Die Flucht
Garett rannte. So schnell wie ihn seine Füße trugen, rannte er durch die wolkenverhangende, kalte Nacht. Gestrüpp und Äste schlugen ihm ins Gesicht, zerkratzten seine Arme, sein Gesicht, seinen ganzen Körper, bei dem Versuch, sich durch den Wald zu schlagen. Doch all das war ihm egal. Er hatte schon vor langer Zeit die Orientierung verloren. Die Straße schien meilenweit entfernt. Garett beschleunigte sein Tempo. Er darf nicht aufhören zu rennen. Nein. Sie würden ihn kriegen. Was würde passieren, wenn sie ihn kriegen würden? Die Panik in seinen Augen flammte erneut auf. Sie würden ihn töten, in Stücke reißen, so wie sie es mit den anderen getan hatten. Garett blieb ruckartig stehen und griff nach einem Ast, um einen besseren Halt zu bekommen. Er schüttelte den Kopf, um die bösartigen Gedanken aus seinem Kopf zu vertreiben. Er würde überleben! Und dafür würde er kämpfen, egal wie viele er mit sich nehmen würde. Sein Gesichtsausdruck blieb weiterhin gespannt. Er hob seinen Kopf, horchte. Stille. Die Ruhe vor dem Sturm. Anscheinend hatte er seinen Vorsprung ausgebaut. Gut so. Er war schneller und cleverer gewesen, als die anderen. Ein leichtes Grinsen huschte über sein Gesicht.
Dann plötzlich ohrenbetäubender Lärm. Knickende Äste, wildes Gerufe. Garett zuckte zusammen. Sein Grinsen erstarb. Ungläubig schüttelte er den Kopf und ein panischer Ausdruck trat in seine Augen. So darf es nicht enden. Nein.
Erneut beschleunigte er seine Schritte. Er konnte sich an so wenig erinnern. Zuerst war da Dunkelheit, dann grelles Licht, Feuer, Schreie…Sie hatten seine Schwester geholt. Er hätte kämpfen können. Schließlich war er noch jung. Doch waren es einfach zu viele. Hätte er einen niedergeschlagen, wären an dessen Stelle zwei Neue gekommen. So blieb ihm nichts anderes übrig, als zu fliehen. Vertrieben von seinem eigenen Grund und Boden. Plötzlich spürte er heiße Wut in sich aufsteigen. Er war hilflos. Das machte die Flucht nur noch unerträglicher. Er hatte nicht mal Zeit gehabt, sich vernünftig anzukleiden. Sein nackter Körper wurde nur von einem Fetzen Stoff bedeckt, das den Namen „Bekleidung“ nicht verdiente.
Die Stimmen hinter Garett wurden lauter und bedrohlicher. Garett wusste, das er nicht mehr viel Zeit hatte. Diese Flucht war von Anfang an zum Scheitern verteilt gewesen.
Ein Schuss fiel durch die Nacht. Garett stürzte. Irgendetwas Schwarzes, Unförmiges blockierte seinen Weg. War es ein Ast oder doch ein Tier? Garett wusste es nicht. Als er auf dem Boden aufprallte, tanzten bunte Sterne vor seinen Augen. Erneut Schreie und Gebell. Sie hatten also auch Hunde bei sich.
Doch erregte etwas anderes seine Aufmerksamkeit; Das schwarze Etwas, über das er so schmerzhaft gefallen war. Ungläubig betrachtete er es. Für einen Moment schienen seine Gedanken klar. Unendlich langsam berührte er den kleinen, kalten Körper. Das Mädchen war vor langer Zeit seine Nachbarin gewesen. Er erinnerte sich an ihr kleines, süßes Lächeln und die strahlend blauen Augen. Sie war so ein lebensfrohes Mädchen gewesen, hatte immer davon geredet, ihn, Garett, eines Tages zu heiraten. Jetzt lag sie hier, mit toten Augen die in die Unendlichkeit starrten, im Dreck. „Scheiße.“
Doch Garett konnte kein weiteres Mitgefühl empfinden. Nicht in diesem Moment, nicht zu dieser Zeit.
Zeit war das richtige Stichwort. Sie rann ihm durch die Finger, schließlich hatte er mindestens ein halbes Dorf in seinem Nacken sitzen, dass seinen Tod wollte. So weit durfte er es nicht kommen lassen. Garett warf ein letzten Blick auf den halb verwesten Leichnam, schüttelte den Kopf, versuchte den Anblick abzuschütteln.
