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Die Erlösung
Der Vollmond wirft sein bleiches Licht auf die aufgewühlte See. Wie funkelnde Diamanten reflektiert die schäumende Gischt das Mondlicht, dort, wo die Brandung auf die schroffen Klippen trifft.
Hoch über den tosenden Wellen steht die Gestalt einer jungen Frau am Rand des Abgrunds. Der Wind zerrt gierig an ihrem langen Haar und dem weißen Kleid.
Eine Wolke schiebt sich vor den Mond, gerade als eine zweite Gestalt hinter den Felsen hervortritt. Ein hochgewachsener Mann in einem dunklen Umhang nähert sich langsam der Frau, die vor ihm zurückweicht. Harsche Worte scheinen gewechselt zu werden, doch sie sind über das Donnern der Brandung hinweg nicht zu hören.
Was immer die Frau auch sagt, der Mann wird immer wütender, sein Gesicht verzerrt sich vor Zorn, und er streckt die Arme zum Himmel. Seine Lippen bewegen sich, doch wieder werden die Worte vom Wüten des Meeres und dem stärker werdenden Geheul des Windes übertönt.
Die Frau wendet sich zur Flucht, doch mit zwei schnellen Sprüngen ist der Mann bei ihr. Das Licht des herabzuckenden Blitzes spiegelt sich auf glänzendem Stahl. Ein Donnerschlag dröhnt durch die stürmische Nacht, und nur kurz ist der weißgekleidete Körper noch zu sehen, bevor die entfesselten Fluten ihn verschlingen …
****************
Mit einem Keuchen fuhr Sarah aus dem Schlaf. Draußen war es noch dunkel, und der Wind zerrte an dem alten Haus. Sarah machte die Nachttischlampe an und sah auf die Uhr. 5:48 Uhr.
„Toll, mitten in der Nacht.“
Doch trotz der frühen Stunde war an Schlaf nicht mehr zu denken. Seitdem sie vor vier Tagen auf der Insel angekommen war, wurde sie jede Nacht von dem gleichen Traum geplagt. Obwohl kein Alptraum im eigentlichen Sinne, erfüllte er sie mit einem Gefühl tiefer Traurigkeit, das ein Wiedereinschlafen unmöglich machte.
Nach einer schnellen Dusche und dem Blick aus dem Fenster, der verriet, dass es zur Abwechslung einmal nicht regnete, beschloss Sarah, die Zeit bis zum Frühstück zu nutzen und das nahe Umland zu erforschen. Bisher hatte sie nur die weiter entfernten Sehenswürdigkeiten besucht und die vor der Haustür liegenden Ziele ignoriert.
Es war noch immer dunkel, aber der Himmel war relativ klar, und der Vollmond spendete gerade genug Licht, dass Sarah den Weg und die nähere Umgebung erkennen konnte. Der Boden war noch nass vom Regen des vergangenen Abends, und links und rechts des Weges liefen kleine Rinnsale über den weichen Moorboden. Das Glucksen des Wassers wurde vom an- und abschwellenden Rauschen des Windes fast übertönt.
Ein Stück vor sich sah Sarah die Überreste der alten Burg auftauchen, die sich an den Rand der Steilküste drängten. Einst ein stolzes Bollwerk, waren die Mauern der Festung im Laufe der Jahrhunderte von den ungezügelten Elementen abgetragen worden, bis nur noch einzelne Mauerreste übrig waren. Im spärlichen Licht des Vollmonds wirkte die Ruine wie der kauernde Körper eines urzeitlichen Drachens, der zum Sprung bereit auf den Klippen wartete.
Sarah gelangte an den Zaun, der den Küstenpfad vom Gelände der Burgruine trennte. Sie zögerte einen Moment und stieg dann mithilfe des Trittbrettes hinüber. Der Kiesweg endete am Zaun, und dahinter führte nur ein ausgetretener Pfad zur Ruine. Vorsichtig ging Sarah den Weg hinab. Die Klippen waren zwar ein ganzes Stück entfernt, aber der Boden war hier uneben und durch die Nässe sehr rutschig.
