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Die Eiskönigin
Ein Windhauch wirbelte vereinzelte gelbe Espenblätter noch einmal auf, bevor sie vor dem Reiter zu Boden sanken. Erste Vorboten des Herbstes, aber noch hatte der Sommer Oberhand, als der einsame Reisende, ein fröhliches Lied pfeifend, unter dem sattgrünen Laubwerk durch den Wald ritt. Robelin sog gierig den Duft des Sommers ein. Er war in der Stimmung, ein Lied zu dichten. Poetisch zu sein, über die Schönheit der warmen Jahreszeit zu singen. Oder über deren Vergänglichkeit? Ach, es war ihm gleichgültig, er wollte einfach musizieren, seine Seele sprechen lassen.
Gegen Mittag lichteten sich die Bäume vor Robelin und gaben den Blick auf einen tiefblauen kleinen See frei, an dessen Ufer ein junger Mann sass und bekümmert ins Wasser starrte. Robelin beschloss, hier zu rasten und gesellte sich zu dem unbewaffneten Burschen, der anscheinend den Herannahenden gar nicht bemerkte. Dieser löste seinen Blick erst, als Robelin ihn freundlich grüsste und seufzend meinte:
„Was für ein schöner, warmer Sommertag! Einer der letzten wahrscheinlich.“
Der junge Mann nickte nur, aber es schien ihn nicht zu kümmern.
„Obwohl ich die Farbenpracht des Herbstes schätze. Ich liebe diesen Anblick, wenn sich Wälder in ein flammendes Meer aus Gelb und Rot verwandeln“, fuhr Robelin fort. Der junge Mann schwieg.
„Etwas scheint dich zu bedrücken. Willst du nicht die Sonne geniessen?“
„Ich warte auf den Winter.“
Robelin wusste nicht, was er mit dieser Antwort anfangen solle. Er zuckte mit den Schultern und holte seine Laute hervor, auf der er eine heitere Musik zu spielen begann. Doch bald war ihm traurig zumute, als er in den See blickte, dessen Grund er trotz des klaren Wassers nicht erkennen konnte. Eine seltsame Schwermut überfiel den Barden und seine Musik. Robelin fing an, zu den melancholischen Tönen Silben ohne Bedeutung zu singen, die dennoch mehr ausdrückten, als Worte es je vermocht hätten. Sobald begannen über die Wangen des Jünglings, der so regungslos dagesessen hatte, Tränen zu rinnen, die sich mit dem dunklen Wasser des Sees vermischten. Und so geschah es, dass der Barde Robelin die Geschichte erfuhr, die ihm nun der junge Mann erzählte.
„Einst bedeckte ewiger Winter das Reich der Eiskönigin mit Schnee und Frost. Im Herzen eines Waldes, dessen kahle Bäume mit Reif überzogen waren, erhob sich ein märchenhafter Eispalast aus hohen Türmen, die riesigen Kristallen glichen, und hellen Hallen, welche von filigranen Säulen getragen wurden, um die sich Eisrosen rankten. Er schien nicht von Menschenhand erschaffen, sondern von selbst gewachsen zu sein, wie eine alte Eiche oder Tropfsteine in einer Höhle. An manchen Stellen war das bläulich schimmernde Eis so klar, dass man die schöne Königin erkennen konnte, wenn sie einsam und gedankenverloren durch die Gänge wandelte. Ihr Hofstaat war klein, er bestand nur aus einem gealterten Magier, dem gutmütigen Eisdämon, der ihr manchmal Gesellschaft leistete.
Aber sie war gerne allein. Oft stand sie am Balkon des höchsten Turmes und überblickte von dort aus ihr Reich. Sie war nicht etwa traurig, wie man hätte vermuten können. Wärme, grüne Wälder und blühende Wiesen vermisste sie nicht, ihr waren diese Begriffe unbekannt. In zu Eis erstarrten Bächen, in Eisblumen, im Raureif, in der allgegenwärtigen Stille, in all diesen Dingen sah sie, fühlte sie die Schönheit des ewigen Winters. Noch öfter als auf dem Turm konnte man die Eiskönigin in den Wäldern rings um ihren Palast antreffen. Sie beobachtete die Schneehasen, wie sie flink über den Neuschnee huschten, den Eisfuchs, wie er hinter einer Schneewehe auf sie lauerte. Nichts trübte ihre Freude, sie war zufrieden mit ihrem Dasein im Reich des ewigen Frostes.