„Da ist er! Schnappt ihn euch!“
Die Worte ließen Garett zusammenzucken. Er hatte zu lange gewartet. So schnell er konnte, setzte er sich in Bewegung. Erneut zerkratzten ihm Gestrüpp und Äste seinen Körper. Wenn er das hier geschafft hätte, würde er ausgiebig baden und gut essen. Vielleicht würde er sich auch eines dieser leichten Mädchen bestellen. Doch darüber konnte er nachdenken, wenn er das hier überstanden hatte.
Plötzlich tauchte eine schwarze Gestalt neben ihm auf.
Garett stockte der Atem. Einer seiner Verfolger.
Sekundenlang geschah einfach nichts, dazu waren beide Männer zu sehr voneinander überrascht.
Garett blinzelte. Er schaffte es als erstes, seine Fassung wiederzugewinnen. Mit einem Aufschrei schmetterte er seinem Widersacher die Faust ins Gesicht. Dieser ging mit einem überraschenden Stöhnen zu Boden. Schon war Garett über ihm, verpasste ihm noch einige Tritte.
„Scheißkerle. Ihr werdet mich nie kriegen!“
Ohne einen weiteren Moment zu zögern drehte sich Garett um die eigene Achse und verschwand in den Tiefen des Waldes, die restlichen Verfolger gefährlich nah hinter ihm.
Der Regen war schlimmer geworden. Es goss wie aus Eimern und der Wind zerrte an dem improvisierten Zelt, als wolle er es auseinander reißen. Eine einzelne Lampe, warf kaltes Licht an die Wände. Die Schatten wirkten wie riesige Monster, bereit alles und jeden zu verschlingen, der ihnen im Weg stand. Mr. Jones hatte eine riesige Landkarte vor sich ausgebreitet. Eine Stelle der Karte war rot markiert, dass Gebiet, in dem sich der Gejagte befand. Müde kratzte sich Jones am Kopf. Diese Jagd dauerte ihm entschieden zu lange. Garett war ein intelligenter, junger Mann. Es würde nicht einfach sein, ihn seiner gerechten Strafe zu überbringen. Dennoch würde er nicht aufgeben. Dazu stand zu viel auf dem Spiel. Nein, ausgeschlossen. Er würde Garett finden. Ein kurzes Lächeln zuckte über sein vernarbtes, runzeliges Gesicht. Jones war mittlerweile fast sechzig Jahre alt. Er trug das Haar sehr kurz, ein Millimeterschnitt, der keine weitere Pflege benötigte. Genau das richtige für den praktisch denkenden Jones.
Er wurde jäh aus den Gedanken gerissen, als ein junger Mann das betrat. Der Mann war vom Regen komplett durchnässt, dennoch strahlten seine grünen Augen eine Intensität aus, die Jones an makellose Smaragde erinnerte.
Jones nickte dem Mann kurz zu. Anscheinend konnte er es kaum erwarten, die Neuigkeiten mit Jones zu teilen.
„Wir sind ganz nah dran, Mr. Jones. Der Gesuchte läuft in die falsche Richtung, in eine Sackkasse, es gibt kein Entkommen für ihn. Die Jagd wird sich bald dem Ende zuneigen.“
„Schön, schön. Aber das ist doch nicht alles Jeremiah, oder?“
Jones musterte Jeremiah mit einem kühlen Blick. Jeder hier wusste, dass Jones es hasste, sich durch Nebensächlichkeiten und unwichtige Dinge ablenken zu lassen. Doch der junge Mann schien überzeugt von der Wichtigkeit seiner Neuheiten.
„Nein, Sir. Garett hat einen von uns erwischt. Anscheinend hat sich Dave zu weit nach vorne gewagt. Und das allein. Er wird überleben, ist aber übel zugerichtet.“
Jones schüttelte den Kopf und stieß hörbar die Luft aus.
„Unverantwortlich. Es ist immer dasselbe.“
„Seht zu das er in ein Krankenhaus kommt und vernünftig behandelt wird. Wir ziehen die Schlinge jetzt zu und schnappen ihn uns. Es wird Zeit dieses Katz- und Mausspiel zu beenden.“
Ein Blitz krachte vom Himmel und erhellte das Zelt unwillkürlich. Jones widmete seine volle Aufmerksamkeit wieder auf seine Landkarten. Jeremiah entfernte sich lautlos. Er wusste, was zu tun war. Die Schlinge würde enger gezogen werden. Der Gesuchte hatte keine Chance mehr.
