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Die Eigentumsfrage

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22.09.2001
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Die Eigentumsfrage

Die Eigentumsfrage
von Marco Fenner

“Geben Sie mir den Kugelschreiber!”
“Nein, warum sollte ich? Es ist schließlich mein Kugelschreiber!”
“Man hat uns den Kugelschreiber angeboten und ich habe ihn zuerst an mich genommen - also ist es mein Kugelschreiber.”
“Irrtum! Es ist nicht ihr Kugelschreiber. Sie haben ihn doch weggeschmissen!”
“Ich habe ihn nicht weggeschmissen, er ist mir nur heruntergefallen.”
“Heruntergefallen? Kein Kugelschreiber fällt von selbst herunter. Ich werde ihnen sagen, wie es war: Sie haben sich den Kugelschreiber angeschaut und festgestellt, dass er nicht ihren Geschmack trifft. Sie wollten diesen Kugelschreiber nicht und mir haben Sie den Kugelschreiber auch nicht gegönnt. Deshalb - und nur deshalb - haben Sie ihn weggeschmissen. Sie dachten wohl, dass ich das nicht bemerken würde?”
“Frechheit! Natürlich wollte ich diesen Kugelschreiber. Er hat mich von Anfang an fasziniert.”
“Fasziniert?”
“Ja, fasziniert!”
“Was finden Sie denn so faszinierend an einem Kugelschreiber?”
“Wie? Das fragen Sie noch? Haben Sie sich denn noch nie Gedanken darüber gemacht, was ein Kugelschreiber alles kann? Er kann zum Beispiel ...”
“Schreiben!?”
“... schreiben, richtig.”
“Ich glaube, dass sie mich hier verarschen wollen. Ein Kugelschreiber kann schreiben - faszinierend. Das haut mich glatt um. Das ist ja so genial - ich werde gleich morgen damit vor die Presse treten und feierlich verkünden, dass man mit einem Kugelschreiber schreiben kann.”
“Diese Tatsache ist durchaus etwas besonderes. Das Problem ist nur, dass es für uns schon zu selbstverständlich ist. Man benutzt zum Schreiben einen Kugelschreiber...”
“Na, und?”
“Ok, ich versuch’s mal anders. Was wäre, wenn es keine Kugelschreiber geben würde?”
“Naja, ich denke mal, dass wir mit Bleistiften schreiben würden - oder mit Tintenfüllern.”
“Richtig. Das wäre doch ziemlich unpraktisch. Ein Kugelschreiber ist eine geniale Erfindung - das müssen sie zugeben!
Da ist zunächst dieser kleine Knopf am oberen Ende. Wenn man auf diesen Knopf drückt, kommt auf der anderen Seite eine Miene herausgefahren. Drückt man nochmals auf diesen Knopf, verschwindet die Miene wieder. Man kann einen Kugelschreiber also ein- und ausschalten - und das so oft, wie man will. Es besteht also zu keiner Zeit die Gefahr, dass man versehentlich seine Kleidung mit Farbe beschmutzt, wenn man den Kugelschreiber im ausgeschalteten Zustand beispielsweise in der Hosentasche mit sich herumträgt.”
“Es besteht auch zu keiner Zeit die Gefahr, dass er in der Nase stecken bleibt, wenn man ihn hinter’m Ohr trägt.”
“Die meisten Kugelschreiber verfügen außerdem noch über einen Clip am oberen Ende. So hat man die Möglichkeit, ihn jederzeit irgendwo zu befestigen.”
“Zum Beispiel im Mülleimer.”
“Wenn einmal die Miene nicht mehr schreibt, weil sie aufgebraucht ist, kann man auch eine neue Miene einsetzen. Ein Kugelschreiber ist also wiederverwendbar. Man kann mit ihm unterschreiben, dann ist die Unterschrift fälschungssicher. Die Farbe aus dem Kugelschreiber kann man nämlich nicht so leicht radieren.”
“Sie sind ja ein ganz pfiffiges Kerlchen. Was sie so alles über Kugelschreiber wissen... Alle Achtung! “
“Tja, da kommen sie aus dem Staunen nicht mehr raus, was? Zum Schluss möchte ich ihnen noch etwas zeigen. Schauen sie mal. Hier .... Moment - wo ist der Kugelschreiber denn jetzt?”
“Ähm, hehe, ich ... ähm ... wollte nur mal seh’n, ob vielleicht doch die Gefahr besteht, dass man sich die Kleidung mit Farbe beschmutzt...”
“Das ist ja wohl eine Frechheit. Ich versuche die ganze Zeit ihnen etwas Wissen und Bildung beizubringen und sie klauen meinen Kugelschreiber. Her damit...!”
“Es ist nicht ihr Kugelschreiber. So weit waren wir schon.”
“Ich habe eine ganz andere Beziehung zu Kugelschreibern wie sie, sie Banause!”
“Nur, weil sie ganz genau wissen, wie so’n Ding funktioniert? Ha! Da lach’ ich doch drüber!
