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Die einsame Witwe
„Haben sie einen Beruf?“
„Freischaffender Künstler!“
„Auf welchem Gebiet?“
„Ich bin Bildhauer.“
„Interessanter Beruf! Da hat man bestimmt viel Freizeit.“
“Hält sich in Grenzen.“
„In Ordnung, das wäre dann erstmal alles. Sobald wir näheres wissen, werden wir sie benachrichtigen.“
„Dankeschön, Herr Kommissar.“
Die beiden Männer beendeten das Gespräch und standen auf.
Sie hatten am Tisch neben einer kleinen Kochnische gesessen. Nun gingen sie durch ein warm eingerichtetes Wohnzimmer zur Eingangstür der Wohnung. Der Kleinere der beiden, Johann Ebor, öffnete sie. Ein eisiger Wind zog hinein.
„Verdammte Kälte!“, fluchte der Größere.
Johann reagierte nicht. Er starrte nach draußen auf die weißen, unendlich wirkenden Felder.
„Na dann, ruhen sie sich aus. Legen sie sich hin. Wir werden sie schon finden.“
„Danke.“ Mehr fiel ihm im Moment nicht ein.
Mit einem Nicken verabschiedete sich der Polizist. Er ging den kleinen Weg, der durch den Vorgarten führte, entlang zum Bürgersteig. Johann sah ihm nach, bis er hinter der Hecke, die sein heiles Stück Natur von der grauen Realität des Menschen trennte, verschwunden war.
Gedankenverloren lies Johann die Türe ins Schloss fallen. Dann ging er zurück ins Wohnzimmer, lies sich in den Sessel sinken, seufzte kurz, nahm sich die Fernbedienung vom Tisch neben sich und schaltete den Fernseher an.
Reality-Soaps, Talkshows, langweilige Reportagen, deprimierende Nachrichten einer kaputten Welt.
Er schaltete den Fernseher, nachdem er alle Kanäle zweimal durchforstet hatte, wieder aus.
Er beschloss, für einen kurzen Moment die Augen zu schließen, um nach zu denken. Aus dem kurzen Nachdenken wurde schließlich doch ein längeres Nickerchen.
Das penetrante Klingeln, das seine Frau ausgesucht hatte, riss Johann aus seinen Träumen.
12:30 vermittelte ihm die Digitalanzeige an seinem Videorekorder.
„Scheiße“, sagte er zu sich selbst. Noch etwas verschlafen taumelte er zur Tür rüber. Durch die kreuzförmige Glasscheibe in der Tür konnte er Teile eines dicken Gesichts mit Hornbrille und ein wenig einer übergroßen Daunenjacke erkennen. Die macht ihn mindestens doppelt so dick, dachte er sich und öffnete die Tür.
„Ebor? Johann Ebor?“, fragte der Mann.
„Bin ich! Was gibt’s?“ Er hatte keine Lust zu reden.
„Hi, mein Name ist Franz Gerd. Ich hatte angerufen, wegen der Statue.“, bibberte er.
„Ach ja! Kommen sie doch erstmal rein.“
Der Mann trat in den Flur ein, hängte seine Daunenjacke an einen der Haken an der Wand und zog seine Handschuhe aus. Johann hatte recht gehabt, die Jacke machte ihn doppelt so dick, als er sowieso schon war.
„Irgendwas zu trinken? Kaffe, Tee oder so was?“, fragte Johann während er in die Küche ging.
„Nein, danke. Ich hab’s eilig. Weihnachtsstress!“
Johann blieb vor dem Küchentisch stehen.
„Über den Preis hatten wir gesprochen?“
„Ja, ja, ist alles in Ordnung!“
„Okay, dann folgen sie mir mal auf die Terrasse.“
Johann ging durch das Wohnzimmer auf eine Glastür zu, die offensichtlich auf die Terrasse führte. Sein Kunde folgte ihm.
Die Terrasse war mit roten Plastersteinen bedeckt. An sie schloss ein kleiner Garten an. Der Rasen war wild gewachsen und in ihm wucherten Gänseblümchen. Das Einzige, was für ein wenig Abwechslung sorgte, war ein eckiger Steinbrunnen, in dessen Mitte eine Wasserfontäne, ebenfalls aus Stein, in die Höhe ragte.
Johann fiel auf, dass der Mann den Brunnen musterte.
„Gefällt er ihnen?“
„Ja, wunderschön!“
„Schauen sie ihn sich ruhig aus der Nähe an. Er ist aber nicht zu verkaufen. Er gehört meiner Frau.“
Das Angebot lies sich der Mann nicht entgehen und eilte sofort zum Brunnen. Er sah pummelig und tollpatschig aus bei dem Versuch sich zu beeilen.