Mittlerweile war Garett bis auf die Knochen durchnässt. Er zitterte am ganzen Körper. Oh wie er Regen und Kälte hasste. In seiner Fantasie lag er längst an einem Sandstrand, bei 30° Celsius mit einem Cocktail in der Hand…
Doch durfte er sich solchen Illusionen jetzt nicht hingeben. Hier ging es ums Überleben. Um sein Überleben um genau zu sein.
Viel wichtiger war die Frage; Könnte er mit seinem Werk aufhören? Zunächst musste er entkommen.
Erneut Schreie.
Sie waren immer noch hinter ihm.
„Hartnäckiger Haufen.“
Garett hatte schon fast alles versucht, hatte jeden Trick angewandt, doch waren sie immer noch hinter ihm her. Dieses Mal schienen sie es ernst zu meinen. Wenn sie ihn kriegen würden…
Garett spann diesen Gedankenfaden nicht weiter. Es wird nur diese eine Möglichkeit geben.
Obwohl es schier unmöglich war, wurde der Regen noch heftiger. Garett fluchte.
Der Regen hatte den Waldboden in eine gefährliche Flut aus Schlamm, Steinen und Gestrüpp verwandelt. An eine schnelle Flucht war jetzt nicht mehr zu denken. Doch konnte er auch etwas Positives aus der Situation ziehen: Seine Verfolger würden ebenfalls Schwierigkeiten bekommen. Langsam arbeitete er sich vor, immer bedacht darauf, seinen Fuß auf einen festen Untergrund zu setzen. Hinter ihm drangen immer noch die Stimmen seiner Verfolger an sein Ohr. Doch schien das Geschrei schon viel weiter entfernt als beim letzten Mal. Ein leichtes Grinsen huschte über Garetts Lippen.
Er hatte es geschafft.
So wie er es sich selber immer gesagt hatte. Die anderen waren alle Monster. Er war der Normale.
Genau aus diesem Grund würden sie ihn niemals kriegen. Auch wenn sie heute beinahe das Unmögliche möglich gemacht hätten.
Doch plötzlich blieb Garett wie vom Donner gerührt, stehen. Vor ihm ragte eine massive Felswand in den gähnenden Nachthimmel hervor. Riesig, bösartig, unüberwindbar.
Diese drei Eigenschaften drangen langsam, so unendlich langsam in sein Gehirn vor, dass Garett minutenlang mit offenem Mund da stand. Dann begann es in seinem Kopf zu arbeiten.
Gehetzt drehte er sich nach rechts, nach links, schaute sogar nach unten.
Dennoch vergeblich. Diese Felswand war seine persönliche Nemesis. Er war gefangen. Endgültig.
Jones stieß einen Triumphschrei aus, als er die Neuigkeiten überbracht bekam. Endlich würde all das ein Ende nehmen. In einer einzig fließenden Bewegung griff Jones nach seiner Jacke, steckte seine Zigaretten ein, lud seine Waffe durch und eilte in die kalte, regnerische Nacht.
Die Jäger hatten Garett umzingelt. Einige zielten mit Gewehren und anderen Handfeuerwaffen auf ihn, andere hielten Knüppel und Mistgabeln in den Händen. Es gab kein Entkommen. Mit jedem Schritt, den die Männer näher kamen, wurde Garett noch nervöser und hysterischer. In seiner Verzweifelung versuchte er die Felswand zu erklimmen, doch schlug er sich an dem rauen Fels nur die Hände blutig, was ihn noch mehr in Rage versetzte.
„Kommt mir nicht zu nahe! Ihr werdet mich niemals kriegen, hört ihr?! NIE!“
Ein erstes Anzeichen von Wahnsinn flackerte in Garetts blauen Augen auf.
Die Männer kümmerten sich nicht um Garetts Geschrei.
Der Gewehrkolben traf Garett genau zwischen die Rippen. Mit einem dumpfen Seufzer ging er zu Boden, das Gesicht im Dreck. Die anderen Männer richteten ihre Waffen auf Garett.
Die Jagd war beendet.
Erneut durchzuckte ein Blitz den Himmel und erhellte die Konturen der Männer auf eine unheimliche Art und Weise.
Es schüttete immer noch wie aus Eimern. Jones hatte seine Jacke tief ins Gesicht gezogen, doch auch so bot sie ihm kein Schutz vor den gewaltigen Wassermassen. Der Regen war ihm jedoch egal. Er war innerlich so angespannt, sodass es schon beinahe körperlich wehtat. Rasch kämpfte er sich durch das Gestrüpp, bis er die Lichtung mit der Felswand erreichte. Ein zufriedenes Grunzen drang aus seiner Kehle, als er seine Männer entdeckte. Sie hatten Garett geschnappt. Jetzt würde dieser für all seine Taten büßen müssen.