Sarah suchte sich vorsichtig einen Weg durch die Ruinen, bis sie am höchsten Punkt der Burg angelangt war. Zur einen Seite bildeten die Überreste einer Mauer einen Schutz gegen den Wind, zur anderen Seite bot sich ein offener Blick auf das Meer hinaus. Am fernen Horizont ließ sich bereits der erste Schimmer der nahenden Dämmerung erahnen. Sarah setzte sich auf einen großen Stein im Schutz der Mauer und beschloss, hier auf den Sonnenaufgang zu warten.
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Sarah wusste nicht genau, wie lange sie dort gesessen und auf das Meer hinausgeschaut hatte, als sie zu frösteln begann. Obwohl der Wind eher nachgelassen hatte, wurde es plötzlich eiskalt, so dass Sarah die kleinen Wölkchen sehen konnte, die ihr Atem in der klaren Luft hinterließ.
Das Plätschern der kleinen Rinnsale zwischen den Mauerresten und das Geräusch der Brandung erschienen dumpfer als zuvor, als würden sie von weit her ertönen.
Aus den Augenwinkeln glaubte Sarah eine Bewegung zu sehen, doch als sie den Kopf drehte, war dort nichts.
„Hallo! Ist da jemand?“, rief sie.
Nichts. Langsam stand sie auf und trat einige Schritte nach vorne. Plötzlich hatte sie das Gefühl angestarrt zu werden. Ein kalter Lufthauch strich über ihren Nacken.
Als sie sich erschrocken herumdrehte, rutschte ihr Fuß auf dem nassen Boden weg. Mit wild rudernden Armen gelang es Sarah für einen kurzen Moment das Gleichgewicht zu halten, bevor sie endgültig wegrutschte und kopfüber den kleinen Hang vor der Mauer herunterschlitterte.
Benommen lag Sarah einen Moment auf dem nassen Boden, bevor sie sich erinnerte, was sie ursprünglich in diese Situation gebracht hatte. Ruckartig drehte sie sich auf den Rücken und sah zu dem Mauerrest hinauf, vor dem sie eben noch gesessen hatte.
Dort sah sie die Gestalt einer jungen Frau, kaum mehr als ein Mädchen, mit langen dunklen Haaren, gekleidet in ein fließendes weißes Kleid. Die Frau war sehr blass, und die Haare und das Kleid, die sich sacht im Wind bewegten, sahen feucht aus, so als habe sie in der Gischt der Brandung gestanden. Um ihren Hals trug sie eine Kette mit einem silbernen Anhänger, der matt im Mondlicht schimmerte. Ein leichtes Leuchten schien den Körper der geheimnisvollen Frau zu umgeben, und nach einem kurzen Moment erkannte Sarah, dass sie die Wand hinter der Frau sehen konnte - durch ihren Körper hindurch.
Sarah fuhr erschrocken zusammen und wich, auf Händen und Füßen krabbelnd, ein Stück von der Erscheinung zurück. Die Frau machte keine Anstalten Sarah zu folgen, streckte aber die rechte Hand nach ihr aus. Ein Ausdruck von Traurigkeit lag auf ihrem Gesicht. Sie schien etwas sagen zu wollen, ihre Lippen bewegten sich, aber kein Ton erklang. Ein Windstoß wirbelte das Haar der Frau auf, für einen Moment schien ihr Gesicht im ersten Licht der aufgehenden Sonne zu strahlen, dann war sie verschwunden.
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Sarah öffnete leise die Tür des Hauses, in der Hoffnung, schnell auf ihrem Zimmer verschwinden und sich umziehen zu können, bevor Mrs Adamson sie sah. Doch gerade als sie den Fuß auf die erste Treppenstufe setzte, erklang die Stimme ihrer Vermieterin hinter ihr.
