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Die falsche Route
Es war Sonnabend morgens und erst kurz vor sieben Uhr, doch schon reihte sich auf der rechten Spur der Autobahn ein Lastwagen an den anderen.
„Vielleicht sollten wir lieber die Landstraße nehmen.“, schlug Norbert vor und schaltete das Radio ein.
„Warum?“, fragte seine Frau Silke. Sie schaute kurz von ihrer Tasche mit den Frühstücksbroten auf, überblickte die Autobahn und schüttelte den Kopf. „Es ist doch alles frei.“
„Ja, schon.“, erwiderte Norbert und warf einen skeptischen Blick auf die Lastwagen, die er gerade überholte. „Aber wer weiß, wie lange noch?“
Lächelnd schaltete Silke den Verkehrsfunk auf automatische Wiedergabe. „Mensch, wenn das alles ist ...“
Nein, das war nicht alles! Lautlos seufzend rollte Norbert die Augen. Noch aber gab er sich nicht geschlagen. „Über Land ist die Gegend sehr viel abwechslungsreicher.“
Doch Silke winkte energisch ab.
„Du siehst doch jetzt sowieso nichts.“, sagte sie und reichte Norbert einen Apfel, in den er frustriert hinein biss.
Silke lehnte sich entspannt in ihrem Sitz zurück und begann zu erzählen, was sie im Harz alles machen wollte, wobei sich ihre Stimme mit der Musik aus dem Radio vermischte: „Dein Dornröschen ist aufgewacht auf dem Hexentanzplatz, dein Dornröschen hat nachgedacht über das Josephskreuz ... und was hast du vor?“
„Das möchte ich auf mich zukommen lassen.“, antwortete Norbert.
Wozu schickten sie ihre beiden Söhne an die Ostsee in ein Ferienlager, wenn sie dann immer noch jede Sekunde ihres Urlaubs verplanten?
„Du wirst doch wohl wissen, was du im Urlaub machen willst!“, drängte Silke. „Also?“
„Ich möchte den ganzen Tag mit dir im Bett liegen und einfach nur sein.“, gab Norbert zögernd zu.
Sein Traumurlaub würde damit beginnen, dass er sämtliche Uhren in seinem Umfeld in einem See versenkte und dann danach lebte, was sein Gefühl ihm sagte.
Silke lachte. „Das wäre ja ein wirklich toller Urlaub!“
„Ja.“, seufzte Norbert. „Das wäre es.“
Der Apfel geriet Silke samt Lachen in die falsche Kehle. Hustend senkte sie ihren Blick und kramte solange hektisch in ihrer Handtasche, bis sie Taschentücher gefunden hatte.
„Wenn du das möchtest, können wir natürlich morgens länger im Bett liegen bleiben.“, sagte sie schließlich. „Aber was stellst du dir für den Tag vor?“
„Ich weiß es wirklich noch nicht.“
Ratlos zuckte Norbert mit den Schultern, und wie eine besorgte alte Tante legte ihm Silke eine Hand auf ein Knie.
„Was ist denn los mit dir, hm?“, wollte sie wissen.
„Warum können wir nicht einfach einmal spontan entscheiden, was wir tun wollen?“, platzte es aus Norbert heraus.
Als er sich auf die Zunge biss, war es zu spät. Silke musterte ihn schweigend.
Dann zog sie eine Karte aus dem Handschuhfach und studierte sie aufmerksam, wobei sich ihre Zungenspitze einen Weg in den rechten Mundwinkel bahnte. „Da vorn kannst du abfahren.“
Norbert zwinkerte verblüfft, denn Silkes Sinneswandel kam so plötzlich, dass er meinte, sich einfach nur verhört zu haben. „Bitte?“
„Du kannst da vorn abfahren.“, wiederholte Silke ruhig. „Natürlich nur, falls dir das spontan genug ist.“
Entspannt ließ sie die Karte auf ihre Knie sinken.
Doch seitdem sie auf die Landstraße abgebogen waren, hielt Silke die Karte wieder fest im Griff und diktierte Norbert den Weg.
Oder sie jonglierte mit Zahlen: „Wenn wir um zehn Uhr im Hotel ankommen, könnten wir um zwölf an der Talsperre sein.“ Norbert schwieg und wandte seinen Blick in den Himmel, dessen eben noch tiefschwarzes Gewand sich immer mehr lichtete, weil die aufgehende Sonne unermüdlich rote und goldene Bordüren hineinstickte. Was würde passieren, wenn plötzlich jemand der Sonne vorzuschreiben versuchte, wie viel Himmel sie in einer Stunde zu erhellen hatte? Würde sie sich fügen? Oder gäbe es dann keinen Sonnenaufgang mehr?
„Wir könnten aber auch um eins mit der Harzquerbahn fahren.“, drang Silkes Stimme in seine Gedankengänge. „Was meinst du?“
Norbert stand plötzlich kurz davor, den Wagen einfach in den nächsten Graben zu fahren. Dann konnte sich Silke ihre Planung sonst wohin stecken.
