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Die Entscheidung
Er stand bereit. Bereit alles hinter sich zu lassen. Bereit zu fallen. Er spürte den Wind, der ihm durch sein Haar fuhr und es in alle Himmelsrichtungen zerzauste. Er konnte die Sonne spüren, die auf ihn herabschien. Er konnte die Vögel hören, die fröhlich zwitscherten, als wäre es ein ganz normaler Tag. Aber woher sollten die Vögel denn auch schon wissen, dass es kein ganz normaler Tag war. Eine Menschentraube hatte sich bereits unter ihm gebildet und alle gafften zu ihm hinauf. Man schämte sich nicht dafür, denn andere taten es ihnen ja gleich und so blickte man aus Neugier zu ihm herauf, während man sich im inneren dafür schämte nicht wegschauen zu können. Einmal lies er sich noch alles durch den Kopf gehen. Wenn er nur einen Fuß nach vorne setzte, würde sein Lebenslicht ausgelöscht. Doch was blieb ihm übrig, sein Leben war eine einzige Qual seitdem nach über zwanzig Jahren Ehe, letztes Monat seine Frau bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen war. Der Unfallsverursacher hatte 2,6 Promille im Blut gehabt, hatte die Kontrolle über seinen Wagen verloren und war gegen den Wagen seiner Frau gefahren. Er überlebte und kam, mithilfe eines äußerst qualifizierten Anwalt ohne eine Haftstrafe davon. Warum gab es solch Ungerechtheit? Warum kam so ein Mann einfach ohne irgendeiner Haftstrafe davon? Warum? Eine Träne lief ihm über sein Gesicht. Die Sonne schien derweilen und auch die Vögel zwitscherten. Ein absurdes Bild. Als er da so oben stand, zum Sprung bereit, dachte er zum ersten Mal über das Leben nach. Er hielt normalerweise nichts von philosophischen Gequatsche, doch in diesem Moment fragte er sich, ob es nicht so etwas wie den Sinn des Lebens gab. Stand hinter diesem Leben ein Sinn? Selbst wenn für ihn war er bedeutungslos. Er hatte alles verloren, alles was er geliebt, war fort. Wozu denn dann noch leben? Er machte sich nun bereit, atmete noch einmal tief durch und wollte schon springen, als er plötzlich eine Stimme hinter ihm hörte. Er wandte sich um. Hinter ihm stand ein Junge. „Du möchtest springen?“, fragte er. „Ja.“ „Hast du jemanden verloren?“, fragte der Junge weiter. Er nickte. „Spring nicht. Denn es befreit dich nicht. Es zerstört. Ich selbst habe verloren wen ich geliebt habe. Ich selbst habe das Gefühl, den Gedanken der Selbstaufgabe erfahren. Ich selbst stand schon bereit zum Sprung. Doch das ist nicht die Lösung. Das Leben hat einen Sinn. Das Leben ist nicht da um es zu beenden. Das Leben ist da um es zu leben. Deshalb bitte ich dich, spring nicht. Gib mir deine Hand und ich will dir helfen, deinen Weg im Leben zu finden.“ Der Junge streckte seine Hand aus. Noch einmal blickte er in die Tiefe hinab. Doch dann drehte er sich um, ergriff die Hand des Jungen und wich vor der Hauskante zurück. Dann kniete er vor dem Jungen nieder, nahm ihn in seine Arme und weinte. „Du hast gerade der größten Versuchung deines Lebens widerstanden. Ich werde dir helfen wieder ins Leben zu finden. Den rechten Weg zu gehen. Das Leben zu leben.“