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Die Einsamen
Von der Nacht zum Tag
"Du hast mir einmal gesagt, du könntest mich nie lieben!"
Fabian hockte mit dem Kopf an die Wand gelehnt auf dem Bett und starrte ihrem Muttermal entgegen. Es verziehrte Taras Rücken, ein wenig unterhalb des Schulterblattes. Sie war nackt, nur die Füße wurden von einer dünnen Wolldecke verborgen. Manchmal zappelte ein Zeh darunter hervor, bewegte sich kurz und verschwand wieder, als wollte er sagen: " Hey, ich lebe noch!" Ansonsten lag sie dort völlig still; Fabian konnte nicht einmal den gewöhnlichen Rythmus des Atems erkennen. Weder an ihrer Bewegung, noch an dem Ton. Er war für ihn nicht vorhanden. Als läge dort vor ihm eine nackte Leiche, die gestern Abend beim Sex mit ihm noch laut aufgeschrien und sich wie ein wildes Kannickel verhalten hatte und heute beinahe ohne jedes Lebenszeichen dort lag. Fabian bewegte seine Finger um zu sehen, ob er selbst noch lebte.
"Ich kann niemanden lieben!", sagte er und rückte an den Bettrand, bis er auf der Kante saß und seine Füße den kalten gefliesten Boden berührten. Plötzlich begannen die Möbel zu vibrieren, ein lautes Rauschen ertönte wie aus dem Nichts; es kam aus der einen Richtung und verschwand dann wieder in eine andere Richtung und mit dem Rauschen bebte die ganze Wohnung. Kurz empfand Fabian Angst; beruhigte sich jedoch sofort wieder. Die Gleise der Eisenbahn waren nur einige Meter vom Fenster entfernt verlegt worden. Als man die Wohnung errichtet hatte, war keine Acht darauf gelegt worden, das eines Tage direkt neben an Züge in hoher Geschwindigkeit vorrüber fahren würden. Und Tara hatte den Mietvertrag auch unglücklicherweise noch unterschrieben, bevor die Gleise gelegt worden waren. Es musste grauenhaft sein, dieses Geräusch Tag für Tag im Zehn-Minuten-Akkord zu ertragen. Immer wieder; als wären es lauter kurzer böser Träume, welche plötzlich am Fenster vorbei rauschten.
"Warum kannst du niemanden lieben?", fragte Tara mit gleichgültiger Stimme, während sie ihren Kopf auf dem Kissen in eine bequemere Position brachte. Fabian überlegte verzweifelt; draußen war es noch dunkel und jetzt war es in dem Zimmer wieder still. Zwischenzeitlich konzentrierte er sich darauf, seinen eigenen Atemrythmus zu hören. Er ertönte; jedoch nur schwach wie ein Radiosender mit immer wiederkehrenden Störungen. Manchmal schien der Rythmus klar zu werden, er lauschte konzentrierter; und doch hörte er den Rythmus nie ganz. "Irgendwo muss er doch sein!", dachte Fabian.
Daraufhin erhob er sich von der Bettkante und ging langsam auf das Fenster zu, bis er am Firmament den Mond erblickte. In dieser Nacht wurde er von keiner Wolke verdeckt und um ihn herum schimmerten zahlreiche kleine Sterne. Es war ein Vollmond; ein Mond, der sich über einige Zeit hinweg vergrößert und schließlich sein komplettes Maß erreicht hatte. Fabian legte seine rechte Hand auf die Scheibe, als ob er in dieser düsteren Nacht, irgendwo zwischen den Sternen,dem Mond und der Dunkelheit etwas suche. Aber nichts geschah. Schließlich wendete er sich wieder dem Bett zu und schaute auf Taras nackten Rücken. Der Po war nicht von der Decke verborgen und ihre Oberschenkel wurden schwach von der Stehlampe neben dem Bett beleuchtet. Tara hatte eine breite Hüfte, ihre Beine waren im Vergleich dazu unproportional, und doch wirkte Tara in Fabians Angesicht auf eine ganz besondere ihr eigene Weise anziehend. Er konnte es nicht genau in Worte fassen; wie ein Traum, den man zwar erlebt hat, aber so sehr man es auch versucht, nicht beschreiben konnte. Langsam streifte sein Blick ihren Körper, von den verborgenen Füßen, den Schattierungen auf der Decke, über ihren Po den Rücken entlang bis zu ihrem Hinterkopf und den schulterlangen braunen Haaren.