„Guten Morgen, Sarah. So früh schon unterwegs heute? Da haben Sie sich das Frühstück … oh, was ist denn mit Ihnen passiert? Sind Sie gestürzt?“
Sarah sah erst an ihrer dreckigen und nassen Figur hinunter und dann in das besorgte Gesicht der älteren Dame.
„Ich bin auf dem nassen Gras ausgerutscht und gefallen. Es ist aber nichts weiter passiert, ich bin nur ein bisschen dreckig“, versicherte sie der besorgten Frau.
„Dann ziehen Sie sich mal um, damit Sie nichts wegholen. Und dann trinken Sie erstmal einen schönen heißen Tee!“ Mit diesen Worten machte Mrs Adamson eine auffordernde Handbewegung in Richtung der Treppe und verschwand dann in der Küche.
Nachdem sie sich gewaschen und trockene, saubere Kleidung angezogen hatte, ging Sarah hinunter in das Esszimmer, wo bereits der gedeckte Frühstückstisch auf sie wartete. Kaum hatte sie sich gesetzt, kam auch schon ihre Vermieterin mit einer dampfenden Kanne, um ihr Tee einzugießen.
Dankbar wollte Sarah einen Schluck des heißen Tees trinken. Ihre Hand zitterte jedoch so sehr, dass dieser sofort über den Tassenrand schwappte. Klimpernd stellte Sarah die Tasse zurück.
Anscheinend hatte Mrs Adamson ihr Ungeschick bemerkt. „Geht es Ihnen gut, mein Kind?", fragte sie besorgt. „Sie sehen sehr blass aus, und Sie zittern ja.“
„Es geht mir gut, Mrs Adamson, der Sturz steckt mir wohl doch mehr in den Knochen als ich dachte.“
Sarah zögerte kurz und fuhr dann fort: „Was hat es eigentlich mit den Ruinen an den Klippen auf sich? Das ist ja ein ziemlich unheimlicher Ort.“
Mrs Adamson sah Sarah erstaunt an. „Sagen Sie bloß, da waren Sie heute Morgen? Das ist aber nicht ganz ungefährlich, dort im Dunkeln an den Klippen entlang zu wandern. Außerdem soll es da spuken.“
Sarah zuckte fast unmerklich zusammen. „Tatsächlich? Wer spukt denn dort?“
Die alte Dame sah sie einen Moment an und setzte sich dann auf einen der Stühle am Esstisch.
„Natürlich gibt es überall im Land, bei jeder Burg und Ruine, Geschichten über Geister und Gespenster“, begann sie. „Üblichweise über eine weiße Dame. Auch über die Ruinen an den Klippen gibt es eine Legende, die seit Generationen von den Dorfbewohnern weitergegeben wird.
Vor langer Zeit lebte an dem Ort, an dem später einmal die Burg gebaut wurde, ein mächtiger Mann. Er war ein Fremder hier auf der Insel, irgendwo aus dem Süden, und die Menschen sagten ihm nach, er habe besondere Kräfte. Damals wurde die Insel von zwei großen Familien beherrscht, und um seinen Einfluss auszubauen, plante der Fremde, die Tochter einer dieser Familien zur Frau zu nehmen. Da der Mann sehr reich war und der Familie des Mädchens ein lohnenswertes Angebot machte, stimmte der Vater zu, unter der Voraussetzung, dass das Mädchen Caitlin einverstanden sei. So begann der Fremde, dem Mädchen den Hof zu machen.
Doch Caitlins Herz gehörte einem anderen, Calum, einem jungen Schmied aus dem Dorf unten an der Bucht. Er war ein einfacher Mann, und seine Familie hatte keinen Einfluss, aber ihn und Caitlin verband eine Liebe, die stärker war als Geld und Macht. Als Zeichen seiner unsterblichen Liebe, so sagt die Legende, schmiedete er ihr ein silbernes Schmuckstück, in das all seine Gefühle, all sein Können und seine Kunstfertigkeit einflossen.
