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Die dunkle Stadt
Die dunkle Stadt
The City in the Sea
Lo! Death has reared himself a throne
In a strange city lying alone
Far down within the dim West,
Where the good and the bad and the worst and the best
Have gone to their eternal rest.
There shrines and palaces and towers
(Time-eaten towers that tremble not!)
Resemble nothing that is ours.
Around, by lifting winds forgot
Resignedly beneath the sky
The melancholy waters lie.
(E.A. Poe, The City in the Sea)
Die Stadt, die ich bewache, ist auf keiner Weltkarte zu finden. Schon seit zu vielen Generationen erinnern sich die Menschen nicht mehr an ihren Namen, an ihre Bewohner, oder daran, wo sie lag. Sie wissen nicht mehr, dass es sie je gegeben hat, und haben sie ins Reich der Märchen und Mythen verbannt. Da allerdings wird ihr Name fortbestehen. Das Gedächtnis der Menschheit lässt sich nicht narren.
Auch wenn die Menschen nicht mehr wissen, wo und was diese Stadt ist: ich kenne sie. Ich kenne sie besser als mich selbst. Die Stunde ihres Untergangs war die Stunde meiner Geburt.
Seit vielen Jahrhunderten schon bewahre ich ihr Geheimnis. Wie viele düstere Jahrhunderte werde ich hier sein, um die Welt da draußen vor ihrem Anblick zu bewahren? Allein, im Nichts…dafür wurde ich geschaffen.
Es gibt keine Veränderung hier, weder Verfall noch Fortschritt, nur eine ewig währende Nacht, spärlich erhellt von blutrotem Mondlicht.
Die Zeit ist ein eingefrorener Moment:
Das Meer, das die kalten Felsen umspielt, reflektiert das Licht des Mondes nicht. Glatt und schwarz liegt es da und ist in seiner Stille vom Nachthimmel kaum zu unterscheiden. Dunkle Türme und Erker ragen hoch auf, weite Kuppeln spannen sich über verlassenen Hallen. Ein kantiger Scherenschnitt gegen den fahlen Mond.
Dunkel und stumm lag die Stadt vor mir in jener Nacht vor so langer Zeit, als ich sie das Erste mal betrat, und dunkel liegt sie jetzt. Doch bisweilen scheint es mir, als ob sie nicht mehr stumm wäre. Mitunter ertappe ich mich dabei, dass ich einem Raunen lausche, das in der unbewegten Luft hängt. Dann scheint es mir, als beweine die Stadt ihr Schicksal.
Einst war es eine prächtige und wohlhabende Stadt. Voller Menschen und lebhaftem Treiben. Die Stadt lebte von regem Handel und vom Erwerb der Wissenschaften. Voller Eifer erforschte man alles, was einer Erklärung bedurfte, und Herrscher aus aller Welt suchten Rat bei den Weisen der Stadt. Dem Rat dieser Weisen saß ein Mitglied des Könighauses vor. Das Herrschergeschlecht stand im Ruf, die klügsten und geistreichsten Denker der Welt hervor zu bringen.
Doch eines Tages forderte der Herrscher der Stadt in törichtem Stolz meinen Meister heraus. Darüber geriet er so in Zorn, dass er den Untergang der Stadt heraufbeschwor, und sie aus dem Gedächtnis der Menschen löschte. Daraufhin schuf er mich und schickte mich hierher, damit ich die Versiegelung der Stadt auf alle Zeit aufrecht erhalte.
Das ist alles, was ich über die Geschichte dieser Stadt weiß. Es hat mich auch bisher nie berührt oder interessiert: Die Gründe des Meisters sind nicht hinterfragbar.
Aber seit ich dieses Flüstern höre, dieses klagende Seufzen… Was hat meinen Meister so sehr erzürnt? Welcher unselige Frevel hat zu der Verbannung dieser Stadt aus der Geschichte der Menschheit geführt? Und damit auch zu meiner einsamen Existenz an diesem trostlosesten Ort?
