taub. Später soll er sich immer wieder die Augen gerieben haben. Sie schienen zu brennen. Dann fiel er irgendwann auf den Boden und lag dort. Der herbei gerufene Notarzt konnte nur noch seinen Tod feststellen. Tommy wurde nur 25 Jahre alt. Mike spürte eine Hand auf seiner Schulter und drehte sich um.
Es war Samuel. „Hallo Mike, lange nicht mehr gesehen.“
„Hi, Sam. Von wem hast Du es gehört?“
„Tommys Schwester rief mich an. Hallo Bradley.“
„Hi. Schön das Du hier bist. Hast Dich lange nicht mehr blicken lassen.“ Sagte Bradley und gab Samuel die Hand.
Alle drei standen wortlos vor dem Grab und trauerten.
Bis vor zwei Jahren waren die vier die besten Freunde. Sie trafen sich früher fast täglich und hatten viele Gemeinsamkeiten. Unter anderem bildeten sie in einem Fußballverein die Abwehrreihe. Sie verstanden sich blind und halfen sich gegenseitig. Zwei Jahre ist das letzte gemeinsame Spiel nun her. Plötzlich und ohne Ankündigung zog Samuel aus der Stadt und ließ sich bis zum heutigen Tag nicht blicken. Ab und zu rief er bei seinen Freunden an und fragte nach deren Wohlbefinden. Meist jedoch waren es mehr Pflichtanrufe zu Geburtstagen und anderen wichtigen Ereignissen.
„Gehen wir was trinken. Ich glaube, wir haben uns einiges zu erzählen.“ Schlug Bradley vor.
Samuel schaute beide an und überlegte einen kurzen Moment. Er fühlte sich unsicher. Mike klopfte ihm auf die Schulter und sagte:“ Na komm Samuel, der alten Zeiten wegen. Tommy würde sich freuen.“ Samuel nickte zustimmend und lächelte. „Ja. Lasst uns ein Bier trinken.“
Sie gingen in ihr Stammlokal und setzten sich an einen Tisch, der etwas Abseits stand.
Alle drei bestellten sich Bier und stießen auf die alten Zeiten an. Schon nach kurzer Zeit begannen sie über Tommy zu sprechen. Tommy war der stärkste und mutigste unter den vier Freunden gewesen. Zu Lebzeiten nannten alle drei Tommy ihren besten Freund und sahen in ihm ein Vorbild. Er war ein Mensch, von dem man viel lernen konnte. Tommys Schwester hatte die Beziehung Samuels zum Verstorbenen verstärkt. Lange war sie seine Freundin gewesen und sie hatte Samuel über das Unglück informiert. „Ich kann es einfach nicht fassen. Er ist einfach so umgefallen und hörte auf zu atmen. Kurze Zeit vorher hatte er noch getanzt und Spaß gehabt.“ Sagte Bradley und nahm einen kräftigen Schluck von seinem Bier. Bradley war der zurückhaltende von den vieren. Der, den man immer zu allem überreden musste.
Mike fügte hinzu: “Es war fast genauso wie damals als Deine Mutter von uns ging Samuel.“
Samuel schaute Mike an und hatte bereits vorher geahnt, dass jemand dieses Thema ansprechen würde. Dennoch reagierte er allergisch darauf. „Das hat nichts miteinander zu tun. Ich will nicht darüber sprechen.“
„Aber es ist doch so. Deiner Mutter passierte dasselbe. Ich habe es selbst gesehen. Erinnerst Du dich nicht mehr?“ Mike blieb hartnäckig.
„Nein. Ich will mich nicht erinnern. Lassen wir das Thema.“ Bat Samuel energisch.
Eine kurze Zeit lang tranken sie ihr Bier und sagten nichts. Traurig dachten sie nach.
Bradley war es, der die Stille unterbrach. „Wo warst Du solange?“
Erwartungsvoll schauten beide Samuel an.
„In New York.“ Antwortete Samuel und fügte hinzu „wenn Ihr wissen wollt, warum ich über Nacht gegangen bin und keinem von euch bescheid gesagt habe, dann lasst es gleich sein. Ich gebe Euch darauf keine Antwort. Es ist passiert und fertig. Morgen werde ich wieder zurück fliegen. Wäre Tommy nicht gestorben, wäre ich nicht hergekommen.“
„Was haben wir Dir getan?“ Fragte Bradley.
„Nichts. Ihr habt nichts getan. Es liegt an mir.“
„Warum verschließt Du dich uns gegenüber?“ Fragte Bradley weiter.
„Ich...ich kann es...ich kann es Euch nicht sagen. Es ist, wie es ist."
Kaum hatte Samuel ausgesprochen, wendeten sich seine Augen auf Mike zu. Irgendwas stimmte mit ihm nicht. Er schwitzte und schien nervös zu werden.
„Ich kann nichts hören. Scheiße. Verdammt, ich kann……“ Plötzlich versagte seine Stimme.