Der Fremde war außer sich vor Wut, als Caitlin seinem Drängen nicht nachgab, und er folgte ihr an die Klippen, um sie zur Rede zu stellen. Als sie sich ihm widersetzte und ihm sagte, sie liebe einen anderen, rief er in seinem Zorn, wenn er sie nicht haben könne, dann solle sie niemand haben, bis in alle Ewigkeit. Dann erstach er sie und stürzte ihren Körper von den Klippen.
Als Caitlins Familie erfuhr, was der Fremde getan hatte, zogen ihr Vater und ihre Brüder zum Haus des Fremden und verbrannten es mit ihm darin.
Der junge Schmied Calum aber konnte den Tod seiner Geliebten nicht ertragen und stürzte sich von den Felsen.
In stürmischen Nächten kann man manchmal Caitlins Geist an den Klippen sehen, auf der Suche nach ihrem geliebten Calum.
Zumindest Caitlin scheint es übrigens tatsächlich gegeben zu haben, denn ihr Grabstein ist noch heute auf dem alten Friedhofs unten im Ort zu finden.“
Sarah schwieg einen Moment, dann fragte sie: „Und was ist aus Calum geworden? Hat man ihn auch gefunden?“
„Ja, aber Selbstmord galt damals als Sünde, und so wurde Calum ein Begräbnis auf geheiligtem Boden verwehrt. Er wurde unten in der Bucht begraben.“ Mrs Adamson sah Sarah einen Moment an und fuhr dann fort: „Aber natürlich ist das alles nur eine Legende, denn Geister gibt es ja nicht wirklich, oder?“
Sarah zwang sich zu einem Lächeln und sagte: „Richtig, Geister gibt es nicht. Aber die Ruinen sind trotzdem ganz schön unheimlich.“
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Nach einem Frühstück, das Sarah eher ihrer freundlichen Vermieterin zuliebe aß als aus Appetit, zog sie sich auf ihr Zimmer zurück, wo sie sich gedankenverloren auf ihr Bett sinken ließ.
Was hatte das alles nur zu bedeuten? Erst der wiederkehrende Traum, dann diese Erscheinung in den Ruinen. Hatte sie das auch nur geträumt, eingelullt vom Rauschen des Windes und vom Geräusch der Brandung? Aber wieso hatte sie den Traum jede Nacht, seitdem sie angekommen war?
Mrs Adamson hatte gesagt, Caitlins Grabstein sei auf dem Friedhof zu finden. Sarah beschloss, in das Dorf an der Bucht hinunter zu gehen und sich das Grab anzuschauen.
Inzwischen hatten sich die Regenwolken endgültig verzogen, und das Sonnenlicht tauchte die Landschaft in warme Grün- und Braunschattierungen. Der frische Wind trug den Geruch des Meeres mit sich, und als Sarah sich dem Dorf näherte, konnte sie das Salz in der Luft schmecken.
In einem Land wie diesem fällt es leicht, an Geister zu glauben, dachte Sarah.
Nach einem kurzen Spaziergang war sie an der kleinen steinernen Kirche und dem Friedhof angekommen. Als sie zwischen den Reihen alter, teilweise halb umgekippter Grabsteine hindurchging, versuchte sie die Namen und Daten darauf zu entziffern. Einige dieser Grabmale waren mehrere Jahrhunderte alt.
Schließlich, im Schatten eines knorrigen Baumes, fand Sarah, wonach sie gesucht hatte. Einen Grabstein mit der kaum noch lesbaren Inschrift von Caitlins Namen und einer schwarz-metallischen Verzierung in der Mitte.
Sarah blieb eine Zeit lang vor dem Grab stehen und dachte darüber nach, ob sie wohl tatsächlich den Geist der jungen Frau gesehen hatte, die hier seit Jahrhunderten begraben lag. Jetzt, im klaren Sonnenlicht, erschien ihr dieser Gedanke immer fantastischer und abwegiger.