"Weißt du; manchmal, wenn ich den Mond sehe, frage ich mich wie er das schafft. Egal welche Größe er in der einen Woche hat, nach einiger Zeit ist er doch wieder der Vollmond. Ich mein, jedes Mal sucht er sich über Tage hinweg, bis er wieder in seiner kompletten Fülle am Himmel hängt. Er sucht und findet...Ich denke ich bin auch auf einer Suche; nach etwas, was mich komplett macht..."
Fabian lächelte leicht. Er fixierte das Muttermal mit seinem Blick; aus der Ferne betrachtet war es viel kleiner.
"Du fragst, warum ich niemanden lieben kann. Das ist schwer zu erklären. Vermutlich weiß ich selbst es noch nicht einmal. Ich kann nur versuchen, das Rätsel zu entziffern. Letztendlich läuft alles auf diese Suche nach dem Ganzen hinaus. Wenn man jedoch ins Detail geht, wird es komplex und verzwickt. Es ist vermutlich ein psychisches Problem; irgendwo tief im Unterbewußtsein, da schlummerts. Aber immer wenn mich irgendjemand fragt, warum ich niemanden liebe, dann lächele ich und erkläre: Liebe ist wie die Überdosis Salz in der Suppe. Streust du es genau richtig, schmeckt die Suppe gut. Streust du jedoch zu viel, vernichtet es den Geschmack, das eigentlich Wesentliche an der Suppe. Es ist ein schmaler Grat, der leicht überschritten wird. Entweder schmeckt die Suppe dadurch besser oder aber sie wird völlig vernichtet. Weißt du vielleicht ist es so. Alle suchen nach Liebe und ich will nach etwas anderem suchen; nicht den selben Fehler begehen. Aber vielleicht ist es auch ganz anders. Wie gesagt: Vermutlich weiß ich selbst es noch nicht einmal. "
Fabian holte tief Luft. Irgendwo draußen ertönten zwei Hupen; schnell gefolgt von einem Krachen und schließlich die Schreie aufgewühlter Menschen. Tara lag weiterhin still; fast leblos auf dem Bett. Einmal bewegte sie kurz ihre Hüfte und zog die Decke so weit über ihren Körper, bis der Po verdeckt wurde; aber kein Zeichen eines Atemzuges. Völlig ruhig. Irgendetwas fehlte ihr, etwas bedrückte sie. Fabian empfand nichts, während er ihren glatten Rücken und das kleine Muttermal darauf sah.
"Was heißt das für uns?", fragte Tara.
Fabian schwieg nur; sein kühler Blick heftete nun wieder auf dem Mond, welcher jetzt von einer ovalen Wolke verdeckt wurde. Sie schluckte; wartend auf die Antwort. Einige Sekunden vergingen. Er wußte nicht genau warum, aber er musste an die erste Jungfrau denken, mit der er geschlafen hatte. Aus irgendeinem merkwürdigen Grund sprang ihm ihr Gesicht in diesem Augenblick direkt in sein Gedächtnis, als hätte es nur so darauf gewartet endlich zu erscheinen. Er unterdrückte die Erinnerung und starrte in dem kleinen karg eingerichteten Zimmer umher. Auf einer Kommode stand eine hässliche grüne Pflanze. Die langen Blätter hingen schlaff in alle Richtungen und warfen ihren Schatten in einem bestimmten Radius um die Vase herum. In dem Schattens lag ein Buch. Er konnte den Titel aus der schrägen Position nicht genau entziffern, aber Tara musste Gefallen daran gefunden haben. Das Lesezeichen ragte in etwa bei halber Seitenzahl heraus. Neben dem Buch häuften sich zahlreiche bis auf den letzten kleinen verbliebenen Stümmel aufgerauchte Zigaretten in einem Aschenbecher. Früher einmal hatte Fabian auch geraucht. Nicht oft; nur manchmal, wenn er sich unter Menschen aufgehalten hatte.
"...Kommst du nächsten Dienstag wieder? Um die gleiche Zeit?"
Den Rest der Nacht verbrachte er in einer abgelegenen Kneipe.
Es war ein kleiner Schuppen. Genau so wie sich Fabian gerne mal sein Stammlokal vorgestellt hätte. An der Theke saß nur er und wechselte ab und zu einige Worte mit dem Barkeeper. Die restlichen drei Gäste saßen alle einzelnd an ihren Tischen und beobachteten einen japanischen Gitarristen, der auf einer schlichten Bühne einige seiner selbst geschriebenen Werke vorstellte. Man konnte wohl nicht erwarten, das sich zu solch später Zeit noch Paare in den Lokalen rumtrieben. Es war die Zeit einsamer Menschen; in der die Leute zu ihrem eigenen Gesprächspartner wurden. Eine Zeit, in der ihr Verstand aufhorchte um sich selbst näher zu kommen, sich selbst zu finden; eben so wie der Mond nach Tagen seine komplette Fülle findet. Die Nacht wird für Einsame zu ihrem Territorium; ein Ort, an dem sie völlig mit sich allein sind.