Wieder einmal wandere ich ziellos durch die leeren Straßen. Ich verabscheue diese Stadt, diese Insel, meine Einsamkeit. Ich verabscheue es, dass ich mich einsam fühle. Immerhin verdanke ich der Einsamkeit meine Existenz. Ich habe nicht das Recht, mich zu beklagen. Die Gründe des Meisters sind nicht hinterfragbar.
Wie so oft in letzter Zeit suche ich nach Hinweisen auf das Schicksal der Stadt. Es hilft mir, der Einsamkeit zu entfliehen. Ich durchstreife ruhelos Gassen und Winkel, betrete Häuser, deren dunkle Fensterlöcher stumm in die ewige Nacht starren. Ich gehe durch verlassene Zimmer, tanze durch spiegelbehangene Ballsäle, erforsche die Reliefs in den düstersten Winkeln der Tempel.
All das habe ich schon oft ergebnislos getan.
Ich wälze Stammbäume, durchforste Chroniken und Berichte. Umsonst. Doch ich gebe nicht auf.
Ich laufe den Hügel hinauf in die herrschaftlichen Gärten und betrete die Gebäude des Palasts. Zum ersten Mal wage ich mich in den einst prächtigen Mittelflügel. Eine Bildergalerie zieht kurz meine Aufmerksamkeit auf sich. Die Herrscher auf ihren Portraits schauen blicklos in ferne Zeiten. Das letzte Portrait ist seines Gesichts beraubt worden.
Eine breite Treppe führt hinauf in den ersten Stock. Dort finde ich die Gemächer der Herrscher, die ich solange gesucht habe. Und endlich, endlich finde ich heraus, wer der letzte Herrscher der Stadt war.
Königin Ligeia. Ihr Name steht auch auf dem kleinen, grünen Buch, das neben dem Bett liegt. Ich hebe es auf und will es gerade aufschlagen, als mir mein Gefühl sagt, dass es Zeit wird, die Zeremonie des Versiegelns durchzuführen, und ich begebe mich in den höchsten Turm der Stadt.
Der Ablauf der Bannzeremonien gibt mir so etwas wie einen regelmäßigen Rhythmus vor an einem Ort, an dem es weder Tag noch Nacht, noch Stunden gibt, nur einen einzigen, in die Ewigkeit gestreckten Moment.
Ich warte. Nach einer Weile spüre ich, wie sich die Energie um mich sammelt und sich über meiner Stirn konzentriert...
Nach Vollendung des Versiegelns nehme ich Ligeias Buch wieder zur Hand und beginne zu lesen. Ligeia hat darin alles Erdenkliche aufgeschrieben, Wissenschaftliches, Politisches, Philosophisches. Kaum Privates. Die Aufzeichnung beginnt am Tage ihrer Amtseinsetzung, der auch das Datum ihres 18. Geburtstages ist. Ihre Aufzeichnungen lassen enorme Bildung und einen klugen Kopf erkennen, mehr noch aber eisernen Willen. Lange Zeit lese ich, fasziniert von den Gedanken dieser ungewöhnlichen Person.
Doch je älter sie wird, desto häufiger beklagt sie ein besonderes Problem, für das sie keine Lösung findet:
“ Ich herrsche nun seit 25 Jahren gerecht über mein Volk. Mein Wissen übertrifft das eines jeden anderen Menschen, und niemand wird in dieser Welt höher geschätzt als ich. Mein Rat ist wertvoll, mein Willen stark. Und doch erzittere ich Nachts vor Angst, jagt ein Albtraum den anderen, denn ich weiß, dass ich eines Tages sterben werde, und dass dann all meine Weisheit umsonst gewesen sein wird. Denn diesem Einen, dem grausigem Schnitter, kann ich mich nicht widersetzen. ”
Nachdenklich lasse ich das Buch sinken. Haben die Menschen wahrhaftig so viel Angst vor meinem Meister? Ist er nicht oft gütig und sanft zu den Menschen?