Meinetwegen können sie meinen Kugelschreiber behalten. Ich lege sowieso keinen Wert darauf. Ich mache doch keine Werbung. Seh’n sie? Hier - diese Werbeaufschrift hat mich sowieso gestört.
Wissen sie was? Ich schenke ihnen meinen Kugelschreiber!”
“Sie meinen wohl, dass sie mir meinen Kugelschreiber nun doch nicht wegnehmen wollen? Jetzt soll ich wohl noch dankbar dafür sein, dass sie mich nicht bestohlen haben?”
“Sind sie denn jetzt total bescheuert? Natürlich können sie dankbar dafür sein, dass ich ihnen den Kugelschreiber überlasse. Mit Diebstahl hat das aber nichts zu tun - eher etwas mit Großzügigkeit. Ich habe nämlich eine viel persönlichere Beziehung zu Kugelschreibern wie sie!”
“So?”
“Nachdem ich damals sieben Tage in Tibet war, konnte ich meine Schwester sagen hören wie sie zu meinem Onkel sagte, dass sie zwölf Kekse gegessen hatte. Das war normalerweise nichts ungewöhnliches. Der Dorfpfarrer hatte aber schon einen Tunnel gegraben, sodass meine Schwester trotz ihres Gewichts die große Mauer umgehen konnte. Mein Onkel konnte meine fette Schwester, die auch heute noch jede Stunde zwölf Kekse isst, unmöglich über die Mauer heben.”
“Hä?”
“Wie dem auch sei - Ich war ja damals sieben Tage in Tibet gewesen... Kennen sie eigentlich den Film?”
“Der hieß aber Sieben Jahre in Tibet!”
“Egal - Ich war also sieben Tage in Tibet und ich kann ihnen sagen - das schlaucht ganz schön!
Ich war also völlig fertig, als ich wiederkam. Aber was blieb uns anderes übrig? Wir schnappten uns meine Schwester und gingen zum Tunneleingang. Ich fragte den Dorfpfarrer, wo dieser Tunnel wohl hinführen mag. Er sagte nur, dass ich mal über die Mauer schauen sollte - dann wüsste ich wo der Tunnel endet.”
“Und? Wo führte der Tunnel hin?”
“Nun warten sie doch...
Wir begannen also meine Schwester durch den Tunnel zu stopfen. Das war gar nicht so leicht, denn meine Schwester blieb alle paar Meter stecken und wir mussten immer etwas von den Tunnelwänden abkratzen. Gegen Mittag hatten wir die halbe Strecke hinter uns gebracht. Nach einer kurzen Pause ging es weiter. Wir hörten plötzlich ein komisches Geräusch. Mein Onkel meinte, dass es nur die U-Bahn im Nebentunnel sei.
Es war doch ein wenig unheimlich. Es machte immer klick, klick, klick.”
“War es vielleicht eine Computermaus?”
“Tja, das hab’ ich auch gedacht. Es hörte sich nach der rechten Maustaste einer Computermaus an. Aber wir mussten schon bald feststellen, das es war etwas ganz anderes war.
Als meine Schwester dann sagte, dass sie schon ein Licht am Ende des Tunnels sehen konnte, sagte der Pfarrer, dass es bald so weit ist. Nicht mehr lange und wir wären auf der anderen Seite. Es dauerte dann aber noch vier Stunden.
Dann waren wir endlich da. Meine Schwester steckte jedoch noch am Ausgang fest. Sie strampelte mit den Beinen. Es war die Hölle. Ich bekam ihren linken Fuß ins Gesicht.
Schau’n sie mal, die Narbe habe ich immer noch. Ich musste dann auch gleich ins Krankenhaus...”
“Nun bleiben sie mal beim Thema - Was war denn nun auf der anderen Seite?”
“Als meine Schwester endlich nicht mehr den Ausgang mit ihrem fetten Hintern versperrte, konnten wir wieder das Tageslicht sehen. Tageslicht kann man eigentlich nicht sagen, denn wir befanden uns plötzlich in einer großen Halle. In den Wänden waren kleine Löcher gebohrt, durch die ein wenig Tageslicht schien. Von der Decke hing eine Glühbirne, die den Raum in ein eigenartiges Licht tauchte. In der Mitte des Raumes stand ein Tisch. Auf dem Tisch lag...”
“Was lag dort?”
“Auf dem Tisch lag ein Kugelschreiber. Jeder von uns wollte nun diesen Kugelschreiber haben. Wir spielten darum eine Runde Skat. Meine Schwester gewann und bekam somit den Kugelschreiber.
Ich war sehr enttäuscht angesichts der Strapazen, die ich auf mich genommen hatte, um diesen Kugelschreiber zu bekommen. Klar - anfangs wusste ich gar nicht, was mich am anderen Ende des Tunnels erwarten würde, aber den Kugelschreiber musste ich einfach haben.
Ich habe danach auch nie einen anderen Kugelschreiber besessen.”
