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Die Enttarnung des Lügenbarons W. Rafael
Die Enttarnung des Lügenbarons W. Rafael
Er ist in der Stadt bekannt, als ein tüchtiger Handwerker, geselliger und lustiger Bursche, dem Wodka zugeneigt wie den Frauen. Immer einen frechen Spruch auf den Lippen, ein charmantes Lachen, stahlblaue Augen mit stechendem Blick.
Alles, was er mag:
Frauen Komplimente machen
Kinder und Tiere
Die Zigarette zum Kaffee
Wilden Sex
Das Extreme
Freiheit und Unabhängigkeit
500 g Fleisch am Tag.
Körperliche Betätigung
Wodka
Schöne Frauen scannen für die bildenden Künste (oder auch einbildenden Künste)
Mitleid erregen
Den Helden spielen
Geschichten erfinden und zu passender Gelegenheit zum Besten geben.
Rollen spielen.
An einen Baum pinkeln
Kriegsfilme anschauen.
Schrauben sortieren
Menschen einschätzen und manipulieren.
Laut Musik hören
Mit einer seiner Frauen Liebesfilme und anspruchsvolle Filme sehen
Großzügigkeit mit der eigenen Unzuverlässigkeit
Andere beobachten und kontrollieren.
Lachen und tanzen.
Nehmen ohne zu danken.
Alles, was er nicht mag:
Wenn jemand Erwartungen an ihn stellt.
Verantwortung für sich selbst und andere übernehmen.
Kritik.
Auseinandersetzungen, bei denen er den Kürzeren zieht.
Wenn ihn jemand kontrollieren möchte.
Schreiende Kinder.
Wenn er sich verarscht fühlt.
Sich selbst an Vereinbarungen halten.
Klugscheißer
Unterhosen
Feine Pinkel
Unehrlichkeit bei anderen.
Schlechte Zahlungsmoral
Unfaire Zeitgenossen
Wenn andere Menschen gleichgültig (ihm gegenüber) sind.
Wenn sich niemand um ihn kümmert.
Schnittblumen
Walter hatte mindestens 8 Kinder, die Kegel nicht mitgerechnet, verstreut in mindestens 5 Ländern ohne ihren genauen Aufenthalt zu kennen. Insgesamt betrachtet könnten es wohl 12 sein, von etwa fünf Frauen, wer weiß das schon so genau?
Trotz seines unsteten und verlotterten Lebensstils war er bei den Frauen sehr beliebt. Ob älter oder jünger, das spielte keine Rolle. Vielleicht lag es an dem gewissen Charme, den er besaß und gezielt einzusetzen wusste oder aber an dem besonderen Duft, den er verströmte. Alles an ihm roch nach einem geheimnisvollen Gewürz. Niemand hatte eine Erklärung dafür. Waren es irgendwelche Drogen, die er zu sich nahm oder eine Überproduktion an Pheromonen.
Er hatte jedenfalls eine unerklärliche Wirkung auf Frauen, ähnlich der eines Schlangenbeschwörers. Sie taten wie unter Hypnose alles für ihn und vergaben ihm wieder und wieder seine Sünden.
Allerdings waren es ganz bestimmte Frauen. Sie hatten so manches miteinander gemeinsam: Sie waren einfühlsam, geduldig, hatten in gewisser Weise auch ein Helfer-Syndrom und wollten alles andere als einen normalen Mann, der sie nur langweilte.
Er konnte ihnen manche Abwechslung bieten, durch seine atemberaubenden Geschichten, sein herzliches Lachen, seinen Humor und seine lebendige Wesensart, die mitreißend wirkte.
Walter war er ein verdammt guter Logistiker und ein noch besserer Schwindler, denn viele Leben parallel zu führen ist eine wahre Kunst, die nur wenige beherrschen. Seine Gedächtnisleistung war überdurchschnittlich. Das musste sie auch sein, denn er musste genau unterscheiden können, wem er was erzählt hatte, sonst könnte es Unannehmlichkeiten geben.
Da waren die Geschichten aus seiner unseligen Kindheit mit vielen dramatischsten Ereignissen; Erlebnisse als Offizier in einem Sonder-Einsatz-Kommando oder als Kampf-Pilot in Afghanistan mit unzähligen Opfern; die Schilderung der Flucht aus Königsberg nach Deutschland durch den Fluss - nicht per Boot, nein, schwimmend…um dies zu überstehen hatte er sich zuvor mit Gänsefett eingerieben-; Geschichten über seine berufliche Karriere und ihr Ende als Ingenieur in Deutschland, nachdem sein in Estland (angeblich) absolviertes Studium Diplom hierzulande nicht anerkannt wurde…;
Seine größte Begabung war allemal das Erfinden von Geschichten. Sie waren dramatisch, spektakulär, unglaublich, heldenhaft und mitleiderregend. Es kamen Bösewichte, Ausbeuter, Menschenverächter und Schlächter darin vor, wie Unschuldige, Opfer, Hilflose und Gutmenschen. Er war dabei immer der Rächer der Gepeinigten oder selbst ein Gepeinigter. So erzählte er jeder Dame seine Helden- oder Opfergeschichten und sie hingen stundenlang wie hypnotisiert an seinen Lippen. Es war wie hineingerissen zu werden in die Abenteuer eines Helden mit gutem Charakter, der es verstand aus jeder Not eine Tugend zu machen.