Während Jones auf den Kreis zuschritt, fragte er sich, wieso es überhaupt so weit kommen konnte.
Er hatte auf diese Frage keine Antwort parat.
Jones war sich nur einer Sache bewusst; Die Polizei würde von all dem nichts mitbekommen. Das hier war ihr Land. Dementsprechend regelte man die Dinge. Ohne Das Gesetz, auf die eigene Weise.
Schließlich erreichte Jones den Kreis. Die Männer machten ihm respektvoll Platz.
Und dann stand Jones vor Garett, der immer noch im Dreck lag. Jones nickte zwei seiner Männer zu. Sie hoben Garett aus dem Dreck.
Die Blicke der beiden trafen sich.
Jones musterte die hagere Gestalt.
„Garett Siethiex. Es ist über zehn Jahre her und jeden verdammten Tag konnte ich an nichts anderes denken, als genau diesen Moment, wo wir Angesicht zu Angesicht gegenüber stehen. Ich weiß noch was die Zeitungen damals berichteten. Sie sprachen von den ‚schlimmsten Morden in der Region’ und dem ‚Kinderfresser’. Jeder einzelne Artikel ist von mir aufbewahrt worden. Ich wusste ganz genau, dass irgendwann dieser Tag kommen würde.“
Ein lautes Donnergrollen ließ die Männer zusammenzucken.
„Jetzt wirst du für das, was du unseren Familien angetan hast, büßen.“
Jones Augen glühten vor Zorn, als er den letzten Satz aussprach.
Doch Garett hielt seinem Blick stand.
Er wusste, dass nun alles egal war. Er würde sein Ziel nie vollenden können.
Die Worte Jones’ drangen nur noch merkwürdig verschwommen und hohl an seine Ohren.
Garett befand sich in der Vergangenheit, erinnerte sich an den Tag vor zehn Jahren. Jedes kleinste Detail war ihm immer noch bewusst. Er hatte damals in einer Zeitung inseriert.
„ Mein Name ist Garett und ich habe Kinder zum Fressen gern! Melden sie sich unter der Nummer und ich passe auch auf ihre Kinder auf, für wenig Geld! “
Es meldeten sich zahlreiche Paare bei Garett. Eines Tages war ein Mr. Jones in der Leitung.
Garett nahm den Job gern an, lag das Anwesen der Jones doch abgelegen, in der Nähe eines Waldes. Die Jones hatten zwei wunderbare Kinder. Ein Mädchen und einen Jungen.
Garett wünschte dem Ehepaar noch einen angenehmen Aufenthalt im Theater.
Dann kümmerte er sich um die Kinder. Es ging schnell, methodisch und blutig von statten. Es war schließlich nicht das erste Mal, das Garett mit dieser Masche durchkam. Dennoch konnte ihm niemand etwas nachweisen. Die Polizei tappte im Dunkeln. Die Zeitungen versuchten sich gegenseitig mit abartigen Schlagzeilen zu überbieten.
„Der Kinderfresser hat erneut zugeschlagen! Die Polizei ist ahnungslos und tappt im Dunkeln! Wer passt auf unsere Kinder auf? “
oder
„Perverser frisst Kinder von Familien! Polizei ist mit diesem Thema komplett überfordert!“
Irgendwann ebbten die Schlagzeilen ab, wie nach einem großen Sturm, der tagelang das Meer peitschte.
Nur Jones ließ nicht locker. Zehn Jahre lang.
Ein Schlag beförderte Garett wieder in die Gegenwart.
„…wirst du büßen!“
Garett schüttelte den Kopf um den Nebel, der sich um seine Augen gelegt hatte, wieder zu verscheuchen.
Er ließ den Kopf hängen, schließlich hatte er versagt. Es war ihm egal, was diese Menschen mit ihm anstellen würden. Er schloss seine Augen. Dunkelheit.
Jones hatte sich alles von der Seele geredet. Nun würde er das beenden, was er vor zehn Jahren begann. Mit einem geschickten Griff zog er die Glock 26 Kaliber 9x19mm aus dem Gürtelholster und richtete sie auf Garett.
Ein Schatten huschte über sein Gesicht, der Glanz in seinen Augen verblasste.
Erneut zuckte ein Blitz vom Himmel, gefolgt von einem ohrenbetäubenden Donner.
Dann fiel ein Schuss.