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Die Fassade
Solch tiefgrüne Augen, geformt zu derartig affektiertem Blick, den sie dazu einsetzte, um ihn gänzlichst genau zu untersuchen, hatte er vorher noch nie auf sich spüren können. Generell hatte er noch nie einen Blick spüren können. Bis zu jenem Zeitpunkt, an welchem ihn erstmals das zweifelhafte Gefühl überkam, Röntgenstrahlen durchdrängen seinen Körper, seinen Kopf und besonders sein Herz und geben ihr Auskunft, gar eine exklusive Gewinn- und Verlustreichnung über sein bisheriges Leben. Nur gab es leider keine Gewinne, was wohl auch der wahre Grund für sein Ungehagen gewesen sein muss. Die beiden waren alleine in ihrem gemeinsamen Haus, das sie sich vor Jahren einst zusammen gekauft hatten und seitdem, Freunde und Bekannte verstandes es jedenfalls immer so, als Symbol für ihre Beziehung galt, ist die Fassade des Hauses doch eine der prächtigsten im ganzen Städtchen gewesen. Sie starrte ihn an. Noch immer von der ungewohnten Mächtigkeit ihrer Stimme überwältigt, nachdem ihm ihr plötzlicher Anfall, er solle das Haus sofort verlassen, sie wolle ihn niemals wieder sehen, einen wahrhaftigen Schock versetzte, stand er beinahe eine halbe Stunde vor ihr. Seine Knie zitterten, seine Lunge rang um Atem. Er sagte keinen Ton. Länger konnte sie diesen Anblick nicht ertragen, abermals jagte sie ihn aus dem Haus, als handele es sich um einen Hund, an Stelle eines Menschen. Auf allen Vieren kroch er zur Haustüre, in der sie stand, erzürnt und streng mit dem Zeigefinger auf die Straße weisend.
Obwohl er wusste, dass sie ihn niemals wieder bei sich aufnehmen würde – ihre Entscheidungen waren stets ohne Zweifel und vollkommen unwiderruflich -, lief er nicht einfach davon. Über ihren letzten gemeinsamen Augenblick, die gesamte Beziehung und sein eigenes Leben philosophierend lief er stattdessen um das gemeinsame Haus. Runde für Runde, immer im Kreis. Er wollte wenigstens in ihrer Nähe sein, konnte er schon nicht bei ihr im Haus sein, drinnen im Wohnzimmer am Kamin auf dem Sofa liegen, die Arme umeinander geschlungen und ihre geschmeidige und blasse Haut ebenso spürend, wie ihre rosafarbenenen Lippen auf den seinen.
Plötzlich wurde er in seinem Gedankengang unterbrochen. Dem Fahrer war was unmöglich gewesen, rechtzeitig zu bremsen, er war sofort tot. Seine Füße hatte er nur einen kurzen Moment auf die Straße vor dem Haus gesetzt. Ein kurzer Moment, der ihm das Leben kostete.
Dass sie sich mit ihm verstritten hatte, erzählte sie niemandem auf der Beerdigung , nicht einmal ihrer besten Freundin. Die Beileidswünsche nahm sie alle dankend entgegen. Das schwarze Trauerkleid, ihre Tränen – Alles wirkte so echt, keiner hätte je den geringsten Zweifel gehegt, war die Fassade doch eine der prächtigsten im ganzen Städtchen gewesen.