Hätte er sie doch alle aufgeschrieben, seine Geschichten, er hätte viel Geld damit verdienen können, anstatt armen und gutgläubigen Frauen, die Mitleid mit ihm hatten, Geld abzuluchsen. So müssen andere seine Geschichten festhalten und aus ihm den Lügenbaron von Rafael machen.
Vermutlich glaubte Walter Rafael noch daran, dass er der Menschheit mit seinen Geschichten einen Gefallen tat, denn sie sorgten ja schließlich beim Publikum für beste Unterhaltung. Hörte man ihm zu, so hatte man den Eindruck, man wäre dabei, inmitten der Kriegswehen und Verbrechen. Und wo gibt es in unserer wohlstandsgeprägten Gesellschaft schon eine solche Gelegenheit, an einem derartigen Abenteuer teilzunehmen. Wahrscheinlich war es das, was die Frauen an ihm liebten. Nicht nur liebten, sie waren süchtig nach ihm und seinen fesselnden Geschichten, die sie aus ihrem eigenen langweiligen Leben heraus rissen und ihnen das Gefühl gaben, etwas Besonderes zu sein, weil er diese mit voller Inbrunst vor ihrem inneren Auge sichtbar werden ließ.
Außerdem war er ein hervorragender Visionär. So sagte er einmal zu Anna: „Ich baue uns ein Haus an der Krim am Schwarzen Meer. Ich werde dort für dich Tomaten züchten und du sitzt am Strand und lässt es dir gut gehen.“ Verführerisch schön war diese Vorstellung.
Er hatte aber auch belustigende Geschichten auf Lager. Eine davon ging wie folgt:
„Wir waren in Sibirien stationiert und warteten schon eine zeitlang auf neue Kommandos. Ich war der Offizier von einer Truppe von 36 Mann. Es waren drei Offiziere auf dem Stützpunkt. Eines Tages kam ein Kommandant zu mir und sagte: „Die Kippen müssen vom Hof verschwinden. Ich habe meine Leuten schon gemaßregelt und zum Putzdienst verdonnert. Nun sind Ihre Leute dran, Herr Rafael!“ Daraufhin überlegte ich mir eine kleine Strafe für meine Soldaten. Ich bestellte die Marschkapelle für drei Uhr nachts. Sie zog durch den Flur der Soldaten. Alle bekamen den Befehl, sich in 32 Sekunden anzuziehen. Ich lief in der Offiziersuniform vorneweg. Noch konnte niemand erkennen, was ich in der Hand hielt. Die Blaskapelle spielte einen Trauermarsch, alle Soldaten folgten mir marschierten über den Hof. Wir verließen den Stützpunkt und kamen auf ein freies Feld. Dort gab ich den Befehl zum Anhalten. Stillgestanden. Feierlich legte ich den Gegenstand zu Boden: Eine Kippe in einem Glas. Und sagte: Wir erweisen Dir die letzte Ehre, Du treuer Soldat. Dem Land gedient, für unser Land gefallen. Gehe ein in Frieden. Und wir feierten zu morgendlicher Stunde ein Kippen-Begräbnis. Meine Soldaten vergaßen nach dieser Nacht nie mehr ihre Kippen auf dem Hof.“
Die Praxis des Geschichten-Erzählens übte er schon seit frühester Kindheit aus, womit er einst seine Geschwister bestens unterhielt. Er hatte nur vergessen, damit aufzuhören als er in das Erwachsenenalter überging. Wenn ihn mal eine Dame fragte, warum er ihr nie Blumen mitbrachte, so entgegnete er:
„Ich hatte mal eine Freundin, die wollte von mir unbedingt Blumen haben. Ich sagte ihr jedoch: Was willst du mit den toten Blumen? Sie werden abgeschnitten und sterben bald. Du hast doch mich und ich lebe.
Doch sie wollte einfach nicht hören und bestand auf Blumen. Am Weihnachtstag kaufte ich also für ein ganzes Gehalt die Schnittblumen in einem Blumenladen auf und legte einen Weg zu ihr nach Hause. Überall waren Blumen. Ich ging in ihre Wohnung und verteilte sie. Die Straße und das Haus waren so mit Blumen überhäuft, dass man kaum noch wusste, wo man laufen sollte. Alles war ein einziges Blumenmeer.
Die Freundin habe ich danach nie wieder gesehen.“
Er, der große Zampano, war auch um keine Ausrede bei seinen Frauen verlegen und sagte, wenn eine ihn tagelang nicht erreichen konnte, er sei in eine Schlägerei gekommen und im Gefängnis gelandet oder er habe Depressionen bekommen und musste sie im Alkohol ersticken oder er brauche ab und zu eine Phase des Rückzugs. Oder er sei ziellos herumgelaufen und hätte sich auf irgendeinem Acker einer fremden Stadt wieder gefunden. Er war sehr erfinderisch, was sein Alibi anbelangte und klug genug, die jeweilige Frau richtig einzuschätzen, so dass sie das zu hören bekam, was sie als Grund akzeptieren würde.