Statt dessen starrte er auf das weiße Hinweisschild „Aussichtsturm“ am Straßenrand und atmete tief ein. „Bitte, Silke. Jetzt lass uns doch erst einmal in Ruhe ankommen! ... Und eine Pause machen.“
„Es hat noch niemanden geschadet, wenn er schon vorher einen Plan hatte.“ gab Silke zurück. „Und ausruhen kannst du dich, wenn wir angekommen sind. Du weißt ...“
„... wir müssen um zehn Uhr im Hotel sein.“, knurrte Norbert. „Es fehlt wirklich nur noch die Stechuhr!“
„Jetzt hab dich doch nicht so.“, sagte Silke.
Abrupt trat Norbert auf die Bremse und wendete den Wagen.
Nun sah Silke entsetzt von ihrer Karte auf. „Was machst du?“
„Ich plane, mich auszustechen und eine Pause einzulegen!“, sagte Norbert und fuhr in den kleinen Sandweg, an dessen Ende sich ein Turm als dunkler Schatten vor dem Morgenhimmel abzeichnete.
Sofort hämmerte Silke einen ärgerlichen Rhythmus auf das Armaturenbrett. „Norbert! So kommen wir nie pünktlich an.“
„Dann rufst du eben an.“, schlug Norbert vor. „Die Visitenkarte vom Hotel hast du doch wie immer bestimmt dabei.“
„Ich rufe nirgendwo an!“, sagte Silke und musterte ihn kühl. „Ich will um zehn Uhr ankommen, und du hast zwei Alternativen: entweder drehst du um, oder du steigst aus und ich fahre alleine!“
Norbert schulterte seinen Rucksack und ging davon, ohne sich noch einmal nach Silke umzudrehen. Sollte sie doch machen, was sie wollte! Als das Motorengeräusch in seinem Rücken verklang, hatte er den Aussichtsturm erreicht und ballte seine Fäuste. Plötzlich verspürte er nicht mehr die geringste Lust, den Turm zu besteigen, denn diejenige, mit der er die Freude über eine fantastische Aussicht teilen konnte, fehlte. Mit hängenden Schulter ging Norbert den kleinen Sandweg zurück, bis er es sich anders überlegte und sich in das Gras einer kleinen Blumenwiese fallen ließ.
„Das ist ein Krokodil, und da nähert sich eine Ente, die gleich vom Krokodil aufgefressen wird ... Mist!“
Noch im Liegen zog Norbert sein Handy aus der Tasche und starrte es an. Warum klingelte es nicht? Egal! Er sprang auf, riss seinen Rucksack aus dem Gras und rannte den Rest der Strecke bis zur Landstraße. Der nächste Ort war nur wenige Kilometer entfernt. Er würde sich ein Zimmer mieten, seine Uhr weglegen und dann tun, was er wollte. Frühstück um Mitternacht, Sekt zum Frühstück. Das war allein ziemlich langweilig. Gut, dann ging er eben zum nächsten Bahnhof und fuhr nachhause. Oder aber er rief Silke an. Doch was sollte er ihr sagen? ‚Schatz, du kannst so viel planen, wie du willst. Hauptsache, du bist bei mir!’? Grübelnd starrte Norbert vor sich hin, als plötzlich laute Musik hinter ihm erklang.
„Verdammt, ich lieb dich! Ich lieb dich nicht!“
Norbert ging langsam weiter, denn er wagte es nicht, sich umzudrehen. Nichts wäre schlimmer, als fremde Leute in ihrem Wagen anzustarren.
„Verdammt, ich brauch dich! Ich brauch dich nicht!“
Obwohl Norbert seinen Blick starr geradeaus gerichtet hielt, erkannte er aus den Augenwinkeln heraus einen dunkelblauen Ford, wie sie ihn fuhren – aber auch hunderttausend andere Menschen.
„Verdammt, ich will dich nicht verlieren!“
Die Musik verklang. Der Ford hatte ihn überholt, rollte noch ein paar Meter und blieb dann mitten auf der Straße stehen. Es war ihr Kennzeichen, und freudestrahlend lief Norbert auf den Wagen zu, doch als er die Fahrerseite erreichte, stockte sein Schritt. Silkes Blick verhieß nichts Gutes. Mit einem kühlen Lächeln kurbelte sie das Fenster herunter.
„Zu dir wollte ich.“, sagte sie und reichte Norbert eine Visitenkarte. „Nur für den Fall, dass du noch Urlaub im Harz machen willst. Unser Zimmer ist frei, denn ich habe umdisponiert.“
Silke hob die Hand zum Gruß und entsetzt starrte Norbert dem davonfahrenden Ford nach. Verdammt! Jetzt hatte er eine spontane Frau.