Fabian begann den Gitarristen zu beobachten. Er hatte schwarzes langes Haar; eine große Narbe entlang dem Haaransatz und ungewöhnlicherweise fehlte ihm an seiner rechten Hand der Zeigefinger. Er spielte ohne ihn. Anscheinend hatte der Japaner dafür Übung, denn lange Zeit hatte Fabian es gar nicht bemerkt. Erst in einer Pause zwischen zwei Liedern, gerade als er einleitend für den Song seine Entstehung erklärte, begriff Fabian das dem Gittaristen ein Finger fehlte. Er fragte sich, ob der Japaner wohl anfing Gitarre zu spielen, bevor oder nachdem er den Finger verloren hatte. Gab es viele Gitarristen, die mit links spielten? Fabian wußte es nicht; er warf den Gedanken fort und lauschte der Musik. Sie gefiel ihm. Sicherlich nicht tiefgehend, aber auf eine gewisse Weise berührte sie. Fabian trank sein Glas in einem Schluck leer. Dann starrte er wieder auf die Bühne. Sobald der Japaner ein Lied zu Ende gespielt hatte, sprach er jedes Mal:" Dieses Lied habe ich geschrieben, als ich mich von meiner großen Liebe trennte!"
Zwei der Gäste mussten lächeln, nachdem er es zum dritten Mal sagte. Fabian rührte keine Miene. Er blieb toternst. Nach einer Stunde war der Platz neben ihm belegt.
Eine junge dunkelblonde Frau hatte sich auf den Barhocker gesetzt und ein Bier bestellt. Ihre Stirn war sehr hoch; an ihrem linken Ohr glänzte ein Ring und neben ihrem Hocker stand ein quadratischer schwarzer Koffer, der vermutlich für ein Instrument gedacht war. Ihren Mantel hatte sie an einem Haken aufgehangen. Sie trug eine schlichte Jeans und einen schwarzen Pullover. Ihre Lippen schimmerten schwach im Licht der Neonröhren, die über der Theke hingen.
"Angenehme Musik!", sagte sie, während sie auf die Spirituosengetränke im Regal starrte.
Fabian sah sich zwei Mal um, bis er begriff, das sie mit ihm sprach.
"Mir gefällt sie auch!" Noch einmal schwenkte sein Blick zu ihrem Koffer "Sie spielen auch?"
Über das Gesicht der Frau flog kurz ein Lächeln.
"Saxophon! Manchmal ziehe ich nachts umher und spiele in einigen Lokalen ein paar meiner Lieder. Es läuft ganz gut. Man kann nicht davon leben, aber es reicht um sich ein wenig Luxus zu gönnen und es macht mir Spaß. Es ist merkwürdig, aber nachts hat man eigentlich immer die besten Zuhörer. Keine Bu-Rufe und keine Freudenschreie. Einfach nur einen stillen Raum mit ein paar Menschen darin."
"Eine Frau, die Saxophon spielt?" Fabian verzog leicht seine Augenbrauen. Die Frau nickte und er meinte: "Das ist ungewöhnlich!"
"Nicht wirklich! Ich kenne viele! Leider wurden nur wenige berühmt."
"Sie spielen nachts?" Wieder nickte sie. Der japanische Gitarrist machte erneut seinen gewöhnlichen Scherz zwischen den Liedern.
"Es ist schön nachts zu spielen. Ich weiß nicht warum, aber irgendwie scheint Musik in der Dunkelheit erst ihre ganze Kraft zu entfalten."
"Und was machen sie am Tag?"
"Essen, Trinken, Leben, das, was die meisten tun, wenn es Tag ist."
Der Barkeeper brachte der Frau ihr Bier und sie trank zwei Schlücke.
"Sind sie nicht müde?"
"Ach, wenn man einsam ist, wird die Müdigkeit unwichtig!"
"Sie sind doch verheiratet!", sagte Fabian. Die Frau starrte auf ihren Ehering. Er war schlicht und einfach. Unter allen Ringen würde dieser keineswegs auffallen.
"Und deswegen darf ich nicht einsam sein?"
"Ich dachte gerade darum geht es bei der Ehe!"