Meine Pflicht ruft.
Ich kann mir nicht helfen, ich muss das Buch weiterlesen. Gerade vorhin, als ich die Bannsegnung gesprochen habe, war da dieser kühle Hauch in meinem Nacken, und als ich aufblickte, glaubte ich für einen Moment, die Vorhänge an den Fenstern des Tempels bauschten sich im Wind. Doch es gibt hier keinen Wind. Es gibt nur Stille.
Ich kehre also zurück in die Gemächer der Königin, und lese weiter. Immer wieder kommt Ligeia auf den Tod zu sprechen, und mit den Jahren wird ihr Ton zunehmend verzweifelter.
“ Dass all mein Leben umsonst gewesen sein soll! Wut packt mich, wenn ich an meine Hilflosigkeit denke! Habe ich nicht für alles eine Lösung gefunden? Warum nicht dafür? Warum Sterben? Mein verräterischer Körper wird mich im Stich lassen, während mein Wille bestehen bleibt. Oh grausames Schicksal des Menschen! Wenn ich mit den Priestern spreche, dann sagen sie mir, ich solle eine Familie gründen, dann würde ich in meinen Nachkommen weiterleben... Diese Narren! Mein Geist wird sterben, meine Seele. Um meinen Körper gräme ich mich nicht. ”
Mich schaudert bei diesen Worten: Wie sehr sie sich selbst das Leben vergiftet hat!
Einige Seiten weiter stoße ich auf eine Passage, die mein Blut gefrieren lässt.
“ Ich habe wegen eines Problems mit den Opfergaben den Tempel aufgesucht, um zu beichten. Doch der Priester war noch nicht da, und so vertrieb ich mir die Zeit, indem ich die Malereien und Steinfiguren an den Wänden betrachtete. Dabei stieß ich auf ein geradezu unheimliches Relief, das von einem Buch der Toten spricht. Ich prägte es mir gut ein, und ging in meine Bibliothek, denn ich war mir sicher, dieses Relief schon einmal gesehen zu haben. Ich täuschte mich nicht: In einem Werk über die uralte Architektur des Tempels stieß ich auf eine Beschreibung genau dieses Reliefs. Es zeige, so sagt es das Buch, den Eingang eines Geheimganges an, an deren Ende das Buch der Toten versteckt sei. Und in ihm: Das Geheimnis des Lebens!”
Fieberhaft blätterte ich weiter. War sie wirklich so dumm gewesen zu glauben…?
“ Ich habe das Buch gefunden! Das Buch der Toten ist in meinem Besitz! Ich kann es noch kaum fassen. Ich werde ewig leben... Ich werde ewig leben!
Der Geist muss gestählt werden, hart wie Eisen, um dem Herrn des Totenreichs entgegentreten zu können. Ich halte mich an diese Angaben. Ich stähle meinen Willen. Ich werde dem Tod entgegentreten. Hier steht es: "Der Mensch erleidet nichts, und sei es der Tod, außer er lässt es zu, mit der Angst seines schwachen Willens!"
Ich habe das Datum meines Todes errechnet. Es ist nicht schwer, wenn man die Formel kennt, ist es erstaunlich, wie einfach das geht. Jeder könnte das.
Mir bleibt noch Zeit, und ich werde sie nutzen.”
Das Buch fällt aus meinen zitternden Händen. Ligeia hat sich für alle Zeiten verdammt.