Eines Tages verirrte sich ein junger Mann in den Wald und wurde von einem heftigen Schneesturm überrascht. Er hatte auf der Suche nach Brennholz ohne es zu wissen die Grenzen zum Reich der Eiskönigin überschritten. Zitternd kauerte er sich hinter einen Baumstamm, um sich vor dem beissenden Wind zu schützen. Aber es half nichts. Eisige Böen trafen sein Gesicht wie Nadelstiche. Es war in jenem Augenblick, als sein Lebenswille zu verblassen drohte, da er sie gewahrte. Sie war aus dem tosenden weissen Nichts aufgetaucht, so schön, so anmutig, so fremd. Ihr graziöser, aber dennoch kraftvoller Körper war in ein himmelblaues Seidengewand gehüllt, das wie ihr weisses Haar im Wind flatterte.
Er konnte seinen Mund vor Kälte kaum noch bewegen, aber mit Mühe brachte er diese Worte über seine blauen Lippen: „Bist du der Tod? Wenn du der Tod bist, dann ist es schön zu sterben.“
Die Eiskönigin verstand ihn zuerst nicht, so überrascht war sie, dass jemand mit ihr sprach. Sie hatte noch niemals ein menschliches Wesen erblickt, nur von ihrer Existenz gehört. Jetzt aber betrachtete sie fasziniert das für sie fremde Wesen und konnte erst nach einigen Herzschlägen eine Antwort geben, als sie sich von der seltsamen Starre gelöst hatte.
‚Ich bin nicht der Tod. Ich bin die Eiskönigin. Wer aber bist du?‘, fragte sie erstaunt.
‚Fingal‘, antwortete er schwach und wiederholte langsam: ‚Eiskönigin‘. Er machte eine Pause und schaute, gefesselt von der übermenschlichen Erscheinung, in ihre Augen, in denen Mondlicht schimmerte. "Hast du keinen Namen?"
Sie überlegte. Niemand hatte sie je nach ihrem Namen gefragt. Sie wusste nicht einmal, ob der alte Eisdämon ihren Namen kannte. Die Eiskönigin. Sie war einfach die Eiskönigin. Aber sie hatte einen Namen. Vor langer Zeit war er ihr gegeben worden, von ihresgleichen, einem Volk, das sich tief in den Norden zurückgezogen hatte, weit entfernt von allen menschlichen Zivilisationen. Ein Volk, das Abgeschiedenheit und Einsamkeit liebte.
‚Arindhel‘, hauchte sie, doch sie wusste nicht, ob er sie noch gehört hatte. Schon waren seine Augenlider zugefallen. Sie fasste seine Hand und erschrak, als sie dieses fremde Gefühl spürte, wie wenn an wolkenlosen Tagen die Sonne ihre Haut streichelte. Wärme - und noch etwas. Tiefer in ihr, nicht an der Hand, die seine ergriffen hatte.
Sie trug ihn zum Palast, der nicht weit entfernt war. Der Hofmagier eilte herbei, als er seine Königin mit dem leblosen Körper Fingals herannahen sah. Er wollte ihr die Last abnehmen, aber sie sagte: ‚Lass nur, Ergath! Ich weiss, du hörst es nicht gerne, aber du bist zu alt.‘
‚Aber nicht älter als Ihr, meine Königin!‘
‚Du hast wie immer recht.‘
Ehe er noch etwas sagen konnte, hatte sie Fingal bereits in Ihr Gemach gebracht und auf ein Bett gelegt.
‚Ich fürchte, Königin, wir können nichts für ihn tun.‘ Der Eisdämon sah sie bedauernd an mit seinen kleinen, azurblauen Augen.
‚Aber weshalb? Was ist mit ihm?‘, fragte sie besorgt.
‚Er wird kalt.‘
‚Was bedeutet das?‘
‚Menschen brauchen Wärme, um zu leben.‘
‚Was ist Wärme? Ist es dieses merkwürdige Gefühl, das ich spüre, wenn ich seine Hand berühre?‘
‚Ja... ich glaube, es ist das, was Ihr meint. Ohne Wärme sterben Menschen.‘
‚Können wir ihm denn nicht helfen?‘, fragte sie verzweifelt.