Schließlich drehte sie sich herum und verließ den Friedhof mit seinen steinernen Erinnerungen an die Menschen, die hier einst gelebt hatten.
Fast ohne ihr Zutun führte sie ihr Weg an die Bucht, wo sie dem ausgetretenen Weg am Strand entlang folgte. Der Pfad wurde immer schmaler, während er die höher werdenden Klippen hinauf führte, bis Sarah vor sich die Ruinen hoch über dem Meer auftauchen sah. Auch wenn ihr der Gedanke an Geister inzwischen fast lächerlich vorkam, spürte Sarah trotzdem Widerwillen, den Weg durch die Ruinen zu nehmen, wo sie am Morgen die unheimliche Begegnung gehabt hatte – nein, wo sie eingeschlafen war und das alles geträumt hatte! wies sie sich in Gedanken selbst zurecht. Stattdessen beschloss sie, den Weg zurück zum Dorf zu nehmen und von dort entlang der Straße zum Haus zurück zu gehen.
Bevor sie den Rückweg antrat, ließ sie sich auf einem halb überwucherten Stein neben dem Pfad nieder, um eine kurze Pause einzulegen und den Blick über das Meer zu genießen.
Gedankenverloren spielte sie mit ihrem Zimmerschlüssel, den sie aus der Hosentasche gezogen hatte, während sie auf das Meer hinaus sah und dem rhythmischen Geräusch lauschte, mit dem die Wellen auf den Strand trafen. Plötzlich fiel ihr der Schlüssel aus der Hand, und als sie aufstand und sich bückte um ihn aufzuheben, fiel ihr Blick auf den Stein, auf dem sie gesessen hatte. Im vorderen Bereich war etwas eingraviert. Sarah wischte mit der Hand über die verwitterte Oberfläche, um den gröbsten Schmutz zu entfernen und die Inschrift besser lesen zu können. Die Buchstaben waren kaum noch zu erkennen, doch als sie die Linien mit dem Finger nachfuhr, erkannte sie den Namen. Calum. Der junge Schmied, der sich, zutiefst verzweifelt über den Tod seiner geliebten Caitlin, von den Klippen gestürzt hatte, und dem ein Begräbnis auf dem kirchlichen Friedhof im Dorf verwehrt geblieben war. Also gab es die Gräber von Caitlin und Calum wirklich, und zumindest ein Teil der alten Geschichte schien bestätigt zu sein. Was, wenn auch der Rest der Wahrheit entsprach und Caitlins Geist wirklich verloren über die Klippen irrte?
Mit diesen Gedanken im Kopf kehrte Sarah in ihre Unterkunft zurück.
Langsam machte sich der Schlafmangel der vergangenen Tage bemerkbar, und sie beschloss, sich für eine Weile hinzulegen und den verlorenen Schlaf nachzuholen.
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Die junge Frau steht an den Klippen, der Wind spielt mit ihrem Haar und dem weißen fließenden Kleid. Das fahle Mondlicht spiegelt sich auf dem silbernen Anhänger, den sie an einer Kette um den Hals trägt. Caitlins Gesicht trägt einen Ausdruck von tiefer Traurigkeit. Eine einzelne Träne läuft ihre Wange hinunter und tropft von ihrem Kinn auf den silbernen Anhänger auf ihrer Brust. Der Tropfen auf dem glänzenden Silber reflektiert einen Mondstrahl wie ein funkelnder Diamant …
Als Sarah dieses Mal aus dem Schlaf hochfuhr, geschah dies nicht mit einem Gefühl des Erschreckens oder auch nur der Traurigkeit, sondern mit einer neuen Erkenntnis und einem Gefühl des Verstehens.