Eine von ihnen machte ihm einige Zeit das Leben besonders schwer, denn sie schöpfte Verdacht und stellte ihn zur Rede. Sie war ohnehin die ungeduldigste und für ihn unberechenbarste, da sie schon mehrmals die Beziehung zu ihm beendet hatte. Und gerade sie liebte er am meisten. Wenn man es überhaupt Liebe nennen kann. Denn zu wahrer Liebe war er leider nicht fähig. Er wollte sie jedoch um keinen Preis verlieren, weil sie ihm sehr nah gekommen war und ihn mit seinen negativen Seiten konfrontierte. Es gelang ihm auch bei ihr sie von seiner Unschuld zu überzeugen. Er war ja ein großartiger Schauspieler und liebte es, in die unterschiedlichsten Rollen zu schlüpfen, z.Bsp in die des Unschuldslammes oder die des armen Opfers oder des vom Leben gestraften Menschen mit unerträglich schwerer Vergangenheit (oder entsprach dies ausnahmsweise mal der Realität?) oder in die des Helden.
Da er seine Frauen gut genug kannte, gelang es ihm stets, das von ihnen zu bekommen, was er wollte. Die eine hatte ein Helfersyndrom, die andere war eine Super-Mammy, die Nächste eine erstklassige Geliebte, eine weitere bot ihm die Sicherheit der Familie. Doch eines war ihnen gemeinsam. Sie waren alle vertrauensselig, mit großer Geduld und Einfühlsamkeit beschenkt.
Auch für das geschulte Auge eines Aussenstehenden war es kein Kinderstück, den Wahrheits- oder Lügenanteil seiner Geschichten auch nur ungefähr zu bestimmen. So gab es schon auch mal eine Frau, die sich irgendwann nicht mehr fragte, ist es wahr oder nicht, sondern es als gegeben hinnahm und im ärgsten Fall war es eben eine Lüge. Nach dem Motto: Lieber mit einem interessanten Lügner zusammen sein als mit einem ehrlichen Langweiler.
Langweilig jedenfalls wurde es mit Walter nie. Er wollte auch keiner sein. Weder ein Langweiler noch sonst ein durchschnittlich normaler Mensch, berechenbar und zuverlässig.
Sein Motto war: Lebe wild und gefährlich! Er sprang gerne von hohen Brücken in den Fluss , machte anrüchige Bekanntschaften und trank viel Wodka, bestieg den Mount Everest um mit dem Fallschirm herunterzuspringen, startete irgendein fremdes Flugzeug, um die Welt von oben zu sehen, spielte in Schlägereien den Helden, fuhr ohne Führerschein Auto, lief nackt durch den Regen, und konnte viele Leben führen.
Doch ob sein Leben wirklich so wild und gefährlich war, sei dahin gestellt. Vielleicht war auch das nur seiner Phantasie entsprungen.
Walter Rafaels viele Leben und Lügen wären auch niemandem weiter aufgefallen, wenn er nicht eines Tages von zwei Kerlen, die vermutlich seine Hochstaplereien (die Männer fielen nie darauf herein…) und satt hatten, in seiner eigenen Wohnung zusammengeschlagen worden wäre und sich einige Zeit später in noch immer alkoholisiertem Zustand im Krankenhaus wiedergefunden hätte.
Völlig unerwartet standen am dritten Tage seines Aufenthaltes Fünf vor seinem Bett. Die Lena, die ihn immer so gut bekocht, die Maria, die ausgezeichnet zuhören kann, die Sylvia, die ihm seine Laster und vieles mehr finanziert, die Ortrud, die für ihn den Bürokram erledigt, die Annika, die ihm Familie und ein Gefühl der Geborgenheit vermittelt und die Linda bei der er übernachtet, wenn er volltrunken seinen Schlüssel verlegt hat…
Alle waren sie da und standen um sein Bett herum um ihn zu begutachten. Ausweglosigkeit machte sich in ihm breit. Schlimm genug, dass er im Krankenhaus liegen musste, denn er hasste nichts mehr als den Zustand der Hilflosigkeit. Nein, es kam noch schlimmer: Nun traten all seine Frauen auch noch gleichzeitig auf den Plan.
Das war gegen sein Drehbuch. Ihm hatte das Schicksal übel mitgespielt.
Alle fünf standen nun da und sahen ihn belustigt an. Eine von ihnen gab ihm eine Schriftrolle in die Hand und sagte:
„Eine kleine Geschichte, für Dich geschrieben. Sie handelt von einem Mann der auf allen Hochzeiten gleichzeitig tanzt und dabei seine eigene versäumt.“
Als sie es ausgesprochen hatte, drehten sich alle Fünf wie auf Kommando um und wünschten ihm gute Genesung.
Er hingegen, sah ihnen noch lange nach.