Er bewegte seinen Mund, es kam jedoch kein Ton raus. Samuel und Bradley saßen wie versteinert auf ihren Stühlen und beobachteten Mike. Plötzlich stand Mike auf und versuchte zu schreien. Auch Bradley und Samuel standen auf und erst jetzt erkannten sie den ernst der Lage. Bradley schrie hysterisch. „Wie Tommy. Samuel. Dasselbe passierte mit Tommy. Scheiße. Scheiße. Hilfe. Kann uns jemand helfen.“
Die Gäste des Lokals standen auf und kamen an den Tisch, es traute sich jedoch niemand einzugreifen.
Plötzlich begann Mike seine Augen zu reiben. Sie schienen zu brennen. Er musste höllische Schmerzen ertragen. Samuel ging auf ihn zu und versuchte Mike zu beruhigen. Dieser jedoch rieb wie von Sinnen seine Augen und bemerkte nicht, dass er sich immer mehr Schmerzen zufügte.
„Hör auf Mike. Hör auf damit.“ Schrie Samuel.
Im nächsten Moment wurde Mike plötzlich ruhig. Er hörte auf sich die Augen zu reiben und blickte zu Samuel.
„Erinnere Dich an mich!“ Sagte Mike und hatte für diesen einen Satz seine Stimme wieder. Im nächsten Moment fiel er zu Boden. Er bewegte sich nicht mehr. Die Augen waren weit geöffnet.
Er starb.
Am nächsten Tag.
Lilian erfuhr von Bradley, was tags zuvor geschah. Sie machte sich auf die Suche nach Samuel. Sie hatte ihn ebenfalls zwei Jahre lang nicht mehr gesehen. Kurz nach dem Tod von Samuels Mutter verschwand dieser aus der Stadt und verabschiedete sich nicht einmal von seiner langjährigen Freundin. Zunächst vermutete sie, dass der Tod seiner Mutter ihn dazu brachte aus der Stadt zu verschwinden. Weg von allem, was er mit seiner Mutter in Verbindung brachte. Doch es musste ihn noch ein anderer Grund dazu bewegt haben. Früher war Lilian das begehrteste Mädchen in der Umgebung gewesen. Sie war klug, wunderschön und für jeden Spaß zu haben. Niemand verstand damals ihre Entscheidung zu Gunsten von Samuel. Dieser war sehr verschlossen und zurückhaltend. Sie betonte immer wieder, dass Samuel die schönsten und wärmsten Augen auf der ganzen Welt hätte. Sie würde sich in ihm verlieren. Mittlerweile war Lilian verheiratet und im siebten Monat schwanger. Obwohl sie immer noch in Samuel verliebt war, entschied sie sich für diesen Schritt. Sie wollte unbedingt eine Familie gründen und tat dies nun mit einem anderen Mann. Nach Stundenlanger Suche, fand sie Samuel in der Nähe seines ehemaligen Wohnhauses. Er saß auf einer Parkbank und las eine Zeitung. Ohne Worte setzte sie sich zu ihm und schaute auf die Titelseite. In großen Buchstaben stand dort. „Prostituiertenmorde. Zweites Opfer innerhalb weniger Tage.“ Ihr Blick wandte sich dem blauen Himmel zu. Es war ein wunderschöner Tag. Zu schön um über schlimme Dinge zu reden. Samuel schaute zu ihr rüber und bemerkte ihren schönen, kugeligen Bauch.
Er lächelte leicht und blickte in ihr Gesicht. Immer noch wunderschön. Er konnte das Feuer in ihren Augen erkennen. Das was er am meisten an ihr liebte. Noch immer.
„Weißt Du schon was es wird?“ Fragte er interessiert.
„Ich hoffe, es wird ein Baby.“ Antwortete sie und lächelte.
„Oh. Richtig. Ein Baby wäre nicht schlecht.“ Sagte Samuel.
„Es wird wohl ein Junge. Ist aber nicht sicher. Der Arzt sagt, etwas hängt zwischen den Beinen. Wenn er richtig sieht. So genau wusste er es aber auch nicht.“
„Das hast Du dir immer gewünscht. Ein Baby. Eine Familie..."
„Ja“ unterbrach ihn Lilian und fügte hinzu „das alles hatte ich mir mit Dir gewünscht.“
„Ich weiß. Es tut mir leid.“ Sagte Samuel und schien wirklich bedrückt zu sein. Sie nahm seine Hand und schaute ihm tief in die Augen. Er erwiderte ihren Blick und war in diesem Moment so glücklich wie seit langem nicht mehr.
„Was ist los Samuel? Was passiert hier?“ Fragte sie plötzlich ernst.
