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Die Enthüllung
Als er den Friedhof betrat, hatte die Feier schon begonnen. Etwa 50 Menschen hatten sich vor dem Denkmal versammelt und der erste Redner schon mit seiner Ansprache begonnen. Stadelmann stellte sich in den freien Spalt zwischen zwei Grabsteinen. Der Mann hinter dem Mikrophon verlas gerade die Liste der Ehrengäste. Der Landeshauptmann, ein Militärpfarrer evangelischer und ein solcher katholischer Konfession waren gekommen, auch der russische Metropolit aus der Hauptstadt nahm an der Feier teil. Dann waren noch da: Der russische Botschafter und sein Militärattache, sowie zwei Männer und eine Frau, die man aus Russland eingeflogen hatte. Nachdem der Redner noch einige Firmen wegen der finanziellen Unterstützung bei der Renovierung des Denkmals dankend erwähnt hatte, bat er den Bürgermeister ans Pult.
Stadelmann hörte nicht hin. Er wusste, was Bürgermeister bei solchen Anlässen zu sagen pflegen. Er versuchte vielmehr das zu tun, worum ihn sein Vater gebeten hatte. Nur deshalb war er gekommen. Nie im Leben hätte Stadelmann das Bedürfnis gehabt, dieser Feier beizuwohnen. Als er am Tag zuvor seinen Vater im Altersheim besuchte, hatte der ihm eine Zeitungsnotiz gezeigt, in der die feierliche Einweihung des renovierten "Russendenkmals" im Friedhof der Bezirkshauptstadt angekündigt wurde.
"Ich will, dass du da hingehst." Trotz seiner 95 Jahre konnte der alte Stadelmann noch jene Betonung in einen Satz legen, die jeden Widerspruch ausschloss. Er nahm einen Zettel vom Nachttisch des Bettes, das er schon seit Monaten nicht mehr verlassen konnte und schrieb darauf, langsam wie ein ABC-Schütze, ein einziges Wort.
"Ich kann das nicht lesen", sagte Stadelmann.
"Das ist kyrillisch. Wenn du das nächste Mal kommst möchte ich von dir wissen, ob dieser Name auf einem der Grabsteine steht. Und vergiss nicht, ins Dorf hinaufzugehen und bei deiner Mutter vorbeizuschauen."
"Natürlich nicht", hatte er erwidert. "Wie könnte ich das vergessen, wenn ich so nahe bin. Aber – wozu die Namensrecherche?"
Sein Vater tat was er in letzter Zeit schon oft getan hatte, wenn er einer Frage ausweichen wollte. Er klingelte nach der Betreuerin, simulierte einen Schwächanfall und bat seinen Sohn zu gehen.
Der Versuch, den Namen auf einer der Tafeln ausfindig zu machen, scheiterte an der Entfernung. Er würde also wohl das Ende der Feier abwarten müssen. Nach dem Bürgermeister kam der russische Botschafter an die Reihe. Nach seiner Ansprache in deutscher Sprache, in der von Heldentum und Opfertod die Rede war und vom Dank an die Gemeinde, folgten einige Worte in russischer Sprache an die aus Russland angereisten Hinterbliebenen. Sie standen aufrecht und waren um Haltung bemüht. Die Frau verschwand fast zwischen den beiden hünenhaften Gestalten.
Als nächster trat der Militärattache ans Pult. Er las seinen Text mit starkem Akzent, und der Inhalt unterschied sich kaum vom vorher Gesagten.
Im Kopf von Stadelmann begann die Zeit rückwärts zu laufen. Längst verschlossene Schubladen öffneten sich und gaben vergessen geglaubte Erinnerungen frei. Die Flucht mit der Mutter aus dem belagerten Wien in das kleine Dorf, in dem sie aufgewachsen war. Die ersten Russen. Furchterregend für den Zwölfjährigen, der zwei Monate davor noch hinter den Trommlern marschiert und "..und morgen die ganze Welt" gesungen hatte. Später, als sich die Russen im Dorf eingelebt hatten, hatten sie ihren Schrecken weitgehend verloren. Nur einmal hatte Stadelmann Angst gehabt, als ein Russe ins Haus gekommen war, um Eier zu kaufen und er ihn aus alter Gewohnheit mit "Heil Hitler" begrüßt hatte. Als der Russe die blanke Angst in den Augen der Anwesenden sah, sagte er lachend: "Nix Chitler – Chitler kaputt", nahm die Eier, zahlte und ging. Langsam kehrte das alte Leben zurück. Die Bauern gingen wieder aufs Feld, weil es keine Tiefflieger mehr gab, die auf alles schossen, das sich bewegte. Der Krieg war vorbei.