Ergath schüttelte den Kopf.
Zum ersten Male musste die Eiskönigin weinen. Tränen aus Eis traten ihr aus den Augen, fielen auf den Boden und zersprangen kaum hörbar mit einem silbernen Klingen in tausend noch winzigere Splitter. Und das unbekannte Gefühl in ihrem Herzen wuchs, als sie erneut die Hand von Fingal hielt und auf sein regloses Gesicht blickte. Sanft strich Arindhel Fingals langen braunen Haare aus seinem bleichen Gesicht.
‚Ergath! Was ist das in mir? Ich spüre... Wärme! Ein Schmerz, der von innen kommt!‘
‚Wärme? In Euch?‘, fragte der Magier besorgt und murmelte: ‚Ich vermute, das ist etwas anderes. Liebe.‘
‚Liebe...‘, wisperte die Eiskönigin. Ergath nickte.
‚Können wir nicht Wärme erzeugen, um ihn zu retten? Ich kann nicht zusehen, wie er stirbt!‘
‚Ja, das ist möglich...‘
‚Dann tu es!‘
‚Aber... aber Ihr werdet die Wärme nicht überleben, meine Königin!‘, stotterte der Magier entsetzt.
‚Ich befehle es dir!‘
Der alte Eisdämon versuchte vergebens, sie von dieser Idee abzubringen. Niedergeschlagen machte er sich auf, um Holz herbei zu holen, während Königin Arindhel bei Fingal weilte. Die Tränen, die sie nun weinte, waren nicht mehr aus Eis, sondern flüssig. Mehrere Male kehrte Ergath keuchend mit einem Stapel Holz zurück, bis er schliesslich mit einem Zauberspruch ein grosses Feuer entfachte.
‚Tretet zur Seite, Königin! Merkt Ihr nicht, wie das Feuer euch schadet?‘, rief er.
Aber sie achtete nicht auf ihn. Sie hatte ihren Kopf in Fingals Schoss gelegt und ihre Augen geschlossen. Ringsherum begann Wasser von der Decke zu tropfen und rann an allen Seiten von den Wänden herab, als trauerte der Palast mit der Königin. Der Eisdämon versuchte, Arindhel wegzuzerren, aber er konnte sie nicht fassen, ihr Körper war bereits am schwinden. Nun setzte die Hitze auch ihm zu, er entfernte sich widerwillig dem Feuer und seiner Königin.
Zuerst war lediglich ein leises Knirschen zu vernehmen, welches jedoch rasch anschwoll. Die einst so schönen Türme und Hallen begannen einzustürzen, nur Arindhel und Fingal blieben auf wundersame Weise verschont.
Fingal erwachte aus seiner Bewusstlosigkeit und erhaschte einen letzten Blick auf die Eiskönigin, ehe sie gänzlich verblasste. Das Feuer war herunter gebrannt, doch mit der Eiskönigin verschwand auch der ewige Frost. Mühselig raffte sich Fingal auf und taumelte benommen aus dem Palast, bevor dieser vollends in sich zusammenfiel. Er rettete sich auf eine nahe Anhöhe, wohin sich auch Ergath geflüchtet hatte. Der Eispalast hingegen war geschmolzen und hatte sich in einen See verwandelt.
Rundherum taute alles auf, erwachte aus einem langen Winterschlaf. Innerhalb kürzester Zeit sprossen grüne Pflanzen und Gräser aus dem wegschmelzenden Schnee, Bäume entfalteten ihre Blütenpracht. Der Frühling brach mit aller Gewalt ein. Im ersten Moment war der Eisdämon von der Schönheit ergriffen, aber im nächsten Augenblick musste er an seine Königin denken, um die er nun trauerte. Stockend erzählte er Fingal, was geschehen war. Darauf verabschiedete er sich und brach in Richtung Norden auf. Fingal aber blieb und wartete.“
Nachdem der junge Mann geendet hatte, schwiegen beide eine Weile. Der Barde ass ein Stück Brot, trank aus seinem Schlauch und wollte ihn sogleich nachfüllen. Da hielt er inne und besann sich eines besseren. Er nahm die Laute und erhob sich.
„Ich wünsche dir Lebewohl und hoffe, dass der Frost dieses Jahr früh kommt!“, sagte er und setzte sich aufs Pferd.