„Was meinst Du?“
„Das weißt Du ganz genau. Tommy. Mike. Deine Mutter. Deine Träume. Wo ist die Verbindung?“
„Ich weiß nicht, was Du meinst. Was für Träume?“
„Der immer wiederkehrende Traum. Wir haben einige Mal zusammen geschlafen. Falls Du dich erinnerst.“
„Ich habe keinen Schimmer.“
„Du hast im Schlaf gesprochen. Wirres Zeug. Du hast immer wieder ganz bestimmte Sätze wiederholt.“
„Was für Sätze?“
„Ich höre mit deinen Ohren. Ich spreche durch deinen Mund. Ich sehe mit deinen Augen. Ich fühle durch Dich und ich lebe in Dir. Was hat das alles zu bedeuten? Ist es ein Zufall, dass die Menschen die Dir nahe stehen auf die gleiche Art und Weise sterben? Samuel? Rede mit mir:“
„Es sind nur Zufälle. Es hat keine Bedeutung.“
„Sag nicht so was. Etwas stimmt mit Dir nicht. Was ist, wenn es mich als nächstes trifft? Ich stehe Dir auch nahe.“
„Das ist doch Blödsinn. Was soll denn sein?“
„Ich weiß es nicht. Sag Du es mir.“
Samuel schien darüber nachzudenken. Er schaute Lilian an und wusste, dass sie ein Recht darauf hatte, es zu erfahren. Anderseits wollte er nicht, dass sie ihn für verrückt hielt. Lilian war sehr geduldig und ruhig. Sie saß einfach neben ihm und wartete. Sie war sicher, dass er mit ihr reden würde. Und tatsächlich. Samuel fasste seinen Mut zusammen und begann zu erzählen.
„Als ich noch ein kleines Kind war hatte ich einen seltsamen Traum. Ein Mann in einem schwarzen Gewand und ohne Gesicht sprach aus dem Badezimmerspiegel zu mir. Er sagte merkwürdige Sachen und ich verstand zu der Zeit nichts. Ich war ja erst sieben. Erst einige Jahre später, als der Traum immer wieder kam, verstand ich worum es ging. Irgendwann änderte sich der Traum. Wobei ich mir nicht mehr sicher bin, ob es jemals ein Traum gewesen ist. Jedenfalls sprach er wieder zu mir.
Er erzählte mir, dass er ein gefallener Engel sei. Ein ehemaliger Soldat Gottes. Irgendwann kam es im Himmelreich zu einem Aufstand der Engel. Einige der Engel wollten sich gegen die Ungerechtigkeit Gottes wehren.“
„Welche Ungerechtigkeit?“
„Das Gott den Menschen die Größtmögliche Gabe schenkte. Die Selbständigkeit. Er schenkte ihnen eine Seele und überließ ihnen die Erde mit all ihren Reichtümern. Ich weiß, dass hört sich alles so unglaublich an. Ich gebe auch nur das wieder, was er mir sagte.“
„Was hat das alles mit Dir zu tun?“
„Nun, es gibt eine Möglichkeit dieselbe Macht wie Gott zu erlangen. Wir Menschen haben diese Macht bereits. Wir sind ebenso mächtig wie Gott selbst. Nur wissen wir es nicht. Unsere Seele ist das mächtigste und stärkste Element das Gott je schuf. Nur muss sie von Geburt an rein und sauber sein. Eine reine Seele bedeutet Macht. Meine Seele ist rein und mächtig.“
„Und die möchte er an sich reißen.“
Samuel nickte zustimmend.
„Hat er was mit dem seltsamen Tod der Menschen zu tun, die Dir nahe stehen?“
„Ich weiß es nicht. Einmal sagte er, ich sei für ihn erst interessant, wenn ich tot bin. Bis dahin muss ich ein vollkommenes Leben führen. Ohne jegliche Sünden. Wenn mir das nicht gelingt, wird er mich das wissen lassen.“
„Das hört sich so unglaublich an. Welche Sünden sollst Du bitte begangen haben?“
„Jeder Mensch begeht Sünden. Kleine Lilian, sei nicht so naiv. Schau Dich um.“
„Ja. Wahrscheinlich hast Du recht.“
„Ich habe auch gesündigt. Ich musste herausfinden, ob das was er sagte wahr ist. Ich suchte nach einer Möglichkeit um den Beweis zu erhalten. Man kann sich nicht vorstellen, wie leicht es ist, eine große Sünde zu begehen. Ich glaube, ich bin mittlerweile uninteressant für ihn geworden.“
„Wovon redest Du Samuel?“
„Das ganze Leben ist voller Sünden. Sie umgeben uns und sind alltäglich. Die Selbständigkeit die Gott uns schenkte, hat aus uns das gemacht was wir sind.“
„Wovon sprichst Du?“
„Sünden. Ja. Ich habe gesündigt. Dreimal. Meine Mutter ist gestorben. Tommy ist gestorben. Mike ist gestorben.“
„Was hast Du getan?“
„Lies die Zeitung!“
Geschockt und ungläubig schweiften ihre Blicke auf die Zeitung. Sie las nochmals die Titelseite:
PROSTITUIRTENMORDE. ZWEITES OPFER INNERHALB WENIGER TAGE. Parallelen zu einem Mord von vor zwei Jahren erkennbar....