Die Feier näherte sich ihrem Höhepunkt. Nachdem die drei Geistlichen in ökumenischer Einigkeit das Denkmal gesegnet hatten, war endlich der Zeitpunkt für die Enthüllung gekommen. Der Bürgermeister zog an der Schnur, das weisse Tuch fiel zu Boden und gab den Blick frei auf die neue Tafel aus weißem Marmor.
Der Text auf der Tafel, der auf die Aufopferung für die Freiheit unseres Landes und den Heldenmut der hier begrabenen Soldaten hinwies, war in deutscher und russischer Sprache abgefasst. Nachdem der offizielle Teil der Enthüllung vollbracht war, marschierte noch eine Fünferriege des berühmten Donkosakenchors ein und sang mit großem Pathos zwei Lieder. Die Gesichter der russischen Gäste ließen erkennen, dass es traurige Lieder waren.
Stadelmann kam von seinen Erinnerungen nicht mehr los. Obwohl der Militärattaché mit seiner übergroßen Schirmkappe und den vielen bunten Ordensbändern gar nichts Martialisches an sich hatte – seine Uniform hatte Stadelmann diesen verhängnisvollen Tag im Mai 1945 ins Gedächtnis zurückgerufen.
Es war der Tag, an dem der Kommissar ins Haus kam. Nachdem er durch den Flur die Küche betreten hatte, traf er dort nur ihn und seinen Großvater an. Er überreichte dem alten Mann wortlos ein Schriftstück in deutscher Sprache. Es enthielt die Aufforderung an Frau Stadelmann, mit dem Überbringer des Schreibens die Kommandantur in der nahen Kreisstadt aufzusuchen, um über ihre Tätigkeit als Sekretärin in der Gauleitung Niederdonau befragt zu werden.
"Meine Tochter ist nicht da" sagte der Großvater überlaut, beinahe schreiend. Und dann noch lauter, "Sie müssen ein andermal wiederkommen".
Der Russe hatte die Absicht bemerkt. Er lief zur Tür, die von der Küche in die Speisekammer führte und wollte sie aufreißen, doch bevor er noch die Klinke erreicht hatte, öffnete sich die Tür und Frau Stadelmann trat ein. Die Tür an der Rückseite der Kammer, die ins Freie führte, stand offen.
Das Bild dieser offenen Tür in die Freiheit hatte Stadelmann jahrelang bis in seine Träume verfolgt.
"Es hat keinen Sinn, Papa. Es ist nur eine Befragung. Ich hab doch nur meine Arbeit gemacht. Du wirst sehen, am Abend bin ich wieder da".
Der alte Mann senkte den Kopf und schwieg. Er dachte an seine drei Söhne. Einer war in Frankreich gefallen, die beiden andern an der Ostfront. Frau Stadelmann umarmte ihn, dann drückte sie ihren Sohn lange an sich und küsste ihm die Tränen von den Wangen.
"Brauchst keine Angst haben, Bub. Ich bin bald wieder zurück".
Der Kommissar nahm seine Pistole aus dem Halfter, entsicherte sie und steckte sie wieder zurück. Dann fasste er Frau Stadelmann am Arm und führte sie hinaus.
Nach dem Vortrag der Donkosaken hatte sich die Menge bald verlaufen. Zwei Gemeindearbeiter trugen das Rednerpult weg. Stadelmann wartete noch, bis die Ehrengäste gegangen waren. Nur die Angehörigen der Toten waren noch geblieben.
Stadelmann trat an die Gräber hinter dem Denkmal heran. Die Grabsteine aus Naturstein waren gereinigt, die Umrandungen der Gräber erneuert, frische Blumen gesetzt. Die kyrillische Schrift auf den Marmortafeln war frisch vergoldet. Eine der Tafeln war offensichtlich nicht renoviert, sondern erneuert worden. Auf dieser fand Stadelmann auch den Namen, den ihm sein Vater aufgeschrieben hatte.