“Oh, das ist aber eine traurige Geschichte. Ich glaube, ich möchte den Kugelschreiber eigentlich doch nicht haben ... obwohl ... ähm ...”
“Ja?”
“Ich habe eigentlich auch etwas ähnliches erlebt.”
“Interessant. Was denn?”
“Also - es muss Anfang der Achtziger Jahre gewesen sein. Ich war damals noch Auszubildender. Ich hatte gerade meine Lehre bei einer Papierfabrik begonnen. Wir stellten holzfreies, weißes Papier her. Ich war gerade der Abteilung Endkontrolle zugeteilt worden. Wir prüften, ob das Papier auch wirklich makellos war, bevor es in den Versand ging.
Es war nach der Mittagspause, als plötzlich der Alarm ausgelöst wurde. Es ertönte eine Sirene und in der gesamten Werkhalle wurde die Notbeleuchtung eingeschaltet. Wir waren anscheinend getroffen worden.”
“Getroffen? Warum? Von wem?”
“Sie müssen wissen, dass unsere Papierfabrik damals eine kriegsähnliche Auseinansetzung mit der Bleistift- und Tintenschreiberfabrik hatten. Keiner weiß heute mehr so genau, wann und warum dieser Krieg angefangen hatte. Eigentlich war es schon immer so, deshalb musste es auch weitergehen.
Naja, jedenfalls wurde der Alarm ausgelöst und wir waren bereits getroffen worden. Im Lager, wo wir zu damaliger Zeit noch rnd. 3 Tonnen holzfreies und weißes Papier eingelagert hatten, wurde durchs offene Fenster ein Tintenfass geworfen. Wir konnten nichts mehr machen. Sämtliches Papier im Lager viel diesem feigen Anschlag zum Opfer. Alles Papier war mit blauer Tinte verschmiert.
Wir haben daraufhin das Lager versiegelt, da die Gefahr bestand, noch mehr Papier zu verlieren.
Als ich dann aus dem Fenster schaute, sah ich sie...”
“Wen sahen sie?”
“Ein Armee von Bleistiften. Sie kamen direkt auf uns zu. Sie waren mit Tintenfässern bewaffnet. Der Himmel verfinsterte sich. Ich konnte noch erkennen, wie sie geradewegs die Straße überquerten. Vor dem großen Tor blieben sie stehen. Ein großer Bleistift, der sich selbst “2H” nannte, teilte uns mittels Megafon mit, dass wir uns ergeben sollten. Die ganze Fabrik gehöre ab sofort der Bleistift- und Tintenschreiber AG.”
“Was haben sie dann getan?”
“Wir haben uns natürlich nicht ergeben. Es kam zum Kampf. Wir hatten viele tintenverschmierte Opfer zu beklagen, aber auch viele Bleistifte blieben mit gebrochenen Mienen auf dem Schlachtfeld zurück. Es war ein grausames Gemetzel.
Plötzlich erschien am Himmel ein grelles Licht. Wir schauten alle nach oben. Auch die Bleistiftler schauten in den Himmel. Die Lichtstrahlen vertrieben die dunklen Wolken und eine fliegende Untertasse, die aus dem hellen Licht zu kommen schien, schwebte vom Himmel. Die Untertasse landete wenige Meter von uns entfernt auf einer Wiese. Dann öffnete sich die Tür des ungewöhnlichen Flugobjekts.
Aus der Tür kam...”
“Das wird ja immer verrückter!”
“Aus der Tür kam ein großer Kugelschreiber.
Er sah eigentlich aus wie ein ganz normaler Kugelschreiber. Es war nichts ungewöhnliches an ihm zu erkennen. Lediglich seine Größe unterschied in von den anderen Kugelschreibern. Er war ca. 2,50 Meter groß.
Der Kugelschreiber sprach zu uns. Er sagte, dass er uns den Frieden bringen wollte.”
“Und?”
“Nun, das hat er letztendlich auch geschafft. Er hatte eine kleine Box mitgebracht und wir mussten uns alle um diese Box versammeln. Der Kugelschreiber öffnete dann den Deckel der Box und... tatsächlich lag in der Box Frieden! Er nahm ein Stück Frieden heraus und brach es in mehrere Teile. Dann verteilte er die Teilchen an alle Anwesende. Alle bekamen ein kleines Stück; Auch die Bleistiftler. Das konnte ich zunächst gar nicht verstehen, schließlich hatten die Bleistiftler nur Unheil über uns gebracht. Nachdem jeder ein Teil von dem Frieden erhalten hatte, war endlich Frieden eingekehrt. Wir feierten mit den Bleistiftlern noch bis spät in die Nacht. Keiner von uns bemerkte, dass der Kugelschreiber schon längst wieder fort war.”
“Oh, jetzt kann ich sie verstehen. Behalten sie den Kugelschreiber! Ich kann sehr gut verstehen, warum er ihnen so wichtig ist.”
“Ja, er ist mir wichtig, aber ich möchte, dass Sie ihn behalten.”