Ein Blick aus dem Fenster zeigte, dass inzwischen die Dämmerung hereingebrochen war. Entschlossen sprang Sarah aus dem Bett und zog schnell die warmen Sachen über, die sie bereits am Vormittag getragen hatte. Als sie ihre dicken Wanderschuhe anzog, empfand sie für einen kurzen Moment wieder Verunsicherung. Was tat sie hier eigentlich? Geister, eigenartige Träume einer fremden Vergangenheit … Sie war doch eine aufgeklärte Frau des 21. Jahrhunderts …
Dann erinnerte sie sich an die tiefe Traurigkeit, die sie selbst nach den Träumen der letzten Nächte empfunden, und die sie an diesem Abend in dem neuen Traum auf Caitlins Gesicht gesehen hatte, und die Verunsicherung verschwand so schnell, wie sie gekommen war.
Sarah ging zur Tür, zögerte, und ging dann mit schnellen Schritten zum Schrank, wo sie eine Taschenlampe und ihr Allzweckmesser aus einer Tasche ihres Reiserucksackes nahm.
Als sie dieses Mal leise die Treppe hinunter ging, hatte sie Glück. Mrs Adamson war nirgendwo zu sehen. Eigentlich war es egal, aber Sarah wollte der mütterlichen alten Dame nicht erklären müssen, was sie jetzt am Abend noch plante, und dass sie nicht die geringste Ahnung hatte, wann sie zurück sein würde.
Als Sarah an dem knorrigen alten Baum ankam, unter dem Caitlins Grabstein stand, war es bereits dunkel geworden. Sie knipste die Taschenlampe an und leuchtete mit dem Lichtstrahl auf die metallische Verzierung in der Mitte des Grabsteines. Im Laufe der Jahrhunderte war das Silber schwarz angelaufen, aber nachdem Sarah mit einem Taschentuch den gröbsten Schmutz weggewischt hatte, konnte sie die verschlungenen Formen erkennen. Dies war tatsächlich der Anhänger, den Caitlin in Sarahs Traum getragen, und den Calum ihr der Legende nach zum Zeichen seiner ewigen Verbundenheit geschenkt hatte.
Sarah kniete sich hin und legte die Taschenlampe auf den Boden vor dem Grabstein, so dass der helle Lichtstrahl direkt darauf fiel. Dann griff sie in ihre Jackentasche, holte das Messer hervor und klappte es auf. Als sie die Messerspitze am Rand des Schmuckstücks ansetzte, zögerte sie. Sie stand gerade im Begriff, die Verzierung eines Grabsteins herauszubrechen. Fiel das unter Grabschändung? Sarah zog die Hand mit dem Messer zurück und starrte auf den Stein.
Das Geräusch von Schritten ließ sie zusammenzucken. Reflexartig griff sie nach der Taschenlampe und schaltete sie aus. Die Schritte schienen näher zu kommen. Sarah hielt den Atem an und lauschte.
Nichts geschah. Kein Schatten erhob sich drohend über dem Grabstein, um sie dann mit scharfer Stimme zu fragen, was sie im Dunkeln mit einem Messer in der Hand auf einem Grab kniend zu suchen hatte. Das Knirschen der Schritte auf den Kieseln wurde wieder leiser, und schließlich drang das Geräusch einer schweren Tür, die ins Schloss fiel, von der Kirche herüber.
Sarah atmete auf. Sicherheitshalber wartete sie noch einen Moment, bevor sie die Taschenlampe wieder anschaltete.
Plötzlich kam sie sich albern vor. Hier kniete sie nachts auf einem Friedhof und plante, einen Grabstein zu beschädigen. Und warum? Weil sie auf Grund eines Traumes glaubte, damit einem ruhelosen Geist endlich Frieden schenken zu können.
Langsam fuhr Sarah mit der Fingerspitze die verschlungenen Linien des keltischen Knotens nach, der in den Grabstein eingelassen war. Ein Symbol der Ewigkeit, das vor Jahrhunderten als Zeichen der unsterblichen Liebe geschaffen und verschenkt worden war.