"Verzeihen Sie die Störung" sagte eine Frau neben ihm, "ich sah den Namen auf ihrem Zettel. Haben Sie den Toten gekannt?" Obwohl sie mit slawischem Akzent sprach, war ihr Deutsch fehlerfrei.
Stadelmann wandte sich der Frau zu. Man konnte ahnen, dass sie einmal sehr schön gewesen war.
"Nein", sagte Stadelmann. Und nach einer Pause : "jedenfalls nicht bewusst".
"Sie waren damals hier?"
"Nicht hier in der Stadt, aber in einem kleinen Dorf oben am Berg. Zu Fuß etwa eine halbe Stunde von hier. Ich war damals zwölf. Jetzt komme ich nur mehr selten hierher. Ich war schon sehr jung nach Deutschland gegangen, um dort zu arbeiten."
"Ich habe auch lange in Deutschland gelebt" sagte die Russin. "Im 'anderen' Deutschland. Ich war dort in der Botschaft beschäftigt".
"Ich lebe immer noch dort. Von Zeit zu Zeit komme ich nach Österreich, um meinen Vater zu besuchen."
"Sie haben noch einen Vater", sagte die Russin, "meiner liegt hier in diesem Grab. Ich war fünf Jahre alt, als ich ihn das letzte Mal sah. Ich habe kaum eine Erinnerung an ihn." Sie stellte ihre Handtasche auf die Umrandung des Grabes, kramte gebückt darin herum.
"Hier" , sagte sie und reichte Stadelmann ein vergilbtes Foto, "das war er. "
Stadelmann nahm das Foto und blickte es an. Er spürte, wie das Blut in seinen Kopf schoss und wieder daraus zurückwich. Die Grabsteine begannen vor ihm zu tanzen, sich zu drehen. Er sah die Tür der Friedhofskapelle aufspringen, aber durch die Tür konnte er nicht in die Kapelle hineinsehen. Die Tür ging ins Freie. Es war die hintere Tür der Speisekammer.
Irgendwie war es der zierlichen Russin gelungen, den massigen Körper des Mannes am Fallen zu hindern. Der ganze Vorfall hatte nur wenige Sekunden gedauert. Stadelmann nahm alle Kraft zusammen. "Verzeihen Sie meinen Schwächanfall. Ich habe gerade erst ein Grippe überstanden". Er bückte sich, hob das Foto auf und reichte es der Frau zurück.
Die Russin tat, als wäre nichts geschehen, aber der Klang ihrer Stimme schien irgendwie verändert. "Man hat mir berichtet, dass mein Vater hier in der Nähe verunglückt ist. Der Bürgermeister sagte mir, dass es dort sogar eine Gedenktafel gibt, die wollte er mir morgen zeigen. Ich möchte sie aber schon heute sehen. Kennen Sie die Stelle?"
Stadelmann dachte nach. Er wusste, welche Tafel gemeint war . Sie war auf einem Felsen angebracht, den die Einheimischen den "Russenstein" nannten. Obwohl er oft an dem Platz vorbeigegangen war, wenn er von der Stadt den steilen Weg ins Dorf hinaufstieg, hatte er die Tafel nie wirklich beachtet oder über deren Bedeutung Gedanken gemacht. "Ja, " sagte er schließlich, "Ich muss dort heute noch vorbei, am Weg ins Dorf".
"Würde es Ihnen viel ausmachen, mich mitzunehmen?" fragte die Russin und ihr Tonfall deutete an, dass sie mit seiner Zustimmung rechnete.
"Natürlich nicht", sagte Stadelmann, der sich inzwischen wieder gefasst hatte. "Wenn es Ihnen recht ist, können wir gleich aufbrechen".