„Handarbeit?“, fragte der Mann.
„Ja, den hab ich letztes Jahr gemacht.“, antwortete Johann.
„Unglaublich. Und die Fontäne ist zu präzise gearbeitet … und das Becken!“
„Danke, danke. Wollen sie jetzt ihre Statue sehen?“
„Natürlich, ich folge ihnen.“
Sie gingen zurück auf eine weiß lackierte Metalltüre zu.
Sie quietschte beim Öffnen.
„Das hier ist mein Atelier!“, verkündete Johann stolz. Als er das Licht in dem kalten Betonbau anmachte, konnte man dies sehen.
An den Wänden waren Regale angebracht für die unterschiedlichsten Werkzeuge. In der Mitte des Raums stand ein kleiner Holzhocker vor einem riesigen Steinklotz.
„Interessant“, bemerkte der Mann „aber wofür braucht ein Bildhauer einen Betonmischer?“
In der hinteren Ecke standen ein Mischer und einige Säcke Zement.
„Der ist nicht speziell für meinen Beruf. Dient eher privaten Zwecken.“
„Verstehen sie das nicht falsch, ich war nur neugierig.“, entschuldigte sich der Mann, der bemerkte, dass es dem Künstler unangenehm war.
Der Mann schlenderte durch den Raum. Johann beobachtete ihn. Schritt für Schritt.
Plötzlich blieb der Mann vor einem weißem Lacken stehen, das etwas verbarg.
„Ist sie das?“, fragte der Mann aufgeregt.
Johann nickte zufrieden und stellte sich neben den Mann. Vorsichtig zog er das Lacken herunter.
„Mir fehlen die Worte.“
„Gefällt sie ihnen?“
„Sie ist einfach unglaublich.“
Unter dem Lacken war eine graue Statue einer Frau zum Vorschein gekommen. Das Gesicht, mit weit aufgerissenem Mund und riesigen Augen, nach vorne gerichtet, die Arme nach vorne ausgestreckt.
In dem schummrigen Licht, welches die einzige Glühbirne in der ohnehin schon kalten Atmosphäre erzeugte, spiegelte die Statue in diesem Moment alles Schreckliche wieder, was man sich nur hätte ausmalen können.
„Faszinierend! Wie soll das Werk heißen?“
„Ich nenne es …“, Johann dachte kurz nach, „Ich nenne sie Die einsame Witwe“
„Unglaublich.“
Johann legte wieder das Tuch über die Statue. Dann ging er zur hinteren Wand.
Jetzt fiel dem Mann auf, dass dies keine Wand war, sondern ein Tor. Dies hier war eine Garage.
„Fahren sie mit ihrem Wagen vor die Garage! Ich helfe ihnen beim Beladen.“
„Ach Johann? Ich darf sie doch so nennen oder?
„Sicher! Was ist denn?“
„Könnten sie mir noch meine Jacke bringen? Ich habe sie wohl drinnen vergessen.“
„Kein Problem“
Johann öffnete das Tor. Der Mann nickte zufrieden und ging hinaus auf die asphaltierte Auffahrt.
Johann wartete, bis der Mann mit einem 94er Chevy vorgefahren kam. Er parkte rückwärts ein, sodass das Beladen keine Herausforderung war.
Nachdem die beiden in mühevoller Arbeit die Statue auf der Ladefläche des Chevy platziert hatten und der Mann seine Jacke wieder hatte, stellte er Johann noch eine letzte Frage:
„Sagen sie mal, wo ist eigentlich ihre Frau? Ich hätte sie gerne mal kennen gelernt. Sie klang so nett am Telefon.“
„Tja“, antwortete Johann, „mein Frau ist zur Zeit auf einer Reise. Ich schätze, das mit dem Kennenlernen müssen wir verschieben … zumindest vorläufig.“
„Na gut, aber richten sie ihr trotzdem ´nen schönen Gruß aus. War nett mit ihnen Geschäfte zu machen! Frohe Weihnachten und ´nen guten Rutsch ins neue Jahr.“
„Danke gleichfalls.“
Mit einem Händedruck verabschiedeten sich die beiden. Der Mann setzte sich ins Auto, lies den Motor an und fuhr weg. Als er hinter der Hecke verschwunden war, zog Johann das Garagentor zu, ging ins Haus, setzte sich in den Sessel, grinste zufrieden und zündete sich eine Zigarette an.