Fabian lauschte ihrem Atem. Er war ruhig, hatte keinen hörbaren Rythmus.
"Da haben sie etwas völlig falsch verstanden. Das Einzige, worum es bei der Ehe geht, ist sich möglichst schnell ein Fundament für sein Leben zu legen. Mein Mann hatte Jura studiert, war intelligent und auf einem guten Weg. Ich habe mir meinen Mann gesucht, weil ich dachte, sonst kriege ich den Richtigen nie ab."
"Sie sind doch noch jung."
Die Frau schwieg. Sie wußte selbst keine Antwort. Als sie dann leicht ihren Kopf senkte, die Stirn von den Neonröhren beleuchtet wurde und das Haar im Schein des Lichtes leicht glänzte, begriff Fabian, wie hübsch diese junge Frau doch war. Auf eine andere Weise als sonst. Er fühlte sich nicht erregt; jedenfalls nicht in sexueller Hinsicht. Er empfand es mehr wie eine Anziehung; der Wille dort zu sitzen und in ihr Gesicht zu schauen.
"Ich würde sie gern einmal spielen hören!"
Die Frau starrte ihn verwundert an.
"Warum?"
"Ich weiß nicht recht. Vielleicht weil ich noch nie eine Frau gesehen habe, die Saxophon spielt und wissen möchte, wie sich das anhört."
"Es macht denke ich keinen Unterschied ob ein Mann oder eine Frau Saxophon spielt"
"Sie wollen sagen, es macht keinen Unterschied, wer ein Saxophon spielt?
"Natürlich gibt es Unterschiede!"
"Vielleicht spielen Frauen besser als Männer."
Die Frau verzog ihre Lippen zu einem kaum sehbaren Lächeln.
"Vielleicht!"
Bis zum Morgengrauen redete Fabian mit ihr. Daraufhin verschwand er. Sie würden sich nie wieder sehen.
Der nächste Tag war kühl; zwischendurch hatte es immer wieder geregnet.
Fabian stand vor Taras Wohnung, seinen Blick auf das Schloß gerichtet. In dem Flur roch es nach Teig. In einer Wohnung kochte jemand.
Langsam hob er den Fußabtretter ein wenig an und griff den Schlüssel darunter. Sicherlich ein leichtsinniges Versteck, aber Tara kümmerte das nicht. Was sollte man ihr schon stehlen und nachts schloß sie sowieso immer ab. Sie hatte das Versteck Fabian anvertraut, damit er nicht warten musste, wenn sie mal ein wenig zu spät kam. Er schloß die Tür auf, öffnete sie und ging hinein. Drinnen war es still; ab und zu dröhnten einige Melodien klassischer Musik aus einer unbestimmbaren Richtung durch die Wand. Er schaute in jedes Zimmer, er suchte in der Küche, im Wohnzimmer und im Bad nach Tara und fand sie im Schlafzimmer. Sie hielt sich sonst selten dort auf; nur nachts und sonst immer, wenn Fabian zu Besuch kam. Er blieb im Türrahmen stehen und blickte im Schlafzimmer umher. Heute wirkte es anders auf ihn als sonst. Die Deckenlampe warf Licht auf das Bett. Aus dem Aschenbecher stieg Rauch einer noch glühenden Zigarette. Das Buch, das er gestern gesehen hatte, lag jetzt auf ihrem Nachttisch. Auf dem Bett schlief Tara; mit nackten Oberkörper und die Beine leicht gespreizt. Sie trug keinen BH, nur einen Tanga, jedoch verbarg die Decke die Hälfte ihres Körpers. Er ging zu ihr herüber und setzte sich still neben sie auf die Bettkante. An der Wand tickte eine Uhr; der Sekundenzeiger wechselte unermüdlich seine Stellung. Draußen wurde es bereits allmählich wieder dunkel; aber noch fuhren die Autos. Fabian blickte in ihr Gesicht; auf die geschlossenen Augen, sonst hat sie braune. Langsam und ganz sanft strich Fabian über ihre Stirn. Dann küsste er sie kurz auf die Wange. Nur ganz kurz, mit einem sanften Druck der Lippen. Kaum spürbar. Als wäre der Kuss gar nicht gewesen. Selten hatte Fabian Frauen geküsst; höchstens beim Sex. Jetzt war es anders. Fabian fühlte es. Er saß dort einige Minuten. In der Zeit fuhr der Zug draußen zwei Mal vorbei. Tara lies sich von dem Geräusch jedoch nicht wecken. Sie war es wohl bereits gewöhnt.