Die Frau wechselte ein paar Worte mit den beiden Russen, die an zwei anderen Gräbern standen, dann verließ sie mit Stadelmann den Friedhof. Unweit des Friedhofs begann der Weg stark anzusteigen. Stadelmann erinnerte sich daran, wie oft er mit seiner Mutter diesen Weg gegangen war. Nach der Flucht aus Wien hatte sie noch in der hiesigen Kreisleitung geholfen, alle Akten zu vernichten. Er hatte sie dann oft am Abend abgeholt und sie waren gemeinsam den steilen Weg hinaufgestiegen. Er erinnerte sich, dass sie dabei oft sehr ernst und nachdenklich gewirkt hatte. Wenn er sie darauf ansprach, sagte sie nur, dass sie müde sei. Er fühlte aber, dass das nicht der wahre Grund war. Es musste wohl mit dem Inhalt mancher Schriftstücke zu tun haben, in die sie vor dem Verbrennen Einsicht nehmen konnte. Aber es gab auch Tage, an denen sie fröhlich war. Dann lief sie ausgelassen mit ihm über die Wiesen und sie bestaunten die sich von Tag zu Tag vermehrende Blütenpracht und er hatte sich schon die Plätze gemerkt, wo er besonders schöne Blumen finden würde für seinen Muttertagsstrauß.
"Gibt es nur diesen Weg ins Dorf?" fragte die Russin.
"Nein, es gibt natürlich auch eine Autostraße, aber wenn man zu Fuß von der Stadt hinauf will, ist das die kürzeste Verbindung ".
Nach einer Biegung des Weges erreichten sie den "Russenstein". Er lag genau am unteren Ende eines steilen Hohlweges, ein Monolith mit etwa 2 Metern Durchmesser. In Augenhöhe befand sich die Gedenktafel.
"Kennen Sie die Bedeutung dieses Textes?" fragte die Russin.
"Ich kann kein Russisch".
"Gut, ich werde übersetzen: Am 15.September 1945 wurde durch diesen Stein – oder sagt man besser Fels?"
"Egal, aber eher Fels", sagte Stadelmann und dachte: 15.September? Da war ich schon in Wien. Die Schule hatte schon begonnen. Aber warum wohnte ich damals nicht zu Hause sondern bei Onkel Erwin? Den ganzen Monat September bei Onkel Erwin...
"wurde durch diesen Fels der ehrenwerte Genosse Kommissar Pjotr Ostrovskij während der Ausübung seiner Pflicht getötet. Wir wollen seiner immer gedenken".
"Danke", sagte Stadelmann. "Ich denke, Sie finden den Weg zurück. Ich muss noch weiter ins Dorf."
"Nehmen Sie mich mit?" fragte die Russin. Und als er zögerte. "Bitte!"
Stadelmann fragte sich, warum sie so sehr darauf bestand, mit ihm ins Dorf zu gehen.
"Aber es gibt nichts zu sehen da oben. Ein kleines unscheinbares Dorf...."
"Bitte!" sagte die Russin noch einmal. Stadelmann zuckte die Achseln und ging voran durch den steilen felsigen Hohlweg in welchem der ehrenwerte Genosse Kommissar Pjotr Ostrovskij vor 58 Jahren ums Leben gekommen war. Trotz der langen Zeit war neben dem oberen Ende des Hohlwegs noch die Stelle zu sehen, wo der Monolith vorher gelegen war.
Als sie aus dem Wald ins Freie traten, war der Anstieg zu Ende. Von hier ging es durch Felder und Wiesen zum Dorf fast eben dahin. In der Nähe des Dorfes zweigte von der der schmalen Straße ein Weg ab, der über die Felder direkt zum Dorf führte, "Warum nehmen wir nicht den kürzeren Weg?" fragte die Russin, als Stadelmann auf der Straße weiterging. Den kürzeren Weg will sie nehmen, dachte Stadelmann. Wut kam in ihm auf. Wie damals ihr Vater! Den kürzeren Weg! Wie ihr verfluchter Vater. Was fällt ihr ein, ihm den Weg vorzuschreiben? Stadelmann roch den Gestank verfaulten Fleisches. Immer, wenn er hier vorbeikam, in all den Jahren, hatte ihm seine Erinnerung diesen grausamen Streich gespielt. Er war auch damals nicht über das Feld gegangen. Er wird es nie tun. Damals wollte er zu ihr, als sie noch dort lag wo man sie gefunden hatte und sein Vater hatte ihn angefleht, es nicht zu tun, sie so in Erinnerung zu behalten, wie er sie zuletzt lebend gesehen hatte.
Als die Russin bemerkt hatte, dass Stadelmann unbeirrt auf der Straße weitergegangen war, lief sie den Feldweg zurück und schloss zu ihm auf. "Entschuldigen Sie", sagte sie "ich hatte gedacht....".