Epilog
Die beiden konnten sich letztendlich nicht entscheiden, wer den Kugelschreiber nun behalten soll. Kurz bevor der Streit wieder eskalierte, kam eine dritte Person hinzu. Sie hatte den Dialog von Anfang an verfolgt. “Hier habt ihr beide einen Kugelschreiber”, sagte sie. Auf den Kugelschreibern stand:
“Psychiatrische Anstalt ‘Zum Geistesblitz’, Bahnhofstraße 4, Telefon und Fax: 1345”


Ende.

(c) M.Fenner /
Fennerweb.de

 

Hallo Marco,

Hast du zufällig den Namen und die Adresse der dritten Person? Ich möchte sie in den Hintern treten, weil sie auf so hinterhältige Art und Weise diesen interessanten Streit beendet hat. (In die psychiatrische Anstalt traue ich mich nicht, um da nachzufragen, die behalten mich womöglich gleich da.)

Ehrlich, ich hätte noch stundenlang diesem Obernonsens zuhören können. Da ist nichts verkrampft Lustiges, nichts übertrieben "an den Haaren herbeigezogenes", einfach zwei Spinner, die ihre Phantasien freilassen. Locker leichte Kost, die vom Alltag ablenkt, guter Stil.
Deine erste Geschichte hier hat mir gut gefallen, darum ein erfreutes: "Herzlich willkommen" von mir.


Gruß.....Ingrid


PS: gut zeichnen kannst du auch noch, alle Achtung.

 

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