Ein heißer Strom erfüllt meinen Geist. Ich spüre die Anwesenheit meines Meisters. Er lässt mich sehen…
Der goldgeschmückte Raum ist ohne Zweifel der der Königin. Fackeln und Kerzen sind gelöscht. Nur ein Kaminfeuer glimmt noch und legt einen roten Schimmer über die Szene. In der Mitte des Raumes steht hocherhobenen Hauptes Königin Ligeia. Alt geworden, mit grauen Haaren und faltigem Gesicht, aber aufrecht wie ein junger Baum steht sie da und hebt trotzig ihr Kinn. “Der Mensch erleidet nichts, und sei es der Tod, außer er lässt es zu mit der Angst seines schwachen Willens!” Ihre Stimme ist brüchig vom Alter, aber deutlich und entschlossen. Hinter ihr reißt ein Windstoß knallend die Fensterläden aus den Angeln. Der Wind wirbelt durch den Raum, zerrt das graue Haar der Königin aus dem Knoten an ihrem Hinterkopf und lässt es wirr um ihren Kopf flattern. Das Kaminfeuer duckt sich einen Moment hinter die Holzscheite, bevor es wieder auflodert.
Ein zweiter Windstoß wirft die hohen, eisenbeschlagenen Doppeltüren auf. Dahinter droht, verschwommen und schrecklich, mein Meister.
Seine flammenden Augen bohren sich tief in die Ligeias. Seine Stimme rollt hohl und donnernd durch den Raum: “Deine Zeit ist gekommen, Ligeia. Folge mir jetzt in mein Reich.” Die Stimme duldet keinen Ungehorsam. Zu geduldig ist der Tod mit ihr schon gewesen. Doch Ligeia starrt dem Tod stumm in die Augen und bewegt sich nicht. Ihr eisenharter Willen drückt sich in ihrem angespannten Körper aus: Nein.
Der folgende Kampf ist stumm. Ligeia schwankt wie ein Schilfrohr in dem Sturm, der sich um sie erhebt. Doch ihr Wille ist unbeugsam, sie hält ihre Seele fest umklammert, und keine sengende Hitze, keine froststarre Kälte, keine Drohung und keine Verheißung kann sie ihr entreißen. Die schrecklichen Augen des Todes bestürmen ihren Willen, aber die Königin ergibt sich nicht: Er wird ihre Seele nicht bekommen.
Da lacht der Tod. Grausam und hohl klingt es, wogt es durch den Raum und lässt die Königin endlich erzittern. “ Du willst mich besiegen? Willst Deine kleine Seele behalten, Ligeia? So sei es!”
Der Sturm heult auf, noch tosender und wilder als zuvor. Die Vorhänge werden aus den Fenstern gerissen und flattern wie dunkle Todesboten in die wirbelnde, saugende Nacht hinaus.
Der Sturm braust durch Straßen und Gassen, durch Gärten und Säle; er fegt alles Leben ins Nichts. Flehen und Schreien vergehen in seinem rasenden Gebrüll. Dann ist es still. Das Feuer erlischt, und eine endgültige Dunkelheit senkt sich über die Stadt.
“So bleibe denn hier. An der Stelle Deiner Seele nehme ich das Leben, die Seelen, die Erinnerung an deine Untertanen, die Du mit Deinem Stolz meinem Willen auslieferst. Du aber bleibst hier, in alle Ewigkeit. Ohne Erinnerung an dein Leben, in körperlosem Vergessen. Im Nichts!”
Die Szene verblasst. Hin und Hergerissen vom Mitleid mit den Bewohnern der Stadt und dem gerechten Zorn auf die Königin, den ich mit meinem Meister teile, starre ich auf den erloschenen, kalten Kamin.
Noch anderer Zweifel nagt an mir: Hat mein Meister wirklich gerecht gehandelt? Ich möchte gerne sagen: Nein! Aber ich wage es nicht. Die Gründe des Meisters sind nicht hinterfragbar. Ich bin ein Teil von ihm.
Nach einer Weile erhebe ich mich und gehe hinunter zum Hafen. Dort sitze ich und schaue auf das schwarze, glatte Meer hinaus.
Ein leiser Windhauch umspielt mich, und ein verständnisheischendes trauriges Raunen kitzelt mich in meinem Ohr.
Ich beschließe, ihr einen Teil ihrer Erinnerung zurück zu geben.
“Ich grüße Dich, Ligeia”, flüstere ich in die ewige Nacht. Sind wir nicht beide einsam?