Stadelmann betrachtete die zierliche Gestalt neben sich , mit ihrem schwarzen Kleid und den unbequemen Schuhen und seine Wut war wieder verflogen. " Der andere Weg wird dann sehr schlecht, nichts für ihre schönen Schuhe" log er.
Sie erreichten das Elternhaus seiner Mutter . An der Tür steckte ein Zettel: "Sind spazieren, kommen um 5."
"Sie können hier warten, ich habe noch etwas zu erledigen" sagte Stadelmann und zeigte auf die Bank vor dem Haus.
"Ich werde nicht hier warten. Ich werde mit Ihnen kommen, Herr Stadelmann".
Die Russin sah, wie das Gesicht ihres Begleiters erstarrte. Er versuchte, etwas zu sagen, brachte aber keinen Ton über die Lippen..
"Ich weiß Bescheid. Nachdem ich aus der DDR in meine Heimat zurückgekehrt war, hatte ich Gelegenheit, in die Personalakte meines Vaters Einblick zu nehmen. "
Stadelmann hatte sich von seinem Schock erholt. " Und was stand in der Akte?".
Die Russin entnahm ihrer Handtasche ein Schriftstück und entfaltete es.
"Ich werde Ihnen den Teil übersetzen, der mit seinem hiesigen Aufenthalt zu tun hat. Also:
Am 7.Mai 1945 erhielt Kommissar Ostrovskij den Auftrag, die 32-jährige Maria Stadelmann vom Hause ihres Vaters abzuholen und zum Verhör vorzuführen. Er kam ohne die Frau zurück und gab an, dass er sie nicht angetroffen habe, weil sie bereits an ihren alten Wohnort in Wien zurückgekehrt sei.
Am 11. Mai kam der Ehegatte der Frau, Herr Johann Stadelmann, zur Kommandantur und fragte nach dem Verbleib seiner Gattin. Kommissar Ostrovskij erklärte daraufhin, dass die Frau während der Überstellung geflüchtet sei. Er habe zwar den Anordnungen gemäß gehandelt und versucht, sie mit der Schusswaffe an der Flucht zu hindern. Er wisse aber nicht, ob er die Frau getroffen habe. Ihr Verschwinden könne daher auch bedeuten, dass sie trotz einer Schussverletzung flüchten konnte, aber später daran gestorben sei. Ostrovskij gab an, er habe sich für sein Versagen geschämt und deshalb die Flucht der Frau verschwiegen.
Am 12. Mai meldet der Dorfkommandant Major Jewtschenko über das Feldtelefon, dass in einem Weizenfeld in der Nähe des Dorfes und nahe dem Fußweg zur Stadt eine stark verweste Frauenleiche gefunden wurde. Eine ärztliche Untersuchung hat ergeben, dass die Frau erwürgt und ...."
Die Russin unterbrach ihren bis dahin fließenden Vortrag . Sie blickte Stadelmann an.Traurigkeit, Ekel und die Bitte um Verzeihung. lagen in ihrem Blick als sie fortfuhr:
"erwürgt und danach sexuell misbraucht worden sei. Die Leiche wurde vom Dorfkommandanten zur Beisetzung freigegeben. Diese erfolgte durch den Ehegatten am 13.Mai im Garten des Elternhauses..
Kommissar Ostrovskij wurde am 14.Mai verhaftet und wegen unehrenhaften Verhaltens zu 3 Monaten Gefängnis verurteilt. Dabei wurden als strafmindernde Umstände anerkannt, dass seine Ehegattin bei einem deutschen Bombenangriff auf Smolensk getötet und zwei seiner Brüder gefallen waren. Außerdem wurde der Umstand, dass die ums Leben gekommene Frau Angehörige der Hitlerpartei war und in einer Regierungsstelle gearbeitet hatte, in Betracht gezogen.
Am 15.September 1945 war Kommissar Ostrovskij zu Fuß unterwegs, um einen vom Dorfkommandanten Major Jewtschenko festgenommenen Kollaborateur, der als Fremdarbeiter bei einem hiesigen Bauern und damit für Hitlerdeutschland gearbeitet hatte, abzuholen und in die Kommandantur zu überstellen. Auf dem Weg ins Dorf wurde er von einem Felsen überrollt und getötet. Die Beisetzung erfolgte am 20 September am hiesigen Stadtfriedhof, neben den hier bestatteten russischen Gefallenen.