Sarah erinnerte sich an Caitlins Gesicht in ihrem letzten Traum und an die Traurigkeit, die sie selbst gespürt hatte. Ihre Mutter hatte immer gesagt, dass Sarah schon als Kind ungewöhnlich empfänglich für die Stimmungen und Gefühle anderer Menschen gewesen sei, und dass es sich bei dieser Begabung um ein Geschenk handelte.
Ein Gefühl von Wärme schien sich von der Fingerspitze, mit der Sarah noch immer das alte Schmuckstück berührte, über ihren Arm in den Rest des Körpers auszubreiten. Plötzlich war sich Sarah sicher, dass der letzte Traum eine besondere Bedeutung hatte, und dass der silberne Anhänger vor ihr tatsächlich die Lösung war.
Von neuem Selbstvertrauen erfüllt, versuchte Sarah behutsam, das alte Schmuckstück mit dem Messer aus seiner Verankerung im Stein zu lösen. Mehrere Male glitt die Klinge ab, aber schließlich löste sich der Anhänger und fiel in das Gras vor dem Grabstein. Sarah nahm das Schmuckstück in die Hand und betrachtete es. Es war ein wunderschöner Anhänger, die Linien aus Silber in perfekten Bögen kunstvoll und filigran miteinander verwoben. Sarah konnte auch im Licht der Taschenlampe nicht erkennen, wo Anfang und Ende miteinander verbunden waren. Ein perfektes Symbol der Unendlichkeit.
Schließlich schob Sarah das Schmuckstück in ihre Jackentasche, erhob sich und verließ den Friedhof in Richtung der Bucht.
Menschenleer lag der Strand vor ihr, als sie den schmalen Pfad zu den Klippen hinaufging. Das Rauschen der Wellen war das einzige Geräusch in der Dunkelheit. Auch der Wind, der die ganzen letzten Tage geweht hatte, war zu einer lauen Brise abgeklungen.
Vor Calums Grabstein ließ sich Sarah auf die Knie sinken. Für einen kurzen Moment betrachtete sie den verwitterten Stein, dann begann sie vorsichtig, mit ihrem Messer die kurzen Ranken zu entfernen, die daran emporgewachsen waren, und die den unteren Teil fast verdeckten. Dann grub sie mit dem Messer und schließlich mit den bloßen Händen ein kleines Loch direkt vor dem Grabstein.
„… aber ihn und Caitlin verband eine Liebe, die stärker war als Geld und Macht“, kamen ihr die Worte ihrer Vermieterin in den Sinn. „Und stärker als sogar der Tod“, flüsterte Sarah, als sie den silbernen Anhänger in das Loch legte, das sie gerade gegraben hatte, und begann dann, es wieder mit Erde zu füllen.
„Hoffentlich seid Ihr wenigstens jetzt vereint, auch wenn es Euch im Leben nicht vergönnt war“, murmelte Sarah, als sie Steine auf das zugeschüttete Loch legte und einige der Ranken wieder darüber zog.
Ein plötzlicher Windstoss fuhr durch das kurze Gras und wirbelte Sand von den nahe gelegenen Klippen auf. Das Rauschen der Wellen schien zuzunehmen, und als Sarah sich erhob, glaubte sie aus den Augenwinkeln eine Bewegung zu sehen.
Sie drehte sich in Richtung der alten Burg, die ein Stück den Pfad hinauf entlang lag, und trotz der Entfernung konnte Sarah die weißgekleidete Gestalt sehen, die dort oben an den Klippen stand. Ihren Gesichtsausdruck konnte Sarah nicht erkennen, aber das Gefühl von Traurigkeit war verschwunden und einer Aura des Glücks gewichen. Als die Gestalt den rechten Arm hob um Sarah zuzuwinken, glaubte sie für einen Moment eine zweite Figur an Caitlins Seite zu sehen, die ihren Arm um die Hüfte des Mädchens gelegt hatte.
Ein zweiter heftigerer Windstoss wirbelte noch mehr Sand in Sarahs Gesicht, so dass sie die Augen schließen musste. Als sie sie wieder öffnete, lag das Gelände der Ruine wieder verlassen da.