Ob der tödliche Felssturz durch bewusste Fremdeinwirkung herbeigeführt wurde, konnte zwar nicht ausgeschlossen, aber auch nicht konkret nachgewiesen werden. Das diesbezügliche Verfahren gegen Unbekannt wurde eingestellt.
Am 2. Oktober 1945 wurde an dem Fels, der Kommissar Ostrovskij getötet hatte, eine Steintafel zur Erinnerung angebracht."
"Das haben Sie jetzt einfach so frei übersetzt?" sagte Stadelmann voller Bewunderung.
"Ich habe jahrelang als Dolmetscherin gearbeitet. Es war nicht schwer, das zu übersetzen. Schwer war hingegen, manches davon auszusprechen - kommen Sie, gehen wir zum Grab"
Das Grab lag hinter dem Hauses auf einem Hügel. Als sie hinaufstiegen, sagte Stadelmann:
"Einmal sagte sie, ich erinnere mich noch genau: ' Da oben neben dem Kirschbaum ist für mich der schönste Platz auf dieser Erde. Wenn ich einmal sterbe, möchte ich dort begraben sein.' Das war ein paar Wochen vor ihrem Tod gewesen. Wir haben ihren Wunsch erfüllt. Später wollte die Gemeinde meinen Großvater zwingen, das Grab aufzugeben und meine Mutter am Friedhof beisetzen zu lassen. Er hat das abgelehnt, mit den Worten: 'Meine 3 Söhne wurden in fremder Erde begraben. Meine Tochter bleibt hier bei mir'. Er hatte ja niemanden mehr. Seine Frau war gestorben, bald nachdem sie die dritte Todesnachricht erhalten hatte. Sie hatte allen Lebenswillen verloren."
Das Grab war gepflegt. Die Leute, die vom alten Stadelmann das von ihm geerbte Haus gekauft hatten, hatten sich verpflichtet, es immer in Ordnung zu halten..
"Sie werden sich vielleicht fragen, wieso ich keine Blumen besorgt habe", sagte Stadelmann. "Ich lege immer einen Strauß Wiesenblumen aufs Grab, genau so wie damals am Muttertag des Jahres 1945. Das war der Tag, an dem wir sie begraben haben."
"Darf ich Ihnen helfen, sie zu pflücken?" fragte die Russin. Stadelmann nickte. Sie gingen über eine nahe dem Grab gelegene Sommerwiese und pflückten einen wunderschönen Strauß".
Die Russin sah auf die Uhr. "Die Leute werden jetzt schon im Haus sein".
Stadelmann schüttelte den Kopf. "Ich will heute nicht ins Haus. Zu viele Erinnerungen. Gehen wir zurück in die Stadt."
Als sie beim "Russenstein" vorbeikamen, blieb die Russin stehen.
"Den Zettel mit dem Namen hat Ihnen Ihr Vater gegeben?"
"Ja, aber er hat mir nicht gesagt, warum."
"Was werden Sie Ihrem Vater sagen?"
"Ich werde ihm sagen, dass die Tafel nicht mehr erneuert wurde. Oder noch besser, ich werde ihm sagen, dass man eine Tafel eingesetzt hat für die anonym verscharrten Soldaten, die nirgends ein Grab haben. Ja, das werde ich ihm sagen. Und ich werde ihn fragen, ob er den Tod Ihres Vaters verschuldet hat."
"Das werden Sie nicht und das sollen Sie nicht. Warum wollen Sie vom eigenen Vater erzählt bekommen, wie er einen Menschen getötet hat? Sie würden diese Schilderung nie aus Ihrem Gedächtnis löschen können. Fünfundneunzig Jahre sagten Sie? Und krank? Nein mein Freund - ich darf Sie doch so nennen - sicher haben unsere Väter Schuld auf sich geladen, aber der wahre Schuldige war der verdammte Krieg. Schuld sind die, die Kriege anzetteln. Wir sind alle Opfer des Krieges. Mein Vater und Ihrer, Sie und ich. So sehe ich das."
Die beiden verbrachten noch zwei Tage zusammen. Am Flughafen blieb er im Wagen sitzen, bis die Maschine abgehoben hatte. Er winkte nach oben.
"Danke, Elena. Danke"
Dann fuhr er los, um seinen